Steiner

Propagierte Bildungsabbau als Chance: Die Zürcher Bildungsdirektorin Silvia Steiner © SRF Rundschau

Wie Zürich den Lehrkräftemangel verschärfte

Pascal Sigg /  Der Kanton Zürich verschleppte das Problem bis zur Krise. So wird der Personalmangel vor den Regierungswahlen zum Wahlkampfthema.

Der Lehrpersonenmangel im Kanton Zürich wird vor den Regierungsratswahlen im Februar zum zentralen Wahlkampfthema. Die KandidatInnen von GLP und SP kritisieren die amtierende Bildungsdirektorin Silvia Steiner scharf (Tages-Anzeiger/Paywall) – sie habe «nicht rechtzeitig reagiert» oder das Problem «verschlafen».

Mitte-Politikerin Steiner ist zwar nicht alleine schuld daran. Aber klar ist: Der Regierungs- wie auch der Kantonsrat nahmen eine Verschärfung des Personalmangels – und damit eine Schwächung der Volksschule – bewusst in Kauf.

Die Gefahr war schon lange bekannt

Bereits 2008 schrieb die Kantonsverwaltung 9000 ehemalige Lehrpersonen an, um sie für einen Wiedereinstieg zu motivieren. Und der Dachverband der Lehrpersonen warnte bereits 2009 öffentlich vor «akutem Lehrermangel» in der ganzen Deutschschweiz. Als Massnahmen führte der Kanton Zürich unter anderem die Quereinsteigerausbildung an der Pädagogischen Hochschule ein. Doch die tieferen Einstiegshürden alleine reichten nirgendwohin.

Noch im März 2016 – und damit bereits mit Silvia Steiner als Bildungsdirektorin – antwortete der Zürcher Regierungsrat auf eine parlamentarische Anfrage nämlich, er rechne bei den Schülerzahlen bis 2020 mit einer Zunahme von rund 12%. Und von 2020 bis 2025 prognostizierte er eine weitere Zunahme von 6%. Dies habe zur Folge, dass zusätzliche Lehrpersonen eingestellt werden müssten.

Bildungsabbau als Lösung gegen den Personalmangel

Dazu führte der Regierungsrat aus: «Sofern für die Mehraufwendungen aufgrund der steigenden Schülerzahl mittelfristig nicht zusätzliche Mittel zur Verfügung stehen, müssen Massnahmen im Lohnbereich ergriffen, die durchschnittliche Klassengrösse erhöht oder die Anzahl Lektionen für die Schülerinnen und Schüler verringert werden.» Die schülerzahlenbedingt höheren Bildungskosten sollten also durch einen Bildungsabbau kompensiert werden.

Trotzdem fand die drohende Personalkrise keine Erwähnung in den Legislaturzielen der Kantonalzürcher Regierung 2015 bis 2019. Und auch der Bericht über die Legislatur 2015 bis 2019 erwähnte das Problem nirgends. Stattdessen stand da: «Die langfristigen Ziele im Politikbereich Bildung sind in der Legislaturperiode überwiegend erreicht worden.»

Tiefsteuerpolitik statt Problemlösung

Dass dies mit Abbaumassnahmen geschah, sagte die Regierung nicht. Im bürgerlich dominierten Regierungsrat waren Steuererhöhungen nämlich tabu. Bereits unter der Finanzdirektorin Ursula Gut (FDP) kam nicht infrage, das Budget über Mehreinnahmen auszugleichen. Auch wenn die Ausgaben mit Investitionsvorhaben, innerkantonalem Finanzausgleich, Spitalfinanzierung und BVK-Sanierung zu dieser Zeit besonders hoch waren. Also setzte die Regierung auf Abbaumassnahmen. Im März 2013, bei der Präsentation eines ausgeglichenen Budgetentwurfs, drohte Gut bereits einen Abbau bei Bildung und Gesundheit an. Und verkaufte dies als alternativlos: «Man kann den Pelz nicht waschen, ohne dass er nass wird.»

Die Stimmberechtigten im Kanton hatten nichts dagegen. Im April 2015 wählten sie fünf Bürgerliche in den Regierungsrat. Sie hatten alle versprochen, die Steuern nicht zu erhöhen. Ende Juni 2015 sagte der neue Finanzdirektor Ernst Stocker (SVP) der NZZ: «Das Bevölkerungswachstum löst zusätzliche Kosten von rund vier Prozent aus, hauptsächlich in der Gesundheit, in der Bildung, im Sozialen und im öffentlichen Verkehr. Die geschätzten zusätzlichen Steuererträge nehmen aber nur um rund 1,3 Prozent zu.» Nun müsse der Staat noch effizienter werden. Und er fragte: «Geht das System unter, wenn wir einen Schüler mehr pro Klasse haben?»

Überlastete Lehrpersonen noch veräppelt

Im September 2015 ordnete er ein Kürzungsprogramm an, das er Leistungsüberprüfung nannte. Die Volksschule hatte jährlich 20 Millionen weniger zur Verfügung. Sie kam damit vergleichsweise glimpflich davon. Bloss: Für die Zürcher Lehrpersonen waren die klammen Finanzen schon zu diesem Zeitpunkt spürbar. Im Herbst 2015 klagten sie in einer Umfrage ihres Verbands bereits über die Sparmassnahmen in den Gemeinden. Die bereits zu hohe Belastung der Lehrpersonen steige weiter an. «Mit entsprechenden Konsequenzen für die Attraktivität des Berufs».

Ihre neue Bildungsdirektorin Silvia Steiner sagte SRF aber im Januar 2016: «Man muss die ganze Sparrunde auch mal als Chance verstehen.» Es zeigte sich aber: Der Spielraum für Einsparungen war klein. Tatsächlich versuchte Steiner Leistungen des Kantons auf die Gemeinden abzuwälzen. Zuerst wollte sie die Löhne der Schulleitungen auf die Gemeinden abschieben, was später am Widerstand der Gemeinden scheiterte. Dann passierte dasselbe mit Deutschkursen, die der Kanton nicht mehr übernahm – angeblich, weil das Bildungsdepartement keine Integrationsaufgaben übernehmen mochte. Im Januar 2017 sagte sie in einem Interview in der NZZ am Sonntag trotzdem, die Leseschwäche vieler Schüler sei auf ihren Migrationshintergrund zurückzuführen. Da gelte es grosse Anstrengungen zu unternehmen. «Da sind wir auch schon lange dran.» Insgesamt schien sie den Eindruck vermitteln zu wollen, Kürzungen in der Bildung seien ohne Qualitätsverlust zu haben.

Für viele Lehrpersonen war das jedoch schwierig zu verstehen. Sie waren zu diesem Zeitpunkt bereits überlastet und verärgert. Bei laufender Debatte über drohenden Lehrpersonenmangel hatten sich ihre Arbeitsbedingungen nämlich merklich verschlechtert. Von 2008 bis 2010 hatte der Zürcher Bildungsrat die Belastung von Lehrpersonen analysiert. Das Projektteam kam zum Schluss, dass insbesondere Klassenlehrpersonen spürbar entlastet werden müssten. Doch griffige Massnahmen fehlten, als das Projekt 2014 beendet wurde. Insbesondere die Sekundarschullehrpersonen waren «masslos enttäuscht». Ihr Fazit lautete: «Viel Aufwand, leere Versprechungen, keine Entlastung».

Verwaltungsreform als Lohnabbaumassnahme

Ähnlich tönte es auch vier Jahre später. 2017 erhielten die Zürcher Lehrpersonen einen neuen offiziellen Berufsauftrag (nBA). Das noch von SP-Bildungsdirektorin Regine Aeppli lancierte Projekt wurde jahrelang debattiert und auch als Entlastungsmassnahme verkauft. Doch die vor dem Hintergrund angespannter Kantonsfinanzen beschlossene «kostenneutrale» Verwaltungsreform erreichte das Gegenteil. Sie führte letztlich zu einer weiteren Bürokratisierung der Schule und zu Lohneinbussen und Überlastung der Lehrkräfte.

Und dies ausgerechnet bei weiter zunehmendem Lehrpersonenmangel. Der Präsident von SekZH sagte dem Tages-Anzeiger 2018, als bereits über 10 Prozent der Lehrpersonen auf seiner Stufe nicht voll qualifiziert waren: «Das Unterrichten auf diese Art zu messen, nimmt den Lehrpersonen jede Individualität. Der Berufsauftrag bringt mehr Unruhe als Entlastung.» Ein Lehrer antwortete im Rahmen einer Umfrage, an welcher über 3500 Lehrpersonen teilnahmen: «Das ist ein grosser Betrug und eine reine Sparübung».

Ein vor Jahresfrist verfasster und erst im letzten März veröffentlichter Evaluationsbericht zum neuen Berufsauftrag bestätigte die Lehrpersonen. In ihrer deutlichen Reaktion schlugen die kantonalen Berufsverbände einmal mehr Alarm und stellten in ihrer Mitteilung eine deutliche Verbindung zur grassierenden Personalkrise her: «Hochgerechnet auf ein Jahr fallen im Durchschnitt bei jeder Lehrerin und jedem Lehrer rund acht Wochen unbezahlte Überzeit an (rund 340 Stunden Gratisarbeit bei einem 100-Prozent-Pensum). Als Reaktion reduzieren viele Lehrpersonen ihr Arbeitspensum. 2019 arbeiteten nur noch 20 Prozent der Lehrerinnen und Lehrer in einem Vollzeitpensum.» Christian Hugi, Präsident des ZLV Zürcher Lehrerinnen- und Lehrerverbands forderte: «Jetzt liegt es an der Politik, mit hoher Dringlichkeit diese zeitlichen Ressourcen zur Verfügung zu stellen.»

Gewerkschaft und Berufsverbände machen Druck…

Über diese belegte Kritik am Berufsauftrag werden nun auch konkrete Forderungen zur Verbesserungen der Arbeitsbedingungen laut. Dabei an vorderster Front: Die Lehrpersonen-Gewerkschaft VPOD. Sie zählt – gemäss eigenen Angaben mit seit Jahren steigender Tendenz – im Kanton Zürich über 2000 Mitglieder. Mit einer spezifischen Kampagne macht sie schon seit Inkrafttreten des neuen Berufsauftrags auf dessen Schwächen aufmerksam. Bereits 2018 reichte die Gewerkschaft zudem eine Petition mit über 6000 Unterschriften von Lehrpersonen aus der ganzen Schweiz ein, die forderten: Lasst uns wieder unterrichten!

In der aktuellen Ausgabe des Magazins «Bildungspolitik» fordert die Gewerkschaft nun konkrete Massnahmen. Die zentralen Forderungen lauten: Pauschalenerhöhung für Klassenlehrpersonen, Erhöhung des Lektionenfaktors (die pro Lektion im Stundenplan angerechnete Jahresarbeitszeit), Entlastung von administrativen Aufgaben und die Rückkehr der Altersentlastung. Diese Massnahmen sollen zwar demnächst im Zürcher Kantonsrat behandelt werden. Aber nicht alle Vorstösse haben gute Chancen, einige sind nur von einer Partei unterzeichnet. Zudem darf sich die Regierung bei Annahme zwei Jahre Zeit nehmen bis zur Umsetzung.

Auf Infosperber-Anfrage bezeichnet die Bildungsdirektion die Bewertung des neuen Berufsauftrages im Rahmen der Evaluation als «sehr uneinheitllich». Im ersten Halbjahr 2023 will sie Änderungsvorschläge in die Vernehmlassung geben. Danach würden aufgrund der Vernehmlassungsantworten die Anpassungen zu Handen des Kantonsrats erarbeitet. Bis sich möglicherweise etwas am Berufsauftrag ändert, wird es also dauern.

… Regierungsrat will Steuern weiter senken

Für die Berufsverbände dürfte das nicht reichen. Zum Schulanfang forderten sie weiterhin: «Massnahmen, um den Lehrerberuf wieder attraktiv zu machen.» Um die Personalkrise anzugehen, will die Linke im Kanton Zürich deshalb schnell mehr Geld. SP-Regierungsratskandidatin Priska Seiler Graf sagte der NZZ kürzlich, die Volksschule im Kanton Zürich brauche zwingend mehr Ressourcen.

Ob sie diese erhält ist allerdings höchst unsicher. Den Kantonsfinanzen geht es zwar gut. Doch statt Mehrausgaben für die Bildung stellte Finanzdirektor Stocker bisher weitere Steuersenkungen in Aussicht.

Und die Bildungsdirektorin sagte jüngst bezüglich Lehrpersonenmangel: «Wir werden wohl noch ein paar Jahre flexibel bleiben müssen.»


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Pascal Sigg

Pascal Sigg ist Redaktor beim Infosperber und freier Reporter.

2 Meinungen

  • am 19.11.2022 um 12:09 Uhr
    Permalink

    Dieser Beitrag scheint das sogenannte Problem Lehrkräftemangel differenziert und faktenbasiert korrekt zu analysieren. Er lässt aber ausser acht, dass es grundsätzlich am bestehenden System Schule liegen könnte, dass viele Beteiligte sich krass überlastet fühlen und aussteigen bzw. gar nicht einsteigen wollen. Einmal mehr wird auch hier die Frage nicht gestellt, ob Schule, so wie sie funktionieren soll, nicht gestört und krank machend angelegt ist?

  • am 20.11.2022 um 11:20 Uhr
    Permalink

    Sparen tönt besser als bilden. In der Bevölkerung. In der Mehrheit der Bevölkerung, die gefühlt den Gürtel enger schnallen muss. Deshalb spart die Regierung auch in der Schule. Vor allem bei den LehrerInnen. Die Regierung spart nicht bei den überflüssigen Schulleitungen. Die Regierung spart auch nicht bei den überflüssigen so genannten SchulentwicklerInnen, denn die kneten Sparübungen um zu «moderner» Schule, die daherkommt wie ein aufgeblasener Werbeblock zu Gunsten vor allem dieser Tages-Coachs und Retraite-LeiterInnen übers Wochenende und mit ganzheitlichem Lehren und Lernen nichts mehr zu tun hat, denn es wird neu bloss noch beobachtend begleitet. Und es gibt ein Monitoring, das kostet. Und das braucht Daten. Und Papier. Auch das kostet. Und klaut den LehrerInnen die Zeit zum Vorbereiten, zum Unterrichten. Macht nichts. Flexibilität bitte sehr, liebe Begleitende. Verschiebt euren Burn-Out auf später. Am besten auf nach der Pensionierung. Der Frühpensionierung.

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