Versteckter Lehrpersonenmangel: Es geht bereits «ums Überleben»
Keine Logopädie für Lernschwache und acht verschiedene Personen für eine einzige Schulklasse. Eine Infosperber-Recherche zeigt: Viele Schweizer Schulen befinden sich im laufenden Schuljahr im Dauernotfall. Dies führt bereits jetzt zu unhaltbaren Zuständen – und droht das Problem zu verschärfen. Denn solche Arbeitsbedingungen sind für viele Lehrpersonen auf Dauer inakzeptabel.
«Im Moment geht es wirklich ums Überleben», sagt Daniel Gebauer, Schulleiter im bernischen Lauperswil auf Infosperber-Anfrage. Alle Stellen für Klassenlehrpersonen an seiner Schule seien zwar besetzt. Er musste aber «zähneknirschend» auch Lehrpersonen ohne Diplom einstellen. Die Lektionen für Kinder mit Lernschwächen finden zwar statt, jedoch oftmals mit Lehrpersonen, die nicht über das entsprechende Diplom für Heilpädagogik verfügen. Mehr als die Hälfte des Logopädieunterrichts kann aber nicht stattfinden. Der Grund: Gebauer findet niemanden.
Verstecktes Problem – die Kosten tragen Lehrpersonen und Kinder
Wie in Lauperswil dürfte es aktuell an vielen Schweizer Schulen aussehen. Viele Schulen müssen bereits auf Lehrpersonen ohne Ausbildung zurückgreifen. Im Thurgau sind beispielsweise 68 Personen ohne Lehrdiplom angestellt. Die Zahlen der Basler Regierung zeigen: 426 Lehrpersonen unterrichten im aktuellen Schuljahr ohne formell anerkanntes Lehrdiplom, Tendenz leicht steigend. Doch Zahlen dazu lieferten im Rahmen einer SRF-Umfrage zuletzt nur zehn Kantone. Und auch diesen Zahlen allein ist nicht zu trauen.
Ein Beispiel: Der Kanton Graubünden gab SRF an, keine Lehrpersonen ohne Diplom zu angestellt zu haben. Doch die abtretende Präsidentin des Lehrpersonenverbands sagte kürzlich in einem Interview: «Lehrpersonen unterrichten auf einer anderen Stufe oder in einer anderen Funktion, als sie ausgebildet wurden. Es unterrichtet beispielsweise eine Primarlehrperson in der Oberstufe oder schulische Heilpädagogen, die keine Ausbildung dazu haben.»
Dagmar Rösler, Präsidentin des Dachverbands Lehrerinnen und Lehrer Schweiz bezeichnete dies Ende August in der Sendung «SRF eco talk» als «versteckten Lehrermangel». Wichtig daran ist vor allem: Wenn Personen ohne Ausbildung unterrichten, zeigt sich dies potenziell nicht nur bei der Unterrichtsqualität. So froh die Schulen gegenwärtig auch sind um sie: Ihre Betreuung kostet Geld und bedeutet tendenziell mehr Arbeit.
Sehenswert: Die Sendung «SRF eco talk» vom 29. August 2022.
Wenn es sich bei den Unausgebildeten um StudentInnen Pädagogischer Hochschulen (PH) handelt, wird die Betreuung zwar durch ein vom Kanton bezahltes Mentorat übernommen. Der Leiter des Thurgauer Volksschulamts sagte dazu kürzlich aber auch: «Die Begleitung und Betreuung der Lehrpersonen ohne Abschluss durch Mentoren bedeuten einen höheren Zeit- und Personalaufwand.» Dies bestätigt auch Daniel Gebauer von der Schule Lauperswil, der aktuell vier Personen ohne abgeschlossene Ausbildung angestellt hat.
Acht verschiedene Personen für eine einzige Klasse
Manche Schulen können den Unterricht ohnehin nur dank grossem zusätzlichem und unentgeltlichem Einsatz bereits angestellter Lehrpersonen gewährleisten. Ein besonders extremes Beispiel dafür ist die Schule Rüderswil im Emmental: Nachdem eine Klassenlehrperson sehr spät gekündigt hatte, konnte Schulleiterin Christina Berger die Stelle nicht mehr besetzen. Nun deckt eine Gruppe aus acht verschiedenen Personen die Lektionen ab – Deutsch unterrichten gar drei unterschiedliche Lehrkräfte. Und nicht alle von ihnen sind entsprechend ausgebildet.
Die Folge: Ein immenser Koordinations- und Kommunikationsaufwand. Die Eltern sollen laufend informiert sein, die unerfahrenen KollegInnen brauchen Unterstützung bei einfachen Planungsarbeiten. Und laufend braucht es Absprachen im Team über Vorfälle und die Führung der Klasse. So bestreitet das Klassenteam nun das ganze Schuljahr. In diesem Rahmen wird Schulleiterin Berger auch zur Ausbildnerin zum Nulltarif. «Kürzlich machte ich mit einer Kollegin ohne Ausbildung eineinhalb Stunden Unterrichtsplanung. Für diese Arbeit wird sonst eine Praxislehrperson von der PH bezahlt.»
Noch hätten alle Lehrpersonen Freude am Beruf. Die Schule ertrage aber keine längeren Ausfälle mehr. «Mir würde es Angst machen, wenn ich für längere Zeit eine Stellvertretung suchen müsste. Kurzfristig geht es immer, da kann jemand einspringen. Ab einem halben Jahr bin ich mir nicht sicher, ob ich das besetzen kann.» Hinzu kommt, dass die Klassen an ihrer Schule bereits gross sind: 25er-, 26er-Klassen. An der Oberstufe besteht eine Klasse aus 28 SchülerInnen. Das schränkt den Spielraum bei Personalengpässen auch ein.
Was aktuell auffällt: Jammern wollen die Lehrpersonen trotz teilweise unhaltbarer Zustände nicht. In einem Interview mit der NZZ, sagte der Präsident des Schulleiterverbandes kürzlich, an den Schulen sei es aktuell so ruhig, weil sie mit sich selbst beschäftigt seien.
Für Schulleiterin Berger, die notgedrungen auch ein paar Lektionen übernimmt, ist die Situation kein Weltuntergang. Aber eine grosse Herausforderung für alle Beteiligten. Berger ist zuversichtlich, dass sie fürs nächste Schuljahr ein neue Klassenlehrperson findet, weil sie die Stelle früher ausschreiben wird und sieht es sportlich: «Ich mag die Flinte nicht ins Korn werfen. Dafür sind mir die SchülerInnen und Lehrpersonen zu wichtig.» Zur eigenen Notlösung fürs laufende Schuljahr sagt sie aber auch klar: «Das kann man nicht jahrelang so machen, da blutet man alles aus.»
Aargau: Notmassnahmen und alarmierender Gesundheitszustand
Ähnliches ist mittlerweile aus dem Kanton Aargau bekannt. Gemäss einem aktuellen Artikel des Tages-Anzeigers (Paywall) führte der kantonale Verband der Lehrpersonen eine Umfrage an den über 400 Standorten der Volksschule durch und erhielt 300 Rückmeldungen. Sie bestätigen das Bild. Über ein Drittel der Schulen teilte mit, dass man nur durch Notmassnahmen durchs Schuljahr komme. Klassen und Fächer seien zusammengelegt worden. Der Geschäftsführer des Verbands, Daniel Hotz, sagte: «Notmassnahmen sind nie befriedigend, weil sie meistens auf dem Buckel des bestehenden Personals erfolgen.» So habe sich auch die gesundheitliche Situtation im kantonalen Lehrkörper verschärft. Und dies nachdem bereits eine letztjährige Umfrage zur Gesundheit der Aargauer Lehrpersonen «besorgniserregende» Rückmeldungen gebracht habe (im Infosperber schilderte kürzlich eine Aargauer Lehrerin, wie sie wegen Burnouts aussteigen musste).
Klassenlehrpersonen brauchen Entlastung
Wie die Schulen die Personalnot mit Quereinsteigenden und unausgebildeten Personen meistern zeigt: Es fehlen nicht zuerst engagierte Menschen, welche im Lehrberuf arbeiten wollen. Es fehlen zuerst ausgebildete Klassenlehrpersonen, welche bereit sind, die Hauptverantwortung für ganze Klassen zu übernehmen. LCH-Präsidentin Dagmar Rösler sagte im «eco talk» auch: «Diese Personen wollen nicht mehr Lohn, sondern Entlastung.» Dies deckt sich mit einem Bericht von 2016. Da heisst es: «Wer auf der Volksschulstufe eine Klassenlehrfunktion ausübt, hat gegenüber den KollegInnen ohne diese Funktion weniger Zeit für Erholung, kann den Berufsauftrag innerhalb des Arbeitspensums weniger gut nach den eigenen Ansprüchen ausüben und sieht sich stärker unter Druck und überlastet.»
Deshalb rücken nun wieder die Klassengrössen in den Fokus. Unbestritten ist, dass grosse Klassen Lehrpersonen besonders stark beanspruchen. Der LCH nannte die Klassengrössen bereits 2016 einen «bedeutenden Belastungsfaktor für Lehrpersonen» und forderte in einem Positionspapier, dass die durchschnittliche Klassengrösse für die Volksschulen 19 Schülerinnen und Schüler nicht übersteigen dürfe.
Für Franziska Schwab, Leiterin Pädagogik bei «Bildung Bern», vergrössern grosse Klassen die gegenwärtige Herausforderung zusätzlich. «Wir sind froh um die motivierten Leute ohne Ausbildung, wir sind auf sie angewiesen. Aber sie sollen sich nachqualifizieren können. Jemand, der gut ausgebildet ist, kann auch mal kurzfristig eine grosse Klasse managen.»
Lehrpersonen fordern nicht höhere Löhne – sondern kleinere Klassen
Wie das Beispiel Rüderswil zeigt, liegen einige Klassen bereits heute deutlich über dem geforderten Schnitt. Die gesetzlichen Vorgaben dazu variieren von Kanton zu Kanton. Die Konferenz der kantonalen ErziehungsdirektorInnen (EDK) macht jährlich Umfragen zur maximalen Klassengrösse. Auf der Primarstufe beispielsweise liegt die Obergrenze im Kanton Bern bei 27 SchülerInnen. Im Kanton Zürich gibt es erst ab 29 SchülerInnen zusätzliche Mittel für Halbklassen. Grössere Klassen kosten Kanton und Gemeinden weniger, wenn sich mit ihnen eine zusätzliche Klasse verhindern lässt. Dafür verursachen sie mehr Arbeit für die Klassenlehrpersonen.
Bezeichnend ist denn auch, dass die Berner Lehrpersonen in einer Mitgliederumfrage von «Bildung Bern» im März zu ihren bildungspolitischen Anliegen nicht zuerst höhere Löhne forderten. Sondern kleinere Klassen.
Im erwähnten Faktenblatt zu den Klassengrössen, das die wissenschaftliche Forschung zum Thema zusammenfasst, heisst es denn auch ausgerechnet: «Gesamtwirtschaftlich betrachtet haben kleine Klassen langfristig positive Auswirkungen durch höhere Abschlüsse der Schülerinnen und Schüler und nachfolgend höhere Einkommen im Berufsleben. Eine Zunahme an höheren Berufsabschlüssen trägt zur Reduktion des Fachkräftemangels bei.»
Welche Erfahrungen machen Sie mit der Schule?
Arbeiten Sie als Lehrperson oder in der Schulleitung und machen aktuell ähnliche Erfahrungen? Gibt es noch andere wichtige Faktoren, die nicht erwähnt sind? Oder könnten Sie von positiven Auswirkungen des Lehrpersonenmangels berichten?
Melden Sie sich via Email bei Pascal Sigg: pascal.sigg(at)infosperber.ch. Alle Zuschriften werden vertraulich behandelt.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
_____________________
Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
Dieser Text behandelt das Problem in einem engen Horizont. Ich glaube vor Kurzem hier von einer engagierten Lehrerin gelesen zu haben, welche nicht vom eigentlichen Schule-Geben überfordert wurde, sondern von den vielen Nebenaufgaben. Auch weiss ich dass viele LehrerInnen abgesprungen sind wegen unerträglicher Corona-Massnahmen. Und jetzt geht es munter wieder los mit diesem Massnahmen-Treiben.
Und ich bin erstaunt über diese enorme Ausbildungs- und Diplomgläubigkeit. Könnte man nicht drei Schritte zurück machen und etwas breiter darüber nachdenken?
Vielleicht könnte man auch die Schulleitungen abschaffen, dann könnten die Lehrpersonen wieder eigenständiger arbeiten und vor allem selber entscheiden?
Das brächte weniger Sitzungen und andere Leerläufe. Wär ev. einen Versuch wert….
Vielleicht wäre es eine Idee alle Reformen er letzten 40 Jahre Rückgängig zu machen und Eltern und Anwälte aus der Schule zu werfen
Vielleicht wollen die Leute auch nur nicht Klassenlehrperson werden. Lehrperson*innenmangel? Wie wäre es, zuerst einmal das Schulwesen mit gesundem Menschenverstand auszurüsten?
Die Politik hat versagt. In den Bildungseinrichtungen der Volksschule und auch sonst fast überall in letzter Zeit. Und die Lehrerinnen haben auch versagt. Sie sind politisch zu wenig am Drücker. Sie scheuen sich zu fordern, was der Schule gut täte. Lieber sagen sie, nun ja sie hätten viele Notlösungen, aber den Schülerinnen zu Liebe würden sie sich aufopfern. So bekommt ihr nichts von der Politik liebe Lehrerinnen. Im gleichen Fahrwasser segelt der LCH. Ein Verein zum Plaudern und ab und zu kommt ein Positionspapier von dort. Und was die Reformen betrifft, waren die Lehrer auch mehrheitlich stumm. Die paar Opponenten wurden von den Schulentwicklern eingeplant und elegant ignoriert (Jemand motzt immer.). Und ja, die Schulleitungen könnt ihr wieder abschaffen. Die stören mehr, als was sie nützen. Das gäbe auch ein paar Lehrerinnen mehr. Vor 30 Jahren ging ich auf die Strasse für mehr Lohn für Lehrer. Hat nichts genützt. Jetzt bräuchte ich mehr Rente. Wer kommt mit auf die Strasse?