UNESCO warnt vor übereifriger Digitalisierung der Schule
Die Bildungsausgaben pro Kopf in der Schweizer Volksschule sind in den letzten 20 Jahren deutlich gestiegen. Auch wenn es keine Zahlen dazu gibt: Ein grosser Kostenfaktor dürften Digitalisierungsprojekte darstellen. Digitale Anwendungen und Endgeräte wie Bildschirme, Tablets und Laptops erreichen immer mehr Schweizer Schulhäuser. Sie verlangen nach neuer Infrastruktur, zusätzlichem Personal und Weiterbildung.
Ein paar Beispiele: Die Stimmberechtigten des Kantons St. Gallen bewilligten 2019 75 Millionen Franken für eine IT-Offensive auf allen Bildungsstufen. Die Stadt Luzern rüstete letztes Jahr alle Sekundarschülerinnen und -schüler mit Laptops aus. Und in der ersten Klasse gab es für vier Kinder ein Tablet. In der Stadt Zürich erhalten alle Kinder ab der 5. Klasse ein Tablet. Der Kanton Basel-Stadt gab letztes Jahr 24 Millionen Franken für Tablets in der Primarschule aus.
Unklarer Nutzen der Millioneninvestitionen
Dabei ist häufig unklar, inwiefern sich diese Investitionen überhaupt lohnen – oder ob sie je nach Art der Einbindung in den Unterricht sogar schädlich sein könnten. Dies hat kürzlich auch zu Widerstand gegen die neue digitale Bildungsstrategie des Kantons Freiburg geführt. Dieser will Schulen und Kindergärten mit Tablets ausrüsten. Kostenpunkt: um die 75 Millionen Franken. In einer Petition bemängelte die Lehrpersonen-Gewerkschaft VPOD «pharaonische Ausgaben und das Fehlen eines relevanten pädagogischen Konzepts». Eltern finden auch: Die Kinder würden ohnehin schon genung Zeit vor Bildschirmen verbringen. Die zuständige Behörde entgegnete in einem Beitrag des SRF Regionaljournals Bern Freiburg Wallis: Die private Nutzung der Bildschirme sei problematisch – und nicht diejenige in der Schule. Über die neue Strategie soll Ende Jahr im Kantonsparlament entschieden werden.
Ähnlich das Fazit der NZZ (Paywall), als sie letztes Jahr die neue digitale Strategie für die Schulen des Kantons Zürich unter die Lupe nahm. Kosten: 30 Millionen Franken für neue Infrastruktur. Dominik Petko, Professor für Erziehungswissenschaft an der Universität Zürich, fand dazu: Wichtiger wären Entlastung und Weiterbildung der Lehrpersonen. «Vielen von ihnen fehlt gegenwärtig noch schlicht die Zeit, um ihren Unterricht digital umzukrempeln.»
Die Digitalisierung des Schweizer Bildungswesens wurde vor zwei Jahren von der Fachagentur Educa untersucht. Im Rahmen des Bildungsmonitorings liess das Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation (SBFI) und der Schweizerischen Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren (EDK) den umfassenden Bericht «Digitalisierung in der Bildung» erstellen.
Ambivalente Studienergebnisse und ein neuer digitaler Graben
Dieser Übersichtsbericht, der bestehende Studien analysiert, weist insbesondere auf Primarschulniveau auf Studienergebnisse hin, die ein ambivalentes Bild zeichnen. So besteht bisher zum Beispiel die Vermutung, dass die Nutzung digitaler Endgeräte in der Schule Lernfortschritte auch hemmen kann.
Im Bericht steht: «Auf Ebene der Gesamtschweiz erzielen Schülerinnen und Schüler, die digitale Endgeräte häufiger in der Schule nutzen im Durchschnitt deutlich schlechtere Leistungen als Lernende, die digitale Endgeräte nie oder nur unregelmässig in der Schule einsetzen. Dies gilt sowohl für Lesen und Rechtschreibung in der Unterrichtssprache als auch für das Lese- und Hörverstehen in der ersten Fremdsprache.»
Dies ist bloss Vermutung, so der Bericht weiter, da Hinweise bestünden, dass digitale Endgeräte grundsätzlich eher von leistungsschwächeren, wenig motivierten Schülerinnen und Schülern genutzt würden. Gleichzeitig zeigten Schülerinnen und Schüler, welche digitale Geräte gelegentlich ausserhalb der Schule nutzten, bessere Testergebnisse, als jene, welche keine private Nutzung verzeichneten.
In einer Langzeituntersuchung mit über 800 Tessiner Schülerinnen und Schülern berichtete ein Forschungsteam der Uni Lugano von einem nachgelagerten digitalen Graben. Einfacherer Zugang zu drahtlosem Internet führte besonders bei Kindern aus Familien mit tieferem Einkommen zu intensiverer Internetnutzung für Spiele und Kommunikation und hatte einen negativen Einfluss auf die Schulleistungen.
Was der Bericht als sicher erachtet: Die verstärkte Nutzung digitaler Endgeräte verlangt nach mehr und besser ausgebildetem Personal. Es zeige sich deutlich, so heisst es im Bericht, «dass gerade in der Primarschule und der vorschulischen Betreuung Kinder in hohem Masse auf die Unterstützung und Begleitung durch die Lehrpersonen oder andere erwachsene Bezugspersonen angewiesen sind, um digitale Lernressourcen erfolgreich für den Aufbau eigener Kompetenzen nutzen zu können.»
UNESCO warnt vor Überanpassung und gesponserter Forschung
Kürzlich hob auch die UNESCO (die Sonderorganisation der Vereinten Nationen für Erziehung, Wissenschaft und Kultur) einen prominenten Mahnfinger. Im umfassenden Bericht über Bildung und Technologie forderte sie alle Länder zu eigenständigem Handeln auf. Insbesondere dürfe Technologie nie als Ersatz für Lehrpersonen gebraucht werden. Während der differenzierte Bericht Beispiele aus aller Welt nennt, die zeigen, dass bestimmte Nutzungen digitaler Geräte und Anwendungen unter Umständen das Lernen verbessern können, warnt er auch deutlich vor einer Überanpassung an die Technologien.
Gerade weil die Digitalisierung der Bildung derart komplex und ambivalent daherkommt, wäre eine solide wissenschaftliche Begleitung wichtig. Der UNESCO-Bericht bemängelt aber, dass die Entwickler den Entscheidungsträgern immer einen Schritt voraus sind und aussagekräftige, unparteiische Forschung daher rar sei.
Tablets verbesserten Lernprozesse kaum
Ein Beispiel: In der Schweiz wurde eine Studie über Tablet-Nutzung an Schulen von Samsung finanziert – der Firma, welche auch die Schulen mit Tablets ausgerüstet hatte. Die Studie machte viele kleine Fortschritte aus. Doch das Kerngeschäft beeinflussten die Tablets nicht nennenswert positiv. So beobachtete die Mehrzahl der Lehrpersonen keine Verbesserung der Lernprozesse bei den Schülerinnen und Schülern. Zudem sahen Lehrpersonen, welche die Tablets lange nutzten, diese mit der Zeit kritischer.
Aus öffentlicher Sicht – immerhin werden die Millionen für Tablets vielerorts mit Steuergeldern bezahlt – wären dies zwei wichtige Befunde. Doch die Studie folgerte, dies könnte an Rahmenbedingungen an der Schule oder dem «Medienklima» – also der vorhandenen Einstellung gegenüber neuen Medien an der entsprechenden Schule – liegen. Woher die Haltungen gegenüber den Tablets rührten, wurde jedoch nicht weiter untersucht.
Technologie immer nur als Mittel zum Zweck nutzen
So fragt der Unesco-Bericht zum Schluss auch: Stellen die Gesellschaften überhaupt die richtigen Fragen über die eigene Bildung, bevor sie sich an die Technologien wenden? Erkennen sie die Risiken, wenn sie die Vorteile suchen?
Unesco-Generalsekretärin Audrey Azoulay gibt im Vorwort zwei deutliche Empfehlungen ab. Erstens: Die Interessen der Schülerinnen und Schüler sollten immer Vorrang vor allen anderen – besonders kommerziellen – Interessen haben. Zweitens: Technologien sollten immer bloss ein Mittel zum Zweck darstellen. Niemals den Zweck selbst.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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