Schweden unterbricht «Experiment mit Kleinkindgehirnen»
Bildschirme in der Kita: Dies verlangte die schwedische Digitalisierungsstrategie von 2017 der damals sozialdemokratischen Regierung von Ministerpräsident Stefan Löfven. In der Förskola – der Vorschule, welche in Schweden für Einjährige bis zum Beginn des ersten Schuljahres mit etwa sechs Jahren angeboten wird – herrschte gar ein gewisser Nutzungszwang.
Damit war Schweden das einzige Land der Welt, welches Kinder derart früh Tablets vorsetzte. Eine Kolumnistin der Boulevardzeitung Expressen nannte die digitale Bildungsstrategie vor einem Jahr deshalb ein «Experiment mit den Gehirnen von Kleinkindern».
Im letzten Winter erregte der Fall der Orionskola in Visby auf der Insel Gotland Aufsehen. Die Waldorf-Schule liess die Schülerinnen und Schüler bis und mit 3. Klasse (also bis etwa 9-jährig) ohne Tablets arbeiten. Dies, obschon der Lehrplan eigentlich verlangte, dass Kinder bereits ab der ersten Klasse mit digitalen Geräten arbeiten. Die Schule stützte sich auf die Wissenschaft. Diese habe unter anderem gezeigt habe, dass die Handschrift das Erinnerungsvermögen stärke.
«Wir glauben, dass es wichtiger ist, dass die Kinder in jungen Jahren die Handschrift erlernen. Das Digitale kann später kommen», sagte Kalle Edéus, Rektor der Schule dem privaten TV-Kanal TV 4.
Und der Zeitung Dagens Nyheter sagte er: «Wir sind nicht technologiefeindlich. Aber die Erfahrung dessen, was in einem bestimmten Moment passiert, kann wichtiger sein. Ansonsten gehen wir das Risiko ein, dass wir mit der Anwendung digitaler Werkzeuge mehr verlieren als wir gewinnen.»
Seine Haltung trug ihm einen Rüffel der Schulaufsicht ein. Die Schule musste ihren Lehrplan anpassen. Sie weigert sich aber weiterhin, die Kinder früher mit Tablets arbeiten zu lassen.
Nach dem Regierungswechsel nahm die neue Schulministerin Lotta Edholm (Die Liberalen) im letzten November den Entwurf des neuen Digitalisierungsplans für die schwedische Vorschule und Schule der nationalen Schulverwaltung Skolverket entgegen. Der Ministerin fehlten allerdings die wissenschaftlichen Grundlagen. Diese holte sie darauf bei NeurologInnen und KinderärztInnen ein. Und als sie diese erhalten hatte, sei ihr klar gewesen, dass das Konzept überarbeitet werden müsse.
Die Rückmeldungen der WissenschaftlerInnen waren deutlich: Kleinen Kindern sollten gar keine Bildschirme vorgesetzt werden. Und in der Schule sei physisches Spiel dem digitalen Spiel vorzuziehen. Kinder würden so das soziale Zusammenspiel eher lernen. Zudem würde das Sprachvermögen gestärkt und Kindern lernten besser, sich in andere hineinzuversetzen.
Eine Gruppe NeurologInnen kritisierte, dass im Rahmen der Digitalisierungsstrategie wissenschaftliche Forschung ignoriert worden sei, die zeige, dass digitale Werkzeuge den kindlichen Erwerb wichtiger Kompetenzen schwächen könne. «Die schwedische Schule hat schon genug Probleme. Wenn man mit der Digitalisierung noch eine weitere Schwächung riskiert, kann das ernsthafte Konsequenzen haben», sagte Torkel Klingberg, Hirnforscher am Karolinska Institutet.
Schulministerin Lotta Edholm sagte, sie nähme die Kritik ernst. Der Unterricht an schwedischen Schulen soll auf Wissenschaft und erprobter Erfahrung aufbauen.
Auch die norwegische Regierung hat eine Expertengruppe damit beauftragt, zu untersuchen, wie Kinder digitale Geräte nutzen und welche Auswirkungen dies auf ihren Schlaf, ihre Psyche und Lernvermögen haben kann. Die ExpertInnen sollen entsprechende Massnahmen zur Nutzung digitaler Werkzeuge wie Tablets in Spielgruppen, Kindergärten und Schulen vorschlagen.
Keine Bildschirme für Kinder unter drei Jahren
Gemäss KinderärztInnen und MedienpsychologInnen sollten Kinder bis 3 Jahren gar keinen Kontakt mit Bildschirmen haben. Der Grund: Für die Hirnentwicklung braucht das Kind physischen Kontakt durch Ertasten und Ergreifen.
Danach bis zum Schulalter: Maximal 30 Minuten pro Tag. Und nur zusammen mit Erwachsenen.
Weitere Empfehlungen für Eltern und Fachpersonen bietet die Broschüre «Medienkompetenz – Tipps zum sicheren Umgang mit digitalen Medien» des Instituts für Angewandte Psychologie der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW).
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Der Autor ist Vater zweier Kinder im Vorschulalter.
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
Der Titel hatte mich an etwas anderes denken lassen: schlaues Clickbaiting. Naja. Auch in Ö gibt es die den Schulen vom Bildungsministerium oktroyierte «Digitaloffensive». Die besteht vor allem aus tausenden Tabletts mit Windows, Microsoft-Office und -Teams-Produkten. Wenn man Stromverbrauch, Recyclingbedarf und notwendige Peripherie bedenkt, kommt vor allem ein Haufen Ressourcen zusammen. Es freuen sich eben gewisse Hersteller. Für mich beginnt digitale Bildung nicht mit einem Browser und einem Tablett – die Bedienung ist consumeroptimiert und somit schnell verstanden – sondern (wie auch bei LEGO, Matador oder Fischer) mit lustvollem Experimentieren. Das kann recht simpel mit fertigen Baugruppen und später mit komplizieren Schaltungen passieren. Es muss mit dem Blick unter die Haube beginnen, mit einem Terminal und einem Prompt, damit zuerst die Grundlagen der ganzen Zauberei verstanden werden. Das kann auch spielerisch und kindgerecht passieren.
Muss man denn überhaupt Experimente mit Kindern machen?
Ein Staat der Experimente mit Kindern macht, ist ein Verbrecher-Staat.
@Michael Schlomm Experimente mit Kindern sollte man natürlich nicht machen.
Wichtig ist, dass Eltern erfahren (Pädagogen auch), was Kinder brauchen, vor allem in den ersten Lebensjahren: Das ist BEZIEHUNG. Beziehung ist neben der Muttermilch das wichtigste ‹Agenz›, damit das kleine Kind sich entwickeln kann. Aus der Bindungsforschung weiss man, wie wichtig eine ruhige, freundliche, nicht zu strenge, nicht verwöhnende Beziehung zum Heranwachsenden Kind ist. Der Bildschirm ist bei Kleinkind nicht hilfreich. Da hat die schwedische Bildungministerin gut entschieden und Pascal Sigg bin ich für seinen Bericht dankbar.