Lehrplan 21 in der Kritik
Es ist kein Wunder, dass man bei der Berichterstattung über die Bildung Noten verteilt. Die SonntagsZeitung gibt den Schulreformen der letzten Jahre eine blutte «2» und erhält postwendend eine Retourkutsche von «ganz oben». Eine Pressemitteilung der «Schweizerischen Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren» ist überschrieben mit: «Note 2 für die SonntagsZeitung». Die Art der Berichterstattung, schreibt das Generalsekretariat der Erziehungsdirektorenkonferenz (EDK) in einer eigens verfassten Pressemitteilung, sei ungenügend, da nur Kritiker zu Wort kämen. Die Qualität der Berichterstattung sei eine Irreführung der Leserinnen und Leser der Sonntagszeitung.
Sekundiert wird die Kritik von einer Stellungnahme der Deutschschweizer Erziehungsdirektorenkonferenz, die ihrerseits mit grobem Geschütz auffährt. Die D-EDK habe mit Befremden von der einseitigen und mit vielen falschen Darstellungen bestückten Berichterstattung Kenntnis genommen. Doch worum geht es in der geharnischen Kritik von der Spitze der Bildungsverantwortlichen? Warum muss die EDK an die Presse ungenügende Noten verteilen – als wenn mit Kanonen auf Spatzen geschossen würde?
Wirrwarr der Reformen und eine ungenügende Diskussion
Die EDK betont, dass die in der SonntagsZeitung geäusserte Kritik, wonach die Harmonisierung des Bildungswesens stagniere und der Wirrwarr in der obligatorischen Schule seit der Abstimmung über die Bildungsartikel noch grösser geworden sei, nicht zutreffe. Richtig ist dabei sicher, dass die Harmonisierung in einigen Bereichen der Schule Fortschritte gemacht hat. Aber wenn Chefredaktor Arthur Rutishauser in der SonntagsZeitung etwas süffisant schreibt, dass sich die Kantone mit viel Herzblut untereinander streiten, wer nun genau wann mit welcher Fremdsprache beginne, so trifft er ebenfalls ins Schwarze.
Die Deutschschweizer EDK findet sodann den Vorwurf unberechtigt, es habe keine öffentliche Debatte gegeben und der Lehrplan 21 werde eingeführt, ohne dass es eine demokratisch legitimierte Debatte gegeben habe. Nun hat es zum Lehrplan 21 zweifellos ein breites Vernehmlassungsverfahren gegeben; doch erst im Nachhinein.
Bei der Erarbeitung des Lehrplans bekam man den Eindruck, dass handverlesene Experten in geheimen Zirkeln am Lehrplan arbeiteten. Die Sitzungen fanden hinter verschlossenen Türen statt, und man legte viel Wert darauf, dass vor der öffentlichen Präsentation nichts vom neuen Lehrplan hinaussickern durfte. Mit anderen Worten: Anstatt zu Beginn eine breite öffentliche Debatte zu führen, fand diese erst statt, als die wichtigsten Eckpunkte des Lehrplans 21 feststanden. Und das war viel zu spät. Bei den Skeptikern führte dies zu Vermutungen, dass man sie auf diesem Weg geschickt abservieren wollte. Denn natürlich ist es schwieriger, einmal gefasste Entscheide umzustossen, als wenn man von Beginn an der Diskussion beteiligt ist.
Die Nerven der EDK liegen blank
Insgesamt ist die massive Art und Weise, wie die EDK gegen die SonntagsZeitung vorgeht, ungewöhnlich. Die Nerven müssen blank liegen, wenn man glaubt, sich auf diese Weise mit mehreren Presseerklärungen wehren zu müssen. Dahinter muss mehr liegen als der Ärger über die Berichterstattung einer Zeitung.
Fast panisch scheint man wahrzunehmen, dass das Unternehmen «Lehrplan 21» ernsthaft gefährdet ist – obwohl es sich so gut angelassen hatte. Zwar gab es von Anfang an Skeptiker aus konservativen Kreisen und aus der SVP. Doch man hoffte, dieser Kritik den Wind aus den Segeln nehmen zu können. Nun zeigt aber der Bericht der SonntagsZeitung, dass sich die Lage massiv verschärft hat. Es wird deutlich, dass der Gegenwind nun auch aus dem linken und dem liberalen Lager kommt und sich zum Sturm auswächst. Eine ganze Reihe von SP-Politikern, von linksliberalen Professoren und Lehrpersonen wenden sich mit einer eigenen Streitschrift («Einspruch») gegen den Lehrplan 21. Dazu gehören Persönlichkeiten wie der Zürcher Erziehungswissenschaftler Roland Reichenbach, der Bieler Lehrer und GLP-Politiker Alain Pichard oder die Basler Ständerätin Anita Fetz.
Da muss es den Bildungsbürokraten ungemütlich werden, wenn es nicht mehr gegen die Kritik von einer einzigen Seite geht. Allein gegen die konservative Seite könnte man sich womöglich behaupten. Doch der Lehrplan 21 wird kaum Überlebenschancen haben, wenn er im Zangenangriff von links und rechts unter Beschuss gerät.
Kopie von unausgegorenen Ideen der 70er Jahre
Nicht zuletzt werden aus dem Kreis der kritischen Erziehungswissenschaftler auch theoretische Argumente gegen den Kernbegriff der Kompetenzen vorgebracht, der mit dem Lehrplan 21 verbunden ist. Die dahinterliegende Idee ist eigentlich sinnvoll: Anstatt oberflächliches Wissen zu vermitteln, sollen Kompetenzen im Mittelpunkt der Schule stehen, welche das Handeln der Schülerinnen und Schüler prägen. Können statt Wissen ist hier die Devise.
Doch leider wird diese Idee vor allem technisch behandelt. Die SonntagsZeitung hat nachgezählt: der Lehrplan enthält 363 Kompetenzen und 2304 Kompetenzstufen. Da werden wohl alle Lehrerinnen und Lehrer überfordert sein.
In unguter Weise erinnert dies an die Diskussion um die «Lernziele» vor 50 Jahren. Auch damals wollte man die Lehrpläne verändern und sicherstellen, dass die dort formulierten Lernziele in der Schule auch Wirksamkeit entfalten. Das hiess damals allerdings «operationalisierte» Lernziele und nicht «Kompetenzen». Doch im Effekt ging es um Ähnliches. Und es zeigte sich schon damals, dass es für die Schulen kein gangbarer Weg ist, die Lehrerinnen und Lehrer über den Lehrplan mit Hunderten von Lernzielen zu gängeln. Die Übung wurde jedenfalls Knall auf Fall abgebrochen.
Umso unverständlicher ist es, dass in den letzten Jahren solche Ideen wieder neu aufgenommen wurden. Damit hat man sich selbst in die Bredouille gebracht, die nun dazu führt, dass die Kritik immer lauter wird und in mehreren Kantonen Volksabstimmungen stattfinden, welche die Harmonisierung des schweizerischen Schulwesens noch ganz ins Stocken geraten lassen könnten.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
keine
Die diktatorische Aufforderung des Präsidenten der EDK, diese 555 Seiten sofort und ohne wenn und aber umzusetzen, verrät viel über ihnselbst.
Die Lehrerschaft kann – wenn diese monströse Kopfgeburt von Sesselfurzern umgesetzt werden soll – zu Pedellen alter Schule umfunktioniert werden oder warum nicht gleich ganz abgeschafft werden.
Zum Glück reagierten endlich auch die linken Kritiker. Ich verzweifelte schon fast.
Die lange praktische und theoretische Erfahrung, die der Autor und bekannte Pädagoge Heinz Moser im Bildungsbereich hat, gibt seinen kritischen Aussagen das entsprechende Gewicht. Seine bedenkenswerten Argumente, die von links bis rechts geteilt werden, könnten noch durch folgende Fakten, die über den ominösen Lehrplan21 hinaus gehen, ergänzt werden:
In der ersten Volksabstimmung wurde 2008 im Kanton Luzern das HarmoS-Konkordat, das eine Vereinheitlichung von Schulstufen und Lehrplänen hätte bewirken sollen, vom Volk – entgegen allen Erwartungen – mit grosser Mehrheit abgelehnt. In gleich vielen Kantonen (nämlich sieben), in denen das Referendum gegen HarmoS ergriffen worden ist, wurde das Konkordat vom Volk abgelehnt, wie es angenommen worden ist. Im Kanton BS befürworten nur 13% der Bevölkerung Integrative Klassen (BaZ 14.11.2015). Das zeigt, wie die Schreibtischpädagogen, die die unsäglichen Reformen, wie neuerdings den Lehrplan21, entwickeln, abgehoben und ohne Kontakt zum Volk ihre theoretischen Vorstellungen von Schule und Unterricht durchzusetzen versuchen. Heinz Moser weist darauf hin: Die Konstrukte sind, wie die anfangs der Siebzigerjahre an der Universität Freiburg ausgetüftelte Theorie eines Unterrichts basierend auf operationalisierten Lernzielen, Kopfgeburten – fern des Schulalltags und der Unterrichtswirklichkeit.
Damit werden die Lehrkräfte geplagt, die die endlosen und meist mit hohem administrativen Aufwand verbundenen Reformen jeweils umsetzen sollten.
Das Dogma des „selbstgesteuerten konstruktivistischen Lernens“ in den „Grundlagen für den Lehrplan 21“ der D-EDK verbietet dem Lehrer, seine Hauptaufgaben wahrzunehmen: Er darf sein Wissen nicht weitergeben, nicht mehr unterrichten, nicht erklären, nicht motivieren und nicht erziehen. Das ist, wie wenn man den Journalisten das Schreiben verbieten würde, weil man sich nur dann eine eigene Meinung „konstruieren“ könne. Das könnte das Ende des Lehrerberufs bedeuten, weil „Lernbegleiter“ keine qualifizierte Ausbildung brauchen, um Arbeitsblätter von Bertelsmann & Co. vom Internet herunterladen und an die Schüler verteilen zu können. Das können auch gratis arbeitende Senioren oder Zivildienstleistende.