Kommentar

Lehrkräftemangel – die Gefahr der Entprofessionalisierung

Heinz Moser © zvg

Heinz Moser /  Besser eine unausgebildete Lehrperson als keine. Diese Überzeugung hilft wenig und schwächt das Bildungssystem zusätzlich.

Seit der Lehrpersonenmangel offensichtlich geworden ist, ächzen die Schulen unter dem Druck, im Herbst alle Lehrstellen besetzen zu müssen. So fehlten im Kanton Zürich vor den Sommerferien noch mehrere hundert Lehrpersonen. Und in anderen Kantonen sieht es kaum besser aus.

Lehrpersonenmangel
Information der Bildungsdirektion Zürich.

Die Gründe für den Lehrkräftemangel

Franziska Peterhans, Zentralsekretärin des Dachverbands der Lehrerinnen und Lehrer (LCH) fasst wesentliche Ursachen des Lehrkräftemangels in «Bildung Schweiz» zusammen:

So steige die Anzahl der Schülerinnen und Schüler gerade zu einer Zeit, wo die Babyboomer unter den Lehrpersonen in Pension gehen. Der Höhepunkt der Pensionierungswelle sei laut Bundesamt für Statistik ausgerechnet das Jahr 2022. Dazu komme, dass viele Lehrerinnen und Lehrer nicht im Beruf bleiben: Die Austritte bewegten sich um 7 Prozent im Jahr. Zudem decke der prognostizierte Anstieg von Studierenden an Pädagogischen Hochschulen gerade die Hälfte des Bedarfs, wobei zwischen 5 und 23 Prozent der Absolvierenden nicht als Lehrpersonen tätig werde.

Schnellbleichen helfen nicht

Allerdings lassen sich jahrelange Versäumnisse nicht in wenigen Monaten beheben – auch wenn man versucht, mit Notmassnahmen das Gröbste zu verhindern: Pensionierte Lehrpersonen werden aktiviert, Studierende von Pädagogischen Hochschulen (PH’s) unterbrechen das Studium, um als Lehrkräfte eingesetzt zu werden. Im Kanton Zürich können nach den Sommerferien sogar Unausgebildete als Lehrkräfte in die Schulen geschickt werden, um Engpässe mit geeigneten Personen zu überbrücken. Gesucht werden Personen ohne Lehrdiplom, die danach das Studium zur Volksschullehrperson in einer Pädagogischen Hochschule in Angriff nehmen wollen. Diese Anstellungen sind auf ein Jahr befristet, wobei die Ausgewählten in Kurzkursen und Planungswochen in das Zürcher Schulwesen eingeführt werden, den Berufsauftrag von Lehrpersonen kennenlernen und Unterstützung bei der Vorbereitung und Planung ihres Unterrichts erhalten.

Mit Schnellbleichen die Probleme der Praxis zu entschärfen, ist allerdings keine gute Idee. Denn dadurch werden die Lehrberufe entwertet. Mindestens stellen sich viele Leute die Frage, ob es denn eine lange und teure Ausbildung an einer Hochschule überhaupt braucht, wenn das Unterrichten auch ohne geht. So kommt schnell die Frage auf, ob die aktuelle Krise vielleicht auch damit zusammenhängt, dass Lehrpersonen falsch ausgebildet werden – mit viel zu viel unnötiger Theorie. Nostalgisch verklärt man dabei die Praxis der früheren Lehrer/innenseminare.

Ein Lehrer formuliert die Kritik an der Lehrpersonenausbildung in der «NZZ» und schreibt. «Mein Lehrdiplom, mein Bachelor of Arts in Primary Education, beides sind nur Dokumente, die ich während meiner dreijährigen Ausbildung an der Pädagogischen Hochschule St. Gallen erworben habe. Die Fähigkeit zu unterrichten, eine Klasse zu führen, zu lehren, zu trösten, zu schimpfen, zu loben, zu erziehen, all das habe ich dort nicht gelernt. Die 24 Schülerinnen und Schüler meines ersten Klassenzugs haben es mir beigebracht.»

Die PH Reform der schweizerischen Lehrerbildung

Mit dem Schritt von den Seminaren zu den Pädagogischen Hochschulen, wurde die Lehrpersonenbildung am Anfang dieses Jahrhunderts auf Hochschulebene neu konzipiert. Ziel war nicht einfach eine Akademisierung der Lehrendenberufe, vielmehr sollten die Lehrenden befähigt werden, als Fachleute für Bildung und Erziehung einen wissenschaftlich abgestützten Unterricht zu erteilen. Theorie sollte dabei helfen, die eigene Praxis zu reflektieren und im engen Bezug zu dieser stehen.

Der Lehrauftrag geht über die eigene Schulklasse hinaus

Als Fachleute für Bildung und Erziehung sollen die Lehrpersonen zudem einen weiten Blick erhalten, nicht allein die einzelnen Schülerinnen in den Mittelpunkt zu stellen. Denn der verengte Blick auf die einzelnen Schüler/innen vergisst, dass individuelle Probleme sehr oft in Gruppen wie der Klasse, den Eltern oder den Mitschülerinnen und -schülern ihre Ursache haben. Auch die Empfehlung, dass man zur Steigerung der Attraktivität des Berufs die konstruierte Komplexität der schulischen Strukturen abbauen müsse, um wieder das Unterrichten ins Zentrum zu stellen, greift zu kurz. Denn hier vergisst man, dass Lehren heute viel stärker mit solchen übergreifenden Strukturen verbunden ist.

Jedenfalls reicht es nicht, den Schlüssel für «gute Lehrpersonen» allein in der Beziehung zum einzelnen Kind zu sehen. Vielmehr ist die gesamte Klasse und darüber hinaus das Klima im Schulhaus der Spiegel für den Lern- und Erziehungsprozess. Probleme wie Mobbing sind zum Beispiel nur dann zu lösen, wenn alle Beteiligten einbezogen sind.

So sind Lehrpersonen nicht nur für ihre Klasse, sondern auch für die Zusammenarbeit in ihrem Schulhaus verantwortlich. Sie brauchen Kenntnisse, um gemeinsame Schulhausprojekte zu gestalten. Und sie müssen geschult werden, mit psychologischen und logopädischen Fachleuten zusammenzuarbeiten, wenn sie schwierige Kinder in ihrer Klasse haben.

Das fruchtbare Zusammenarbeiten im Kollegium verlangt besondere Kompetenzen, die nicht damit abgedeckt sind, dass man mit den Kindern in der eigenen Klasse gut auskommt und sie emotional begleitet. So ist auch die Elternarbeit schwieriger geworden, da Eltern heute viel schneller finden, dass ihr Kind ungerecht behandelt wurde. An die vielen Elterngespräche und deren akribische Vorbereitung denkt nicht, wer nur das Zusammensein mit den Kindern im Auge hat.

Die Gefahr der Entprofessionalisierung

Um alle diese Anforderung bestehen zu können, braucht es nicht weniger, sondern mehr fachliches Wissen und Fähigkeiten zur Reflexion der eigenen Arbeit. Es ist deshalb klar, dass der Weg nicht zu einer Bonsai-Ausbildung mit dem Schwerpunkt einer Anleitung zum Unterrichten zurückgehen kann. Notwendig ist vielmehr ein starker Praxisbezug, der aber immer auch mit theoretischer Reflexion unterfüttert ist.

Angesichts eines solchen Lehrerprofils ist es kein Wunder, dass die Lehrpersonenausbildung des 21. Jahrhunderts auf die Fachhochschulebene gelegt wurde. Nur passen die aktuellen Notlösungen schlecht dazu: Zukünftige Lehrpersonen aus der Ausbildung zu nehmen und vorübergehend für den normalen Unterrichtseinsatz einzusetzen, Pensionierte fürs weitere Unterrichten zu ermutigen oder gar geeignete Laien als «Notgroschen» einzusetzen, verwischen letztlich das Berufsprofil. Die normal ausgebildeten Kollegen und Kolleginnen im Schulhaus wissen nie, was die neu Eingesetzten können oder nicht. Das Tohuwabohu von unklar gewordenen Anforderungen ist keine gute Startchance der Schule nach der Corona Krise.

Man stelle sich vor, bei der Ärzteausbildung ergäben sich ähnliche Mängelsituationen. Da wäre es völlig undenkbar auf «Gschtudierte» zu verzichten und interessierte Laien als Herzspezialisten oder Chirurgen anzustellen, die behaupten, fast alles schon zu können und bereit zu sein, anschliessend ins Medizinstudium einzusteigen. Der Türöffner in den Beruf ist hier nicht die Absicht, sondern die abgeschlossene Ausbildung.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Der Autor war bis 2013 Professor an der PH Zürich
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.

Zum Infosperber-Dossier:

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10 Meinungen

  • am 5.08.2022 um 11:03 Uhr
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    Heinz Moser hat in vielem recht. Einerseits. Andererseits beklagten auch wir Anfangs der 70er Jahre des letzten Jahrhunderts nach 5 Jahren Lehrerseminar, dass wir schlecht auf die Praxis vorbereitet worden seien. Und wenn er aufzählt, was der Lehrerin neben dem Unterrichten alles noch im Blickfeld haben müsse, war das auch früher so. Schon damals hatten wir offene Schulzimmertüren, besuchten uns gegenseitig im Schulzimmer und lancierten gemeinsame Unterrichtsprojekte. Trotzdem sollte man nicht vergessen, dass der Unterricht und damit die sog. «Qualitätssicherung» (welch doofer Begriff) immer noch im Schulzimmer stattfindet. Schulleitungen, denen vor allem ihre eigene Rechtfertigung Motivation für ihr Handeln ist, gab es damals nicht. Der Lehrerin übernahm die Verantwortung für sein Tun und man traute es ihm zu. Heute übernehmen das Schulleiter, Schulentwicklerinnen, Coachs, Organisationsberater, interessiert tuender Politikerinnen. Sie nagen an der Substanz Lehrenden.

  • am 5.08.2022 um 12:19 Uhr
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    Ich habe in den letzten 40 Jahren etliche «professionell» ausgebildete Lehrkräfte erlebt die sowohl didaktisch wie psychologische Vollpfeifen waren. Handkehrum waren einige der besten Dozenten solche, die nie eine Ausbildung zum Unterrichten erhielten. Das Argument der Entprofessionalisierung überzeugt mich gar nicht. Kompetenzen sollten mehr gefragt sein als Diplome.

  • am 5.08.2022 um 12:21 Uhr
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    Das klingt ja alles schön und gut mit Sinn und Zweck der PH.

    In der Praxis, wenn man als normaler Bürger mit Lehrern redet, klingt es ein bisschen anders. Ich hab noch nie irgendein positives Urteil über die PH gehört, nur dass das Studium verschult, theoretisch und praxisfern sei. So richtig gern geht da keiner, man machts halt weil man muss.

    Alles andere ist Schöngerede einer akademischen Klasse, die ihre Privilegien nicht verlieren will.

    Vielleicht passiert ja gerade eine «natürliche» Zwangskorrektur gewisser Ideen und es zeigt sich, dass menschliche Qualitäten die fachlichen (den Begriff Wissenschaft auf dieser Schul-Stufe zu verwenden ist ja wohl ein Witz!) bei weitem überwiegen und wir gesamtgesellschaftlich wieder etwas pragmatischer und «erdnaher» denken dürfen.

  • am 5.08.2022 um 12:25 Uhr
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    Kein Wort von Heinz Moser über mögliche Lösungen. Dabei sollte es ihm als Jemand der etwas mit «Medienpädagogik an der PH Zürich » macht nicht schwerfallen..

  • am 5.08.2022 um 12:33 Uhr
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    Wenn es einen akuten Mangel gibt, so muss gehandelt werden. Es mag zwar unprofessionell sein, aber irgendwer muss unterrichten. Parallel zur Arbeit kann man diese Leute aufschulen und weiterqualifizieren, was sich z.Bsp. auch im Gehalt positiv niederschlagen könnte. Nach dem Krieg gab es in der DDR durch die Entnazifizierung auch einen riesigen Lehrermangel, den man mit unausgebildeten «Neulehrern», die überall notrekrutiert wurden, stopfte, bis sich die Lage in der Lehrerausbildung wieder stabilisierte. In D und Ö ist seit vielen Jahren bekannt, dass sich durch Pensionswellen ein eklatanter Lehrermangel einstellen wird. Der Lehrerbedarf lässt sich durch die Geburten- und Pensionraten ziemlich genau berechnen. Reaktion mäßig. Schlechte Arbeitsbedingungen treiben Lehrer in Bundesländer, die besser aufgestellt sind. Seit Jahren wird die Lehrermisere beklagt und es tut sich nichts.

  • am 5.08.2022 um 13:39 Uhr
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    Wenn ein Mitglied einer Zunft mahnt, eine Berufsausübung ohne Zunftmitgliedschaft gehe gar nicht, ist Skepsis angebracht. Man spricht heute zwar nicht mehr von Zunft, sondern von Professionalisierung. Erfolgreich war ein Professionalisierungsprozess, wenn ein Beruf nur noch mit staatlich sanktionierten Prüfungen ausgeübt werden darf. Dies ist sicher nicht in jedem Fall ohne Sinn, in der konsequenten Rigidität des Systems der Berufe geht jedoch jede Flexibilität verloren und es muss auf fähige und motivierte (Quer-) Einsteiger verzichtet werden. Die Crux ist, dass formale Qualifikation mit Fähigkeit gleichgesetzt wird. In einschlägigen Diskussionen wird beides munter vermischt. Wenn Moser von der Entwertung des Lehrerberufs schreibt, dann hat er Statusaspekte im Auge, nicht Qualifikation.

  • am 5.08.2022 um 16:02 Uhr
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    Eine sehr zeitgemässe Analyse von Herrn Moser. Offensichtlich rächen sich die Fehler der Vergangenheit. Leider sind diese aus dem Text nicht klar genug ersichtlich. Wurden die Pädagogen und Pädagoginnen auf ihre psychische Eignung für den Lehrberuf geprüft? Haben sie Unterricht im Konfliktmanagement erhalten (nicht für die Kinder, sondern für die Zusammenarbeit mit Kollegen/innen und Eltern)? Haben sie das Wissen, um die besonderen Stärken jedes Kindes zu ermitteln und zu fördern? Haben sie die Sicherheit, um den Kindern das Lernen durch Fragen beizubringen, auch wenn sie selbst nicht die Antwort auf alle Fragen wissen? Und vielleicht das Wichtigste: Wie den Kindern das dynamische Gleichgewicht zwischen Ich und Wir beizubringen? Diese emotionalen Kompetenzen wären in jedem späteren Beruf gefragt und Pädagogen mit diesen Fähigkeiten würden auch ein entsprechendes Gehalt verlangen können. Der Lehrermangel wäre dann ein Relikt der Vergangenheit.

  • am 6.08.2022 um 12:49 Uhr
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    ich bin wirklich erstaunt, dass unter «Die Gründe für den Lehrkräftemangel» kein Wort steht von Corona-Massnahmen. Ich höre in meinem Alltag nichts von Babyboomern aber ich höre von Lehrkräften, die sich enttäuscht aus dem Beruf verabschiedet haben wegen dieser Massnahmen-Belästigung, oder von Lehrkräften, welche sogar aus ihrer Tätigkeit hinaus gedrängt wurden.

  • am 7.08.2022 um 07:53 Uhr
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    In der Analyse kommen zwei gewichtige Faktoren zu kurz:
    1. Der Schule wurde zusammen mit der Akademisierung eine Machtposition aufoktroyiert, deren Wirkung bisher kaum diskutiert wird: die Schulleitung. Eine einzelne Person kann den Kurs und das Klima eines ganzen Schulhauses massgeblich beeinflussen. Im Kanton Zürich müssen diese Akteure keine pädagogische Ausbildung aufweisen.
    2. Unsere Gesellschaft delegiert Schritt für Schritt elterliche Aufgaben an die Schule. Viele Kinder wachsen weitgehend fremdbetreut auf, und die Lehrpersonen verbringen mehr Zeit mit einem Kind im wachen Zustand, als seine Erzeuger. Die Konsequenzen dieser schleichenden Aufgabenverschiebung werden ignoriert.

  • am 7.08.2022 um 08:45 Uhr
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    Mir persönlich entsteht bei diesem Beitrag der Eindruck, dass es primär um den Status der Lehrerschaft geht und nicht darum, unserem Nachwuchs einen optimalen Start ins Leben zu ermöglichen.
    Mein Sohn wurde von einem «Profi» in der Primar während zweier Jahre vor der Klasse als geistig behindert und als «zu blöd für die Schule» bezeichnet, was schwere Schlafstörungen und Apathie auslöste. Im Schulsystem fasste er nie wieder Fuss. Acht von neun Schuljahre waren ein Spiessrutenlauf für ihn und uns Eltern.
    Von Seiten der Schulleitung wurden wir der Lüge bezichtigt und bekamen folgenden Satz zu hören: «Wenn ihr Sohn Probleme hat, dann schicken Sie ihn zum Psychologen, das zahlt die Krankenkasse!»
    Schön, wenn man Probleme auf diese Art auslagern und sich um eine Lösung foutieren kann.
    Wenn man trotz PH mit Kindern auf diese Weise umspringen darf, dann werden die Quereinsteiger das Niveau der Schule schwerlich weiter senken können.

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