Neue, fragwürdige Hürden für Universitätszutritt
Red. Ralph Fehlmann ist Fachdidaktiker und war Gymnasiallehrer im Kanton Zürich.
Ein Gerücht geht um in der Schweiz: Die GymnasiastInnen können nicht mehr schreiben und nicht mehr rechnen.1 Damit sei ihre Hochschulreife gefährdet. Und damit das hohe Prestige der Matur und unserer Gymnasien mit dem prüfungsfreien Übertritt an die Universitäten. Der prüfungsfreie Übertritt ist ein wertvolles Unikum der Schweiz – Ausnahme: Medizinstudium.
Doch weil es am guten Schreiben und Rechnen fehle, sollen die Gymnasiastinnen und Gymnasiasten verpflichtet werden, durch zusätzliches Training in Erstsprache und Mathematik ein schweizweit standardisiertes Mindestniveau zu erreichen, «basale Kompetenzen» genannt. Diesbezügliche Defizite sind zudem nicht kompensierbar (ein Fremdkörper im schweizerischen Schulsystem und damit ein geradezu radikaler Paradigmenwechsel in der helvetischen Bildungslandschaft).
Als Deutsch- und Didaktikdozent in Zürich beschränke ich mich in der Folge auf den Bereich «Erstsprache/Deutsch».
1. Die Fakten
- Kandidatinnen und Kandidaten für mein Gymnasium (RG Rämibühl, Zürich) machen an der Aufnahmeprüfung nicht mehr Formulierungsfehler als vor 37 Jahren.2 Und auch in ihren Matura-Aufsätzen machen sie durchschnittlich nicht mehr Rechtschreibfehler als früher.
- Die Abbrecherquote an der Universität Zürich ist seit 1975 konstant sinkend.3
- «Ehemalige (Zürcher, RF) Maturanden sind mit ihrer Mittelschulzeit zufrieden und fühlen sich gut auf ein Hochschulstudium vorbereitet.»4
- Kompetenzlücken zu Studienbeginn werden in der Regel innerhalb eines Semesters geschlossen.5
- Die Mittelschulen stehen unter einem zunehmenden Spardruck. Jede kostspielige Investition geschieht zu Lasten anderer schulischer Angebote. Die vorgeschlagenen Trainingsprogramme müssten als wirklich nötig eingestuft werden, bevor man sie einführt.
2. Der Fehltritt
Am 17. März 2016 beschliesst die Eidgenössische Erziehungsdirektorenkonferenz EDK die Einführung des Konzepts «basale Kompetenzen» an allen Gymnasien.
Ein seltsamer Fall von Immunität gegen Fakten?
Erklären lässt sich dieser Entscheid wohl nur politisch: Mit der Aussage «Lassen wir X doch, wie es ist, es funktioniert ja nicht schlecht» kann ein Politiker weder sich persönlich profilieren noch im nächsten Wahlkampf Stimmen gewinnen. Er möchte dem Wahlvolk zeigen, dass er handelt. Gibt es keinen Handlungsbedarf, dann redet man ihn halt herbei, was in der Bildungspolitik in den letzten zehn Jahren immer häufiger der Fall ist. Doch was sowohl logisch wie inzwischen augenfällig ist: die Schule wird dadurch nicht besser.
3. Die Folgen
Nicht alle «basalen Kompetenzen» sind banale Kompetenzen. Textplanung, Anpassung an die Adressaten, thematische und logische Kohärenz etc. sind fundamentale Aspekte von Schreibfähigkeit. Diese sind in jenem Bericht von Professor Franz Eberle, welcher der EDK als Grundlage diente, auch erwähnt. Sie sind aber schwer zu trainieren, noch schwerer zu benoten und schon gar nicht in klaren Minimalstandards zu fassen. Das steht übrigens ebenfalls im erwähnten Bericht.6
Anders verhält es sich – zumindest mit dem Standardisieren und Benoten – in Bereichen wie Rechtschreibung und Interpunktion. Und objektive Noten müssen nun mal her, geht es doch bei den «basalen Kompetenzen» wie gesagt um nicht kompensierbare Fähigkeiten, also um einen Entscheid über Schülerkarrieren.
Mein akademisch-philosophisch hochbegabter Schüler A, ein chaotischer Rechtschreiber, hätte allerdings solche Tests kaum bestanden und also die Uni in seinem Leben nur aus der Ferne gesehen.
Nicht verwunderlich werden nun an vielen Schulen Rechtschreibtests entwickelt und Grammatikbücher eingekauft. Was umso grotesker ist, als Rechtschreib- und Grammatikunterricht auf Stufe Gymi zu jenen Unterrichtsformen gehören, die fürs bessere Reden und Schreiben am wenigsten nachhaltig sind.7
Grammatikunterricht ist zwar wichtig für die Förderung von Sprachbewusstsein («language awareness») – einem hochrangigen Ziel gymnasialer Allgemeinbildung; er kann aber wenig helfen unter dem Nützlichkeitsaspekt «besser schreiben». Und das zweite gilt auch für Rechtschreibunterricht.
Schreiben lernt man durch schreiben … unter professioneller, intensiver, ganzheitlicher und vor allem individueller Beratung, die sich zudem öfter mit Einstellungsänderungen befassen wird als mit falschen Kommas und falschen Buchstaben (dafür gibt’s ja bekanntlich das Rechtschreibprogramm und den Duden online). Dieser Prozess verläuft auch in seinem zeitlichen Ablauf sehr individuell und ist mit der Matur in keiner Weise abgeschlossen. Die Universität steht in der Pflicht, ihn weiter zu unterstützen.
Nachhaltig werden dagegen die finanziellen Auswirkungen dieses Trainingsprogramms sein. Wie viel Unterricht in Halbklassen, wie viele Projektwochen und Fakultativfächer werden durch die Jagd nach den basalen Kompetenzen am Gymnasium noch verloren gehen?
4. Finale
Michael Hengartner, Rektor der Universität Zürich, sagte kürzlich – vor 500 Personen, also hinreichend öffentlich – er fordere von Anwärtern auf ein Studium an seiner Institution nur eine Kompetenz: Neugier.
Zum Glück hat mein Schüler A. die Matur gerade noch vor der Einführung der banalen Kompetenzen gemacht. Denn neugierig – das war er!
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QUELLEN
1Gewisse Medien (NZZ, Blick am Abend) greifen, offenbar resistent gegen Fakten, dieses Gerücht begeistert auf. Nichts bringt bekanntlich mehr Leser, als den Lehrern an den Karren zu fahren. Die rhetorische Figur hinter dieser Dekadenzklage ist übrigens mindestens 2000 Jahre alt und heisst laudatio temporis acti, frei übersetzt: «die Verklärung vergangener Zeiten». Besonders anfällig dafür sind Senioren und Konservative.
2 Quelle: Private Statistik des Autors.
3 Quelle: Wolter/Diem/Messer, SKBF 2013
4 Quelle: Statistisches Amt Kt. Zürich, Mittelschülerbefragung 2009, bestätigt 2012.
5 Quelle: EVAMAR 2 (2. Evaluation der revidierten Maturitätsanerkennungsverordnung), also ausgerechnet jener Bericht, auf den die EDK bei ihrer Einführung der basalen Kompetenzen sich stützt.
6Franz Eberle et al: Basale fachliche Kompetenzen für allgemeine Studierfähigkeit in Mathematik und Erstsprache, Universität Zürich 2014
7Quelle: 37jährige eigene Erfahrung und das Urteil zahlloser KollegInnen. Besonders hübsch ist eine Studie, die zeigt, dass Schüler nach einem Trainingsmodul «Interpunktion» mehr Kommafehler machen als vorher.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Ralph Fehlmann ist Fachdidaktiker und war Gymnasiallehrer im Kanton Zürich.
Bravo! Das Ziel (Neugier) aus den Augen verloren, aber es wird geprüft und gefiltert, bis auch die Geeignetsten den Beruf nicht mehr ergreifen können. Dann wird von Fachkräftemangel erzählt und man importiert Arbeitskräfte, die diese Tests nie gemacht haben! (siehe Aerzte…etc.)
Und noch schlimmer, das scheint niemanden zu interessieren.