Kommentar
Genies von gestern, lebt wohl!
Auch dieses Jahr blieb der Schweiz bei den noblen Preisen bloss das Nachsehen. Die letzte dieser höchsten akademischen Auszeichnungen liegt für unser Land bereits 14 Jahre zurück, fürs wissenschaftliche Selbstbewusstsein eine unendlich lange Durststrecke! 2002 erhielt der ETH-Biophysiker Kurt Wüthrich die Chemie-Medaille des Dynamit-Erfinders, seither warten wir jeden Oktober gespannt auf positive Nachrichten aus Stockholm.
Die 1855 gegründete ETH Zürich wurde früher mit Nobelpreisen geradezu verwöhnt. Bis heute kann sich die Schweizer Spitzenhochschule mit 21 noblen Auszeichnungen schmücken. Statistisch gesehen erhielt durchschnittlich alle sieben bis acht Jahre ein mit der ETH verbundener kluger Kopf die akademische Trophäe, dies für seine meist vor Jahrzehnten gemachte Entdeckung. Und jetzt das nicht gerade noble Loch, ja Vakuum von 14 Jahren (seit 2002), eine leidige Abschlussschwäche!
Verzopfter Geniekult
Ausserdem bläst der Forschung hierzulande ein kühler Wind entgegen, weil aufgrund der unklaren politischen Situation (Personenfreizügigkeit) ein Ausschluss aus den lukrativen EU-Forschungsprojekten droht (Stichwort Horizon 2020). Viele namhafte Wissenschaftler, zahlreiche talentierte Forscherinnen liebäugeln (im Stillen) mit dem Wegzug. Im Weiteren ist die Wissenschaft im Umbruch, bewegt sich weg vom Geniekult, der einsame Helden feiert (statt interdisziplinäre Teams). Aufwind haben neue Entwicklungen wie öffentlich verfügbare Daten aus Experimenten (Open Data), Einbezug der Bürger in die Forschungsarbeit (Participation) und rundum zugängliche Publikationen (Open Access).
Dieser Wandel böte auch der ETH Zürich Chancen, ihren manchmal prätentiösen Geist anzupassen. Die Bildungs- und Forschungsstätte mit typisch eidgenössischem Flair offenbart zwar etliche kosmopolitische Qualitäten, doch ebenso einige Untugenden. Die renommierte Institution könnte weit mehr tun, damit Wissenschaft global gerechter und sozial wirksamer würde. Das Universitätsprofil der Zukunft umfasst ebenfalls Punkte wie das lösungsorientierte Einmischen in wichtige politische Entscheidungsprozesse, die Solidarität mit Universitäten des Südens, die Bewusstseinsbildung im eigenen Hause sowie die Manifestation einer klaren Haltung gegen aussen.
—
Mehr zu diesem Thema bietet eine soeben erschienene Publikation des Autors mit dem Titel «An den Tisch der Mächtigen – Streitschrift für einen beherzten Geist der ETH Zürich». Das «Böse Büchlein» kratzt manchmal streng, mitunter satirisch am «Lack» einer Hochschule von Weltrang, endet aber mit einer konstruktiven Perspektive für die sich rasch wandelnde (Hochschul-)Welt. Leseprobe und Bestellung hier.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine. Der langjährige Wissenschaftsjournalist Beat Gerber publiziert heute auf seiner satirischen Webseite «dot on the i», auf der dieser Beitrag erschien.
Das «lösungsorientierte Einmischen in wichtige politische Entscheidungsprozesse"? hatten wir das nicht früher schon mal, bis dann Max Weber dem endlich ein Ende setzte, indem er «Politik als Beruf» von «Wissenschaft als Beruf» trennte?