Ausbildung und «Bildung» im Sog der Wirtschaft
Red. Die Ökonomisierung des Bildungswesens folgt mit Zeitverzögerung der Ökonomisierung der Gesellschaft. Zu diesem Schluss kommt Thomas Kesselring, bis 2013 Professor an der Pädagogischen Hochschule Bern und bis 2015 Dozent an der Pädagogischen Universität von Mosambik. Seine Analyse von «Wirtschaftsentwicklung und Transformationen im Bildungswesen»* zeigt, dass die meisten Veränderungen im Bildungswesen zeitverschoben denjenigen der Wirtschaft folgen: «Seit dem Ende des Kalten Krieges haben sie sich noch weiter beschleunigt und über die Welt ausgebreitet, auch in den vormals sozialistischen Ländern.»
Privateigentum, Markt und Gewinnmaximierung
Die frühesten Schulen – Kloster-, Koran-, Toraschulen, Ausbildungsstätten für Brahmanen usw. – wurden von religiösen Institutionen gegründet, bevor in Europa im Verlaufe des 19. Jahrhunderts der Staat mehrheitlich diese Aufgabe übernahm und sich, in der Tradition der Aufklärung, die Schulbildung für alle zum Ziel setzte.
Bildung ist inzwischen eines der wichtigsten Menschenrechte: Niemand darf von Bildung ausgeschlossen werden, und via Steuern tragen alle Staatsbürgerinnen und Staatsbürger zu ihrer Finanzierung bei.
Da Bildung eine öffentliche Aufgabe ist, fällt auch die (Qualitäts-) Kontrolle über das Bildungswesen in die Zuständigkeit der Öffentlichkeit. Dies begründet Kesselring wie folgt: «Es liegt im wohlverstandenen Interesse demokratischer Bürgerinnen und Bürger, dass alle sich die intellektuellen, sozialen und emotionalen Fähigkeiten aneignen, die für ein friedliches und einigermassen harmonisches Zusammenleben erforderlich sind. Die Öffentlichkeit muss also auch Einfluss auf Bildungsziele und Bildungsinhalte nehmen können.»
Doch inzwischen wird die Forderung laut, Bildung wie andere Dienstleistungen über den Markt zu organisieren. Dabei stünden wie in der Wirtschaft Privatisierungen, Gewinnmaximierung, ein Kosten-Nutzen-Kalkül und eine auf Rentabilität und Profitabilität ausgerichtete Rationalität im Vordergrund.
Parallel würden die internationalen Wirtschaftsorganisationen WTO und OECD für einen offenen Bildungsmarkt plädieren: Öffentliche Träger sollten gegenüber privaten nicht privilegiert und private Bildungsanbieter nicht subventioniert werden. Denn das bedeute eine «Wettbewerbsverzerrung und Handelsschranke gegenüber internationalen Investoren»1.
Neue utilitaristische Bildungsziele
Das Eindringen der Marktwirtschaft ins Bildungswesen beeinflusse auch dessen Zielsetzungen, erklärt Kesselring. Das Ausbildungsziel, demokratiefähige Staatsbürgerinnen und Staatsbürger, trete hinter dem Ziel zurück, Haltungen wie Flexibilität, Anpassungsfähigkeit und «Smartness» zu fördern.
Die zunehmende Marktorientierung im Bildungswesen zeige sich in einem wachsenden Trend zur Privatisierung von Bildung und Ausbildung. In vielen Ländern befänden sich die privaten Bildungsinstitute auf der Überholspur: Weltweit seien in den letzten Jahrzehnten Tausende privater Schulen und Universitäten bzw. Fakultäten entstanden. In Mosambik gebe es bereits 38 Privatuniversitäten, in Deutschland etwa 70. In den USA seien mehr als 800 Universitäten entweder privat oder würden – obwohl öffentliche Institiutionen – von privaten Stiftungen verwaltet.
Dem Wettbewerb unterworfen
Soweit öffentliche Universitäten sich privat finanzieren2, würden sie gezwungenermassen ökonomischen Interessen folgen. Universitäten und ihre Institute arbeiteten mit Konzernen zusammen, welche Lehrstühle oder Forschungsprogramme sponsern3. Die Verträge blieben oft geheim, ihre Offenlegung müsse häufig erkämpft werden4.
Selbst Schulen arbeiteten gelegentlich mit Firmen zusammen, vor allem in Deutschland. Das schaffe Probleme eigener Art: Im Jahr 2006 besuchten «88 Prozent der 15-Jährigen eine Schule, in der Industrie und Wirtschaft den Unterricht beeinflussen.»5 Schulen würden so zu Marketing-Plattformen. [Der Schweizer Lehrerverband versucht mit einer freiwilligen Charta, Grenzen zu setzen. Siehe am Schluss.]
Oft komme es zu public-private Partnerschaften, vor allem zwischen technischen Hochschulen und den Start-up-Firmen, die aus ihnen hervorgehen. Die Grenzen zwischen Forschung und Business müssten immer wieder neu ausgehandelt werden oder drohen zu verwischen.
Schulübergreifende Vergleichstests, wie der Pisa-Test, bärgen das Risiko, kreative und musische Fächer sowie Wissen in Geschichte und Literatur abzuwerten. An den Universitäten sei es die Konkurrenz um reputierte Professoren und um Drittmittel – das Akquirieren von Geldern aus der Privatwirtschaft –, welche zu einseitiger Ausbildung führe.
Das Beschaffen von Drittmitteln gehöre heute zu den Aufgaben eines Universitätsprofessors. Bei der Ernennung und Beförderung von Professoren seien die Fähigkeit zum Einwerben von Drittmitteln sowie das häufige Zitiertwerden in wissenschaftlichen Zeitschriften wichtigste Kriterien. Kesselring kritisiert diese Auswahlkriterien: «Im Wissenschafts- und Lehrbetrieb sind ganz andere, nicht quantifizierbare Dinge wesentlich, etwa der Unterrichtsstil, der geistige Horizont, das Temperament und die Begeisterungsfähigkeit einer Dozentin oder eines Dozenten.»
Dazu kommen eine einseitige Ausrichtung auf die englischsprachige Forschung: Man stelle Professoren an, die englisch sprechen, aber weder die Lokalsprache beherrschen noch die regionalen Gegebenheiten kennen. Forschungsprojekte müssten sich daran anpassen. Die wissenschaftlichen Fachzeitschriften mit höchstem «Impact»-Faktor (d.h. mit dem höchsten Prestige) seien alle englischsprachig. In ihren Peer-Review-Verfahren hätten Reviewer an amerikanischen und englischen Topuniversitäten ein besonderes Gewicht – in den Wirtschaftswissenschaften beispielsweise die Chicagoer Schule.
Hochschulen werden zu Konzernen
Die Konzentration des Kapitals in der Wirtschaft und der Trend zu Millardenkonzernen fänden bei den Universitäten eine Parallele, erklärt Kesselring: Die Top Ten im Shanghai-Ranking der weltweiten Universitäten hätten allesamt ein Jahresbudget von mehreren Milliarden Dollar6 und verfügten zum Teil über opulente Stiftungsvermögen (zum Beispiel 32 Milliarden Dollar bei Harvard). Die Universität Fribourg mit ihrem Jahresbudget von etwa 28 Millionen figuriert mit anderen hundert Universitäten ex aequo auf Platz 301-400.
Grundsätzlich könne eine Hochschule umso leichter renommierte Wissenschaftler anlocken, je finanzkräftiger sie ist. Ähnlich wie sich die reichsten Fussballclubs die besten Spieler und die finanzkräftigsten Firmen die teuersten Topshots unter den CEOs schnappen können. Die grössten Universitäten könnten Allianzen schmieden, um Geldgeber zu finden und die Studiengebühren nach oben zu treiben.
Die Kernfrage
Für Kesselring lautet die Kernfrage: «Wollen wir Wissen (und praktische Fähigkeiten) primär als Instrumente im Kampf um Wettbewerbsvorteile betrachten oder als Grundlagen einer uns allen gemeinsamen humanen Kultur, die zu erhalten und weiterzuentwickeln wir alle gleichermassen aufgerufen sind?» Ein Ziel der Wissenschaften liege – um mit Popper zu sprechen – in der Annäherung an die Wahrheit. Ein anderes Ziel liege in ihrem Beitrag zur Bewältigung echter (sozialer, ökologischer, friedenspolitischer usw.) Herausforderungen. Diese Ziele träten aber in den Hintergrund, wenn sich im Forschungs-Wettbewerb Projekte durchsetzten, die auf wirtschaftlichen Gewinn und/oder Prestige-Zuwachs hin konzipiert seien. Bahnbrechende Forschung werde nicht gefördert, indem man sie ins Scheinwerferlicht einer applaudierenden Öffentlichkeit rücke.
Bildung sei eines der klassischen global public goods – eine Voraussetzung ebenso von Freiheit wie von demokratisch verhandelter Gleichheit. Damit verbiete sich im Grunde jede Privatisierung von Bildungsinhalten. Die bisher noch kleine Open-Science-Bewegung trete dafür ein, dass zumindest die Forschenden, also alle, die über das erforderliche fachspezifische know how verfügen, einander ihre Forschungsresultate, einschliesslich der zugrunde liegenden Messdaten zur Verfügung stellen.7
Fazit des Autors: «Das Bildungswesen stellt eine wesentliche Voraussetzung für das Funktionieren der Wirtschaft dar. Gleichzeitig ist das Bildungswesen gegenüber der marktwirtschaftlichen Logik aber auch besonders exponiert und für ihre Einflüsse besonders empfänglich. Es ist deshalb für eine Vielzahl von Pervertierungen anfällig, die man sich erst einmal klar machen muss, wenn man wirksam gegen sie vorgehen will.»
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Zur vollständigen Analyse von Thomas Kesselring HIER.
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Charta zur Regulierung von gesponsertem Schulmaterial
Unternehmen stellen unteren Schulstufen in der Schweiz kostenloses Schulmaterial zur Verfügung. Siemens zum Beispiel Kabel, Klemmen und Batterien. Die Anleitungen tragen das Logo von Siemens. Material zur gesunden Ernährung tragen das Logo von Aldi. Der «Dachverband Lehrerinnen und Lehrer Schweiz» will in einer Charta Firmen-Logos auf Schulmaterial nicht verbieten, aber regeln. Die gebotenen Inhalte sollen einer Prüfung standhalten. Trotzdem haben viele private Anbieter von Schulmaterial die Charta bisher nicht unterzeichnet. Die Konsumenten-Zeitschrift «Saldo» hat am 1. Februar 2017 darüber berichtet.
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FUSSNOTEN
1 «Nationale Sonderregeln, Qualitäts- und Qualifikationsnormen, Zugangsbeschränkungen» usw. «gelten (…) als Hindernis für die globale Selbstregulierung der Märkte.» (Flitner 2006, 256).
2 In der Schweiz finanzieren sich die ETHs und Universitäten zu 86% aus öffentlichen Geldern und studentischen Beiträgen. Von Privaten stammen lediglich im Durchschnitt 14%, die allerdings sehr ungleich über die Hochschulen verteilt sind: Bei der Uni St.Gallen sind es 40%, bei der Uni Luzern 7%. Die beiden ETHs liegen mit 7,6 und 8,5% nicht viel höher.
3 Vgl. dazu die reichhaltige Dokumentation über Deutschland und die Schweiz im Infosperber vom 17.08.2016. Bekannteste Beispiele in der Schweiz sind die Spende von 100 Mio Franken an die Uni Zürich für ein «UBS Center for Economics in Society» und ein Nestlé-Lehrstuhl an der EPUL. Vgl. auch die Website v. Marcel Hänggi.
4 Wenn sich die Sponsorfirma ein Mitsprache- bzw. Mitentscheidungsrecht sichert, fällt es den betroffenen Universitäten oft nicht ganz leicht, dies zuzugeben. Die UBS beispielsweise setzte einen eigenen Verwaltungsrat in den Beirat des universitären Department of Economics. (Matthias Daum: Die gekaufte Uni. «Die Zeit» 49, 28.11.2013, S.13.) Peter Ulrich und Marc Chesney machen Vorschläge, wie die Situation entschärft werden könnte (Ulrich/Chesney 2014).
5 Zu den betreffenden Unternehmen zählen u.a. Exxon Mobile, Philipp Morris sowie Rüstungskonzerne. (Caterina Lobenstein: Erste Stunde: Lobbykunde. «Die Zeit» 48, 21.11.2013, S.97.)
6 Auf der Homepage der meisten dieser Universitäten finden sich Angaben über Budgets und z.T. auch über Stiftungsgelder.
7 Dies das Schwerpunktthema von «Horizonte». Das Schweizer Forschungsmagazin Nr. 110, Sept. 2016, S.12-23.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Red. Der Autor war bis 2013 Professor an der Pädagogischen Hochschule Bern und bis 2015 Dozent an der Pädagogischen Universität von Mosambik.
Danke herzlich für diesen enorm wichtigen Beitrag! Gerne habe ich eben einen Hinweis auf diesen Beitrag auf unserem Blog auf adminus.ch ergänzt. Zwei weiterführende Überlegungen:
Hinweis 1: Der «Utilitarismus» ist eine bestimmte Richtung der Ethik. Sie misst alles daran, wie viel es zum Glück des Menschen bzw. der Menschheit beiträgt. Eine utilitaristische Bildung wäre daher wohl eher gegen den Einfluss grosser Firmen bzw. reicher Einzelpersonen auf das Bildungssystem. Denn ein freies Bildungssystem macht glücklicher als ein für Geld-Interessen Reicher abgezwecktes. Darum: Bitte die Bildung zum Thema «Utilitarismus» nachholen! (https://de.wikipedia.org/wiki/Utilitarismus gibt einen guten ersten Einblick.)
Hinweis 2: Es ist wichtig, dass die Politik die Freiheit der Bildung eintreten, aber auch Schulen, Universitäten und andere Bildungsinstitutionen selbst. Und es gibt auch noch uns! Was können wir als Lehrpersonen, Dozierende, Professorinnen einzeln oder gemeinsam tun? Damit befassen wir uns am After-Work-Event «Keimkraft im Bildungssystem» am 12. April von 17 bis 19 Uhr in Luzern. Mehr auf http://www.agiledidaktik.ch . Herzlich eingeladen!