lehrerin

Der Lehrkräftemangel ist eigentlich ein Unterrichtsqualitätsproblem. Dies zeigte die SRF Tagesschau bereits letzten Sommer. © SRF Tagesschau

Bündner Volksschulamt verschleiert Lehrkräftemangel

Pascal Sigg /  «Falsch und gefährlich», findet die oberste Lehrerin. Denn tatsächlich sind immer weniger Bündner Lehrpersonen voll qualifiziert.

Im Kanton Graubünden beginnt am Montag das neue Schuljahr – und alles ist bestens. Aus Behördensicht könne man im Kanton Graubünden nicht von einem Lehrpersonenmangel sprechen. Dies sagte Corinne Grieder vom Amt für Volksschule und Sport (AVS) am vergangenen Montag in den Zeitungen «Südostschweiz» und «Bündner Tagblatt» (Paywall).

Der Grund fürs behördliche Aufatmen: Nur noch drei Stellen seien unbesetzt – insgesamt knapp 100 Stellenprozente. Allerdings sei die Rekrutierung punktuell schon herausfordernder geworden. Die Zeitungen übertitelten ihre «Analyse» gross mit einer Entwarnung: «In Graubünden hat es genug Lehrpersonen – bis jetzt.»

«Diese Aussage ist bei genauerer Betrachtung falsch. Zudem ist sie gefährlich, weil sie vermittelt, es bestehe kein Handlungsbedarf.» Dies schreibt Nora Kaiser, Präsidentin des Verbands Lehrpersonen Graubünden (Legr), auf Infosperber-Anfrage.

Der mediale Fokus auf die einzige schnell verfügbare Zahl – diejenige der offenen Stellenprozente – verstellt nämlich den Blick auf das grössere Problem. Der Lehrkräftemangel führt dazu, dass immer mehr Schulunterricht von ungenügend ausgebildeten Personen erteilt wird.

Statistik zeigt Tendenz: Immer mehr sind ungenügend ausgebildet

Davon ist auch der Kanton Graubünden immer stärker betroffen. Dies zeigt die Erfassung des Ausbildungsgrads des Schweizer Schulpersonals (Ausbildungssgrad in Tabelle T9 der Excel-Datei), welche das Bundesamt für Statistik (BfS) alljährlich vornimmt. Es erhebt seit 2010, wie viele Lehrpersonen – in Vollzeitäquivalenten – voll für den Beruf qualifiziert sind und wie viele nicht (Infosperber berichtete ausführlich).

Das Problem der Statistik: Sie ist nicht besonders attraktiv für mediale Berichterstattung, weil sie nie die aktuelle Situation abbildet. Sie wird nämlich immer erst mehr als ein halbes Jahr nach Ablauf des entsprechenden Schuljahres veröffentlicht. Über die Situation von nächster Woche im Bündnerland werden wir also erst in eineinhalb Jahren Zahlen haben. Immerhin kann sie aber einen Trend zeigen.

Im Bündnerland sieht es gemäss Statistik so aus: Auf Primarstufe 1 – 2, also im Kindergarten, nimmt der Anteil nicht voll qualifizierter Lehrpersonen seit Jahren leicht zu. Im Schuljahr 2018/19 lag er noch bei 0.9 Prozent. Die aktuellsten Zahlen aus dem Schuljahr 2021/22 weisen 3 Prozent aus. Auf Primarstufe 3–8, also in den 1. bis 6. Klassen, blieb der Anteil ungenügend Ausgebildeter seit 2018 stabil um etwa zweieinhalb Prozent. Hoch sind die Zahlen allerdings auf der Sekundarstufe. Hier waren im vorletzten Schuljahr über 15 Prozent der Lehrpersonen nicht voll qualifiziert. Interkantonale Vergleiche sind unpräzise, weil die Kantone die Zahlen nicht einheitlich erfassen. Der Kanton Bern wies auf dieser Stufe zuletzt aber über 30 Prozent nicht voll qualifizierter Lehrpersonen aus.

Bündner Volksschulamt will keine Auskunft geben

Auf Infosperber-Anfrage geht das Bündner Amt für Volksschule und Sport nicht auf diese Statistik ein und hält an seiner Darstellung fest. Da keine Stellen mehr offen seien, könne nicht von einem Lehrpersonenmangel gesprochen werden. Fast alle Personen, welche im Kanton Graubünden unterrichten, würden über eine pädagogische Ausbildung verfügen. Zudem müssten Lehrpersonen, die nicht für die entsprechende Stufe ausgebildet sind (zum Beispiel Primarlehrperson auf Sekundarstufe), beim AVS eine Lehrbewilligung beantragen.

Infosperber wollte vom AVS deshalb wissen: Wie viele Lehrbewilligungen hat das Amt denn fürs kommende Schuljahr ausgestellt?

Das AVS antwortete: «Wir können zu der Anzahl ausgestellten Lehrbewilligungen keine weiteren Angaben machen.»

Mangelnde Qualifikation schwächt Unterricht

Nora Kaiser vom Legr kritisiert gegenüber Infosperber: «Die Tendenz, dass immer mehr Lehrpersonen ungenügend ausgebildet sind, gefährdet die Unterrichtsqualität, das Klima in den Lehrpersonenteams und sie kann zu Frustration führen, wenn Lehrpersonen aufgrund der fehlenden Qualifikation nicht entsprechend ihres Aufgabenbereichs entlöhnt werden.» Besonders virulent sei dies in den romanischen Sprachgebieten. «Wenn Lehrpersonen das örtliche Idiom nicht beherrschen oder ihnen die pädagogische Ausbildung fehlt, leidet die Unterrichtsqualität», so Kaiser.

Hinzu käme ein weiteres Problem, das sich statistisch schlechter festhalten lasse: Viele Lehrpersonen arbeiteten weit über dem eigentlich gewünschten Pensum. Schulleitungen würden sie überreden, das Pensum zu erhöhen, um das Team nicht im Stich zu lassen. Vielen ungenügend qualifizierten Lehrpersonen fehle dadurch die Zeit, das nötige Diplom mittels Studium berufsbegleitend zu erwerben. Auch dies könne längerfristig zu Frustration und im schlimmsten Fall dazu führen, dass die Betroffenen den Lehrberuf verlassen.

Medialer Gedächtnisschwund

Dass sich Medien bei der Berichterstattung über den Lehrpersonenmangel unkritisch auf Ämter abstützen, kommt allerdings immer seltener vor. Der Zürcher Unterländer trug kürzlich in einem ausführlichen Artikel (Paywall) zusammen, welche Schulen besonders viele ungenügend Ausgebildete beschäftigen. Bei einer Gemeinde, deren Schulpflege keine Auskunft geben wollte, holte die Journalistin Infos von Eltern ein. SRF Rendez-vous lieferte eine Übersicht über die offenen Stellen in allen Deutschschweizer Kantonen und wies kritisch darauf hin, dass sich der Lehrkräftemangel negativ auf die Unterrichtsqualität auswirkt.

Vielerorts erscheint der Lehrkräftemangel aber weiterhin als Naturgewalt. Ein rein demografisches Problem, zu gross für eine Lösung. Im Kanton Graubünden scheint kurioserweise gar das mediale Kurzzeitgedächtnis betroffen. Noch vor etwas mehr als vier Monaten bezeichneten dieselben Zeitungen, welche heute beruhigen, die Situation im Bündnerland als «prekär». Hauptquelle war allerdings die damalige Präsidentin des Verbands Lehrpersonen Graubünden, Laura Lutz. Einer der Gründe für die Situation war für sie, dass Graubünden die tiefsten Löhne der gesamten Deutschschweiz zahlt. Dies wollen die Lehrpersonen nun über die anstehende Teilrevision des Schulgesetzes ändern.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine
_____________________
Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.

War dieser Artikel nützlich?
Ja:
Nein:


Infosperber gibt es nur dank unbezahlter Arbeit und Spenden.
Spenden kann man bei den Steuern in Abzug bringen.

Direkt mit Twint oder Bank-App



Spenden


Die Redaktion schliesst den Meinungsaustausch automatisch nach drei Tagen oder hat ihn für diesen Artikel gar nicht ermöglicht.
Portrait Pascal.Sigg.X

Pascal Sigg

Pascal Sigg ist Redaktor beim Infosperber und freier Reporter.