Kommentar

Eine gesunde Schule wäre eine andere Schule

Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des AutorsWährend vielen Jahren Lehrer/Leiter Allgemeinbildung und Leiter Gesundheitsförderung an einer Berufsfachschule ©

Jürgmeier /  Die Schule ist ein Gesundheitsrisiko - für LehrerInnen, aber auch für SchülerInnen

Red. «Sind Lehrer ewige Jammeri?», fragt der «Tages-Anzeiger» heute. «Zu wenig Lohn, zu grosse Klassen, zu fordernde Eltern.» Darüber beklagten sich Lehrpersonen häufig und, so Expertinnen, auch zu Recht. Aufgrund einer Studie der Stadt Zürich zur Burnout-Gefahr im Lehrberuf hat sich Jürgmeier am 16. Juni 2014 mit dem Gesundheitsrisiko Schule befasst. Aus aktuellem Anlass stellt «Infosperber» den Beitrag «Eine gesunde Schule wäre eine andere Schule» noch einmal online.

«Selbst Polizisten fühlen sich weniger stark belastet als Lehrkräfte», titelt der «Tages-Anzeiger» am letzten Samstag und zitiert aus einer noch unveröffentlichten Studie der Stadt Zürich. Zwar gehe es vielen LehrerInnen gut, aber: «Mindestens jede zehnte Lehrkraft weist so starke emotionale Erschöpfungszeichen auf, dass das Risiko eines Burn-outs beträchtlich ist. 40 Prozent der befragten rund 1000 Klassenlehrer der Volksschule gaben an, sie seien eher oder stark psychisch belastet.» Die gleichzeitig befragten 11‘000 anderen Verwaltungsangestellten, PolizistInnen und medizinisches Pflegepersonal inklusive, fühlten sich «im Durchschnitt weniger ausgelaugt als die Lehrer», kommentiert der Leiter der Studie Daniel Frey die Ergebnisse. Das sind keine grundsätzlich neuen Erkenntnisse, ähnliche Untersuchungen im In- und Ausland ergaben eine Burn-out-Rate von 10-30 Prozent bei Lehrpersonen und einen überdurchschnittlichen Anteil an Frühpensionierungen.

«Schule gefährdet ihr Gesundheit»

Heisst es auf Tassen, Schildern, T-Shirts, Mützen und Socken, die im Internet zum Verkauf angeboten werden, in Anlehnung an die bekannten Warnungen für Raucherwaren, natürlich just for fun. Aber der Spass weist nicht selten auf ein reales Spannungsfeld zurück. Der Schweizerische Lehrerverband LCH will es jetzt genau wissen und in einer eigenen Studie abklären, was es für die Gesundheit einer Lehrperson bedeute, «wenn diese in einem zu kleinen Schulzimmer, bei schlechter Luft und hoher Lärmbelastung täglich mehrere Stunden präsent sein muss». Da gäbe es allerdings Berufe und Arbeitssituationen, deren Erforschung in diesem Punkt, vermutlich, noch beklemmendere Resultate ergäben. Und vor allem stellt sich die Frage nicht nur für LehrerInnen, sondern ebenso sehr für SchülerInnen, die im gleichen Raum etwas lernen sollen.
Während auf der einen Seite die «Kuschelschule» beklagt und (wieder mehr) Leistung verlangt wird, steigt auf der anderen Seite die Zahl der Kinder beziehungsweise Jugendlichen, denen Ritalin sowie andere chemische, homöopathische und therapeutische Mittelchen verschrieben werden, damit sie im Bewertungs- und Entwertungskontext Schule überleben. «Viele unserer Freunde sind genervt vom Lernen, haben Bauchschmerzen und freuen sich über jede Stunde, in der sie keinen Unterricht haben. Sitzen heulend vor Hausaufgaben und haben deswegen Streit mit ihren Eltern. Kriegen komische Krankheiten, richtig gruseliges Zeug.» Zitiert der «Stern» im Mai 2013 eine Schülerin aus Berlin, die am Projekt «Lernlust statt Schulfrust» beteiligt ist. Eine Woche vorher stellt der «Spiegel» fest, ein Viertel der Zweit- und Drittklässler fühle sich oft sehr gestresst, und der wichtigste Stressfaktor sei die Schule. Jürg Jegge hat in seinem Buch «Fix und fertig» schon 2009 klar gemacht, dass das kein deutsches Phänomen ist. «Es sind», schreibt er angesichts der Zahlen von Lernenden, die mit sonderpädagogischen Massnahmen, Therapien oder klassischer Nachhilfe unterstützt werden, «nur noch 40%, welche die Schule problemlos durchlaufen. Damit sind Schulschwierigkeiten kein Minderheitenproblem mehr.»
Und, ganz ehrlich, wenn Sie an die prall gefüllten Lehrpläne und komplexen Zielkataloge denken; wenn Sie sich diese gewaltigen Stoffmengen einmal ganz konkret vorstellen, die von Lehrenden und Lernenden bewältigt werden sollen, damit Letztere fit für die Arbeitswelt werden, an die eng gestuhlten und durchnormierten Schulzimmer, die ausgeklügelten und die Tage in fixe Einheiten pressenden Stundenpläne; all das vor Augen – würden Sie unter solchen Bedingungen die Quantenhypothese von Max Planck begreifen oder einen dialektischen Aufsatz zum Verhältnis Schweiz-Europa, inklusive kreativer Dramaturgie und origineller Argumentation, schreiben können? Fördert die aktuelle Organisation von Schule tatsächlich physisches, psychisches und soziales Wohlbefinden, wie Gesundheit von der Weltgesundheits-Organisation WHO definiert wird? Und vor allem – finden da wirkliche Lernprozesse statt oder werden sie nur simuliert?

«Schwierige Schüler… fordernde Eltern… Reformen»

Aber zurück zu den Lehrpersonen, von denen laut der Zürcher Studie, jede vierte an «Erschöpfung und Energielosigkeit» leide, während das beim Verwaltungspersonal nur für knapp jede beziehungsweise jeden sechste(n) zutreffe. Eine 2010 vom Magazin «die aktuelle schulpraxis» zitierte Studie von Eberhard Ulich machte im Kanton Basel-Stadt sogar bei jeder dritten Lehrperson «Symptome des Burnoutsyndroms» aus.
«Die Umstände, die Lehrer stark belasten und im Extremfall zum Burn-out führen, sind vielfältige: Schwierige Schüler mit teils sehr unterschiedlichen Fähigkeiten, fordernde Eltern, bürokratische Arbeitslast, zu viele Reformen, Führungsprobleme, Teamkonflikte, fehlende Wertschätzung, hoher Lärmpegel oder schlechte Luftqualität gehören zu den meistgenannten», schreibt Anja Burri im «Tages-Anzeiger». Gründe, die immer wieder genannt werden, wenn es um die Gesundheit von Lehrpersonen geht. «Der Lehrberuf ist belastend – für alle», verallgemeinert Christoph Eichhorn in «die neue schulpraxis».
Eine zentrale, schulspezifische Gesundheitsgefährdung wird – weil so selbstverständlich und scheinbar unveränderbar – nur selten genannt: Die grundsätzlich auf dem Kopf stehende LehrerInnen-SchülerInnen-Beziehung. Überlastung, Selbstzweifel und Erschöpfungsdepression bei den Lehrpersonen einerseits, Desinteresse, Motivationslosigkeit und Angst bei den Schülerinnen andrerseits sind auch die Folge des strukturellen Umstands, dass das Recht auf Bildung den Lernenden mit einem Zwangssystem aus Absenzenkontrollen und Disziplinarmassnahmen verordnet wird. Und wenn es dann mit dem begeisterten Lernen nicht so wirklich klappen will, werden entweder die SchülerInnen als faul oder die LehrerInnen als unfähige «Schlafpillen» abqualifiziert. Aber Lernprozesse funktionieren letztlich nur da, wo das Subjekt des Lernens, die Schülerin oder der Schüler, aktiv lernen will.
Es ist ja gerade der gelangweilte KonsumentInnen-Blick vieler SchülerInnen – die gezwungen werden, eine von anderen definierte Dienstleistung zu beziehen -, der aussichtslose Versuch, jemanden, der oder die sich mit allen Händen und Füssen dagegen wehrt, aufs Matterhorn oder auch nur auf den Etzel zu schleppen, der Lehrpersonen zur Verzweiflung und an andere Ränder treibt.
«Die wenigsten Schüler interessieren sich jedoch dafür, was ihr Lehrer ihnen vermitteln möchte», schreibt die Absolventin des freien Abiturprojekts methodos Alia Ciobanu in ihrem Buch «Revolution im Klassenzimmer», «überall stösst er auf Desinteresse. Seine Aufgabe besteht daher weniger darin, den Schülern bei ihrem Lernprozess zu helfen, als vielmehr darin, sie permanent zu motivieren, bei Laune zu halten, ‹den Hampelmann zu spielen›…» Die Erstellung der Motivationsbereitschaft der SchülerInnen sei Aufgabe der Lehrperson, formulierte es im «Club» des Schweizer Fernsehens einmal ein Mitglied des Zürcher Bildungsrats und, vermutlich, Offizier. Wenn das nicht zu Überforderungssymptomen führt…

Echte Entlastung von Lehrpersonen

Wenn immer wieder öffentlich diskutiert wird, wie Lehrpersonen entlastet und unterstützt werden könnten – zum Beispiel durch Reduktion von Lektionen und Klassengrössen, Weiterbildung in Humor, Showdidaktik und Life-Work-Balance -, dieser Kern der Verzweiflung bleibt unangetastet. Aber eine gesunde Schule, das wäre eine andere Schule, eine Schule, in der das Undenkbare Realität geworden wäre und sich die SchülerInnen freuten, wenn die LehrerInnen das Zimmer betreten, in der die Hauptpersonen – SchülerInnen und MitarbeiterInnen – sagen könnten: Das ist unsere Schule, das ist ein Stück Heimat für uns.
Eine Schule, in der wirklich gelernt würde, wäre eine Schule, in der das Verhältnis von LehrerInnen und SchülerInnen vom Kopf auf die Füsse gestellt würde, in der das «Ich will lernen» keine Strafaufgabe mehr wäre, sondern einem echten Bedürfnis entspräche, in der dem Lernprozess ein «Ich will» und «Das will ich» der lernenden Person vorausginge. «Bei ‹methodos› wurde das Schüler-Lehrer-Verhältnis nahezu umgekehrt», beschreibt Alia Ciobanu das Freiburger Projekt, in dem sich SchülerInnen ausserhalb der offiziellen Institution Schule in autonomen Lerngruppen auf das Abitur vorbereiten, «Die Schüler suchen die Lehrer selbst aus und stellen sie auch an… Es sind nicht die Lehrer, die etwas von den Schülern verlangen, sondern die Schüler wollen etwas vom Lehrer. Sie wollen lernen und bitten den Lehrer darum, ihnen zu helfen.» Das ist echte Burn-out-Prävention, weil Entlastung der Lehrpersonen, weil den SchülerInnen zugetraut und zugemutet wird, dass sie die Verantwortung für ihren Lernprozess selbst übernehmen.
Und wenn solche Projekte – die es auch in der Schweiz schon gegeben hat – nicht darauf beschränkt blieben, SchülerInnen auf neuen Wegen auf alte Prüfungen für vorgegebene Stoffpläne vorzubereiten, sondern sie auch an Formulierung und Ausgestaltung der Lerninhalte beteiligt würden, wenn der Stoff nicht länger Sache der Lehrpersonen beziehungsweise BildungspolitikerInnen wäre, sondern zum gemeinsamen, ausgehandelten Dritten von Lernenden und Lehrenden würde, dann müssten nicht nur die Burnout-Statistiken von Lehrpersonen umgeschrieben werden.


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6 Meinungen

  • am 16.06.2014 um 16:28 Uhr
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    Eine überdurchschnittliche Belastung geht von Schülern mit Migrationshintergrund aus.

  • am 17.06.2014 um 04:39 Uhr
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    Es kommt mir vor wie eine Farce. In der Schweiz will man keine guten Schulen. Man will brave Arbeiter die funktionieren und Befehlen gehorchen. Unsere Schulen sind Fliessbänder welche mittels Androhung von Belohnung und Bestrafung Kinder fordert statt fördert. Und genau dieses Schema produziert die nötigen Schlechtnotenversager, welche dann später Mülleimer leeren müssen um zu überleben. Ich empfehle allen Kritikern mal das Buch von Marshall Rosenberg zu lesen (Harvard/Dr. Psych.) Titel: Die gewaltfreie Kommunikation, und die Bücher über Non-Violence Schulen. Dann sind alle Fragen in dem Beitrag über Schulen, auch der vom Beobachter vor 1 oder 2 Jahren mit einem mal beantwortet. Das traurige ist, das vermutlich keiner meinem gutgemeinten Rat folgen wird. Ungelöste Probleme sind ja sooo schön, und so gewinnbringend. Amokläufer werden in der Schule konditioniert. Die Gesellschaft wills nicht glauben. Erst wenn noch ein paar hundert mehr gestorben sind, wird vielleicht einer mal diesen Bestseller, welcher die Blutbäder in den Usa beendete, lesen. Gruss Beatus Gubler http://www.streetwork.ch Basel

  • am 22.06.2014 um 16:36 Uhr
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    Zitat: «Untersuchungen im In- und Ausland ergaben eine Burn-out-Rate von 10-30 Prozent bei Lehrpersonen". Diese 10-30 Prozent sind unfähig, Wissen zu vermitteln und müssen aus dem Verkehr gezogen werden. Und zwar schnell.
    Jeder Lehrer glaubt, etwas von Psychologie zu verstehen. Und dies, ohne je Psychologie studiert zu haben. In jedem Lehrerzimmer steckt eine Horde Reformatoren. Anstatt ihren Job richtig zu machen, wähnen sie sich als alleinige Bescheidwisser und Auskenner in Sachen Bildung.

    Die Eltern haben mittlerweile so viel Macht, dass das Lehrersein wirklich anstrengend sein kann. Aber nicht gerade von Burnout sprechen. Da unsere Schülerinnen, aber vor allem unsere Schüler zunehmend ausschliesslich von Lehrerinnen aufs richtige Leben vorbereitet werden, muss man sich nicht wundern, dass vermehrt Memmen in die RS und später ins Berufsleben entlassen werden.

    Lösung:
    Was wir dringend brauchen, ist eine knallharte Selektion der LehrerInnen-Anwärter. Sie müssen physisch und psychisch fit sein und ihren Gesundheits-Check alle fünf Jahre bestehen. Plus Wissensüberprüfung! Einige Semester Psychologie müssen in ihrer Ausbildung mit dabei sein. Und dann alle paar Jahre ein Update, damit unsere Kinder bekommen, wonach sie dürsten! Wissen!
    Dabei sollten sie gut bezahlt werden. Wetten, dass die Schüler vor diesen Autoritäten innert kürzester Zeit wieder Respekt haben und dass der Lehrerberuf wieder gesellschaftlich anerkannt wird? Dazu braucht es keine Reformen. Pädagogen!

  • am 22.06.2014 um 16:45 Uhr
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    @Stiefenhöfer: Genau. Und die Lehrpersonen sollten mindestens mit 3 GHz getaktet sein und im Autopilot fliegen können. Danach zum Elektroschrott.

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