Wie sich die Aufwertung von Gratisarbeit für alle auszahlt
In der Schweiz arbeiten Männer und Frauen in etwa gleich viel, doch die Frauen verdienen 108 Milliarden Franken oder 44 Prozent weniger als die Männer. Mit diesen zwei Zahlen bringt die Gender-Ökonomin Mascha Madörin die Benachteiligung der Frauen in der Arbeitswelt auf den Punkt: An ihnen bleibt die Arbeit hängen, die entweder nicht oder schlecht bezahlt ist.
Wie kommt das? Und wie kann man dieses Marktversagen korrigieren? Mit diesen Fragen befasst sich Madörin seit sie (wie der Autor dieser Zeilen) Ende der 1960er Jahre in Basel Ökonomie studiert hat.
In einem Interview in «Moneta», der Zeitung der Alternativen Bank Schweiz (ABS), sagt sie: «Wir arbeiten an einer Theorie für die Care-Ökonomie als vierten Wirtschaftssektor.» Weil diese Arbeit bisher gratis geleistet wird und deshalb wenig Widerhall findet, fordert sie ein «makroökonomisches Forschungsinstitut zur Care-Ökonomie und ihrer Verzahnung mit den anderen Sektoren.»
Bezahlte und unbezahlte Arbeit verzahnen
Wohlan, verzahnen wir! Finden wir eine Theorie, die erklärt, wie sich bezahlte und unbezahlte Arbeit zueinander verhalten:
Der Zweck beider Arten von Arbeit ist die Befriedigung unserer Bedürfnisse. Der gemeinsame Nenner ist die Zeit. Sowohl bezahlte als auch unbezahlte Arbeit beanspruchen einen Teil unseres auf 24 Stunden pro Tag beschränkten Zeitbudgets. Daraus ergibt sich ein Optimierungsproblem, das eigentlich alle Ökonominnen und Ökonomen faszinieren müsste: Mit welcher Mischung aus bezahlter und unbezahlter Arbeit können wir mit der jeweiligen Produktionstechnologie unsere Bedürfnisse am besten befriedigen beziehungsweise unser Überleben sichern? Zweite Frage: Wie wird die Arbeit auf die Geschlechter verteilt – entsprechen die alten Rollenverteilungen noch den modernen Bedürfnissen?
Diese Fragen wurden deshalb nie gestellt, weil die Ökonomen damals wie heute an allen Fakultäten Wirtschaft mit Markt gleichgesetzt haben. Deshalb kann die Ökonomin Mascha Madörin – genau wie der Autor dieser Zeilen – ein halbes Jahrhundert nach dem Studium sagen: «Ich bin jetzt 73, und bei gewissen Fragen denke ich: Verdammt noch mal, warum habe ich mir das bis jetzt nie überlegt?»
Optimaler Mix von Eigen-, Staats- und Marktwirtschaft
Jetzt denke ich darüber nach und komme zu folgenden Erkenntnissen:
Um zu überleben und seine Bedürfnisse zu decken, muss der Mensch seine produktiven Tätigkeiten sozial koordinieren. Er hat dazu drei Möglichkeiten: Zunächst die Eigenbedarfswirtschaft, also die geldlose Arbeits- und Beuteteilung in Gruppen bis etwa 500 Personen. Die (sehr beschränkte) Arbeitsteilung wird überwiegend durch Alter und Geschlecht bestimmt. Zweitens die Staatswirtschaft, bei der grössere Gruppen öffentliche Güter (Strassen, Heere, Verwaltung etc.) mit staatlichem Geld finanzieren, um so die Bedürfnisse der eigenen Gruppe zu befriedigen. Drittens die Marktwirtschaft, wo wir Private Güter und Dienste gegen Geld austauschen.
Gesucht ist nun der optimale Mix der drei Grundformen. Das Kriterium kann nicht das Marktergebnis (etwa der Beitrag zum Bruttoinlandprodukt) sein, sondern das langfristige Überleben der Gemeinschaft. Um dieses zu sichern, muss eine Wirtschaftsordnung drei Aufgaben lösen: Erstens Bedürfnisse erkennen. Zweitens produktive Tätigkeiten organisieren. Drittens Beute verteilen.
In Punkt 1 hat die Eigenbedarfswirtschaft klare Vorteile, weil hier die Gemeinschaft unmittelbar auf die eigenen Bedürfnisse reagiert. Die Evolution hat unser Gehirn darauf programmiert, Bedürfnisse zu erkennen und (mit der Hilfe von Glückshormonen) entsprechende Handlungen auszulösen. Der Markt hingegen reagiert nicht auf die menschlichen Bedürfnisse, sondern auf die monetäre Nachfrage Fremder; er wird nicht von Signalen aus der realen Welt gesteuert, sondern von solchen, die er selbst – oft mit viel Aufwand – generiert hat. Da ist die Gefahr von Fehlanreizen riesig.
Auch die Staatswirtschaft ist von falschen Anreizen nicht gefeit. Die NZZ spricht in diesem Zusammenhang gerne von «Begehrlichkeiten». Dahinter steckt der Glaube (fast) aller Ökonomen, der Markt wisse am besten, was uns frommt. wisse, was wir wirklich brauchen (August Friedrich von Hayek, «der Wettbewerb als Entdeckungsverfahren»).
In Punkt 2, der Organisation von produktiven Tätigkeiten, hat der Markt grosse Vorteile. Er ermöglicht eine weit gehende Arbeitsteilung und Spezialisierung, und er kann Ungeeignete aus der Produktionsgemeinschaft ausschliessen und so Wettbewerbsdruck erzeugen. Das hat unseren materiellen Wohlstand auf ein Niveau erhöht, das für unsere Vorfahren undenkbar war.
Doch je produktiver eine Marktwirtschaft produziert, desto kleiner wird der Nutzen zusätzlicher Effizienzgewinne; dies vor allem, wenn diese mit monotonen Arbeitsabläufen, strenger Überwachung, hohen Flexibilitäts- und Mobilitätserfordernissen und mit Arbeitslosigkeit erkauft wird. Der Nutzen des Marktes wird auch deshalb stark überschätzt, weil unsere auf den Markt fixierten Ökonomen und Ökonominnen Aufwand und Ertrag nicht unterscheiden können. Sie zählen einfach alle Kosten des Marktes (Werbung, Kontrolle, Finanzsystem, Transport, etc.) zum Bruttoinlandprodukt (BIP) dazu.
In Punkt 3, der Beuteverteilung, liegen die Vorteile klar bei der Eigenbedarfs- und bei der Staatswirtschaft. Sie verteilen die Beute nach Bedarf, nämlich so, dass alle überleben können und der soziale Frieden gewahrt bleibt. Die Marktwirtschaft hingegen verteilt die Ansprüche auf die käuflichen Güter extrem einseitig. Sogar im (relativ zu anderen Ländern) egalitären Deutschland entfallen nur gut fünf Prozent aller Markteinkommen (vor Steuern, ohne Staatsrenten etc.) auf das ärmste Drittel der Haushalte. Durch die staatliche Umverteilung mittels Steuern und Sozialleistungen wird dieser Anteil immerhin gut verdreifacht. Trotzdem ist die Lebenserwartung der Unterschicht rund zehn Jahre tiefer als die des reichsten Fünftels.
Umverteilung Richtung unbezahlte Eigenarbeit
Wenn man erst einmal begriffen hat, dass der Markt sehr teuer sein kann, ahnt man, dass wir unsere Bedürfnisse viel effizienter befriedigen könnten, wenn wir vermehrt auf unbezahlte Arbeit setzten. Maynard Keynes hat sich mit seiner Prophezeiung, dass seine Enkel wegen der steigenden Produktivität nur noch 15 Stunden pro Woche arbeiten müssen, vermutlich nur aus zwei Gründen geirrt: Erstens weil er nicht ahnen konnte, dass wir heute einen grossen Teil der bezahlten Arbeit darauf verschwenden, die zunehmende Komplexität des Markes und seine Umweltschäden zu bewältigen. Zweitens weil wir versuchen, Arbeitslosigkeit dadurch zu vermeiden, dass wir die Arbeit verbilligen und unbezahlte Arbeit durch bezahlte ersetzen.
Zumindest für Deutschland ist diese Rechnung nur teilweise aufgegangen: Die Produktivität stieg zwar von 1992 bis 2013 um 34 Prozent. Die bezahlte Arbeit pro Kopf nahm ebenfalls zu, aber nur um sechs Prozent, während die unbezahlte Arbeit um 14 Prozent schrumpfte. Das Statistikamt erklärt dies erstens damit, dass Hausarbeit durch die «Inanspruchnahme von externen Dienstleistungen wie Haushaltshilfen oder Betreuungseinrichtungen» und durch den «Einsatz vorgefertigter Nahrungsmittel substituiert» worden sei. Zweitens ist die Zahl der Kinder unter 12 Jahren von 10,6 auf 8,3 Millionen geschrumpft – was die Arbeitslast verringert habe.
Für die Frauen war diese Entwicklung insofern vorteilhaft, als ihre Erwerbsbeteiligung im Zeitraum 1992 bis 2015 von 56 auf 69 Prozent stieg, während ihre Beanspruchung durch unbezahlte Arbeit von fünf auf vier Stunden sank. Nach wie vor klaffen aber die Erwerbseinkommen von Frauen und Männern in Deutschland fast genau so weit auseinander wie in der Schweiz. Auch sind Frauen überdurchschnittlich oft in prekären, stark reglementierten Arbeitsverhältnissen gefangen. Was alles in allem zeigt: Der Versuch, Arbeitslosigkeit durch die Umwandlung von unbezahlter in bezahlte Arbeit zu vermeiden, erweist sich als Fehlentwicklung.
Mit Planung lokales Arbeiten erleichtern
Um diese Entwicklung rückgängig zu machen, muss man an verschiedenen Stellschrauben drehen: Arbeitszeiten vermindern, Zumutbarkeitsbedingungen für Arbeit schaffen, Mindestlöhne einführen, etc. Noch wichtiger sind aber raumplanerische und städtebauliche Massnahmen, die unbezahlte Arbeit erleichtern. Denn unbezahlte Arbeit gedeiht nur in räumlicher und sozialer Nähe. Dazu braucht es Nachbarschaften, in denen Menschen auf engem Raum leben und mit ihrer Arbeit einen grossen Teil der Grundbedürfnisse decken können. Solche Modelle gibt es. In der Broschüre «zusammen arbeiten» (Edition Volles Haus) haben Fred Frohofer und ich abzuschätzen versucht, was dies für einen Haushalt mit zwei jungen Kindern bedeuten könnte. Das sind die Grössenordnungen:
Gesamte Arbeitszeit sinkt um einen Viertel
Die nötige bezahlte Arbeitszeit pro Elternteil sinkt von 28 auf 20 Stunden. Die gesamte Arbeitsbelastung (bezahlte plus unbezahlte Arbeit) nimmt um gut 20 auf 64 Wochenstunden ab. Der grösste Teil der Zeitersparnis entfällt auf die Wegezeiten und die für die Finanzierung der Mobilität nötige Arbeitszeit.
Etwa 1,5 bezahlte Arbeitsstunden fallen innerhalb der Nachbarschaft an, beziehungsweise werden von den Nachbarn bezahlt. 2,5 bis 3 Stunden bezahlte Arbeit werden durch Gratisarbeit für die Gemeinschaft ersetzt. Eltern mit jungen Kindern werden durch Rentner und Kinderlose entlastet. Es findet ein Ausgleich zwischen den Generationen statt.
Arbeit teilen – Genderfrage bleibt
Doch auch in einer gut organisierten Wirtschaft sind alle auf ein externes Geldeinkommen, respektive auf bezahlte Arbeit angewiesen. Da diese insgesamt stark schrumpft, wird deren Verteilung vielleicht noch schwieriger. Im obigen Rechenbeispiel haben wir dieses Problem mit der Annahme gelöst, dass beide Elternteile je rund 20 Stunden arbeiten und sich die Hausarbeit aufteilen. Das wäre der Idealfall, der sich aber nicht automatisch einstellt. Für die Arbeitgeber ist eine Arbeitskraft zu 40 Stunden praktischer als deren zwei zu 20 Stunden; das gilt von allem für gut ausgebildetes, teures Personal. Die Lohneinkommen könnten also weiterhin sehr ungleich verteilt werden.
Auch bei einem optimierten Mix von bezahlter und unbezahlter Arbeit stellt sich deshalb die Gender-Frage: Es darf nicht sein, dass die Frauen nur über ihre Ehemänner und Familien Zugang zu einem ausreichenden Geldeinkommen haben. Selbst wenn sich das Prinzip gleicher Lohn für gleiche Arbeit durchsetzt, kann es weiterhin geschlechtsbedingte Unterschiede in den Arbeitspensen und beim Zugang zu gut bezahlter Arbeit geben. Deshalb braucht es Systeme der sozialen Sicherheit, die wie etwa die staatliche Altersvorsorge AHV nicht bloss von Lohneinkommen abhängen.
Darüber hinaus könnte es sinnvoll sein, dass der Staat den Frauen einen Lohn für die Betreuung und Pflege von Kindern und Kranken zahlt, wie das Mascha Madoerin fordert. Aus rein marktwirtschaftlicher Sicht ist diese Forderung zwar systemwidrig: Warum sollte der Staat dafür aufkommen, dass jemand die eigenen Kinder aufzieht oder die eigenen Eltern pflegt?
Doch wenn man die Wirtschaft aus der evolutionären Optik sieht, hat der Vorschlag einiges für sich: Wenn die Frauen bei der Beuteteilung leer ausgegangen wären, nur weil sie Erziehungs- und Pflegearbeit geleistet haben, statt sich an der Jagd zu beteiligen, hätten wir heute keine Genderdebatte. Wir wären längst ausgestorben.
Quellen:
– Mascha Madorin: «Es wäre ein riesiger Befreiungsschlag»
– Fred Frohofer und Werner Vontobel: «Zusammen haushalten – Warum es vorteilhaft ist, in Nachbarschaften zu leben.» Edition Volles Haus, März 2019
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
keine
Diese wie auch andere Ungerechtigkeiten wollten wir mit der Initiative Grundeinkommen lösen. Bei einem neuen Anlauf wäre eine Diskussion zu diesem Thema angebracht. Wir müssten lediglich das Wort «bedingungslos» streichen und vor allem unbezahlte Arbeit mit einem angemessenen Grundeinkommen honorieren.
Wer soll denn das alles messen, bewerten und auszahlen. Die Gefahr eines riesigen Verwaltungsapparates wäre greifbar.
Warum nicht einfach über ein Bedingungsloses Grundeinkommen den Ausgleich schaffen? Administrativ ist das bGE simpel einfach und und jeder hat die Freiheit (und Verantwortung), damit zu machen was er für richtig hält.
Lieber Herr Vontobel,
Sehr schöne Zusammenstellung der grundsätzlichen Fragestellungen. Besten Dank.
Ich habe vor Jahren in einem vorwiegend auf Subsistenzwirtschaft basierten Land in Afrika Ökonomie unterrichtet und dabei diese Dichotomie der monetarisierten vs nicht-monetären Wirtschaft hautnah miterlebt.
Von besonderem Interesse war dabei, dass viele Leute «bezahlte» Arbeit nur aufnahmen, wenn sie ein «geldwertes» Bedürfnis hatten. In den Tee-Plantagen gab es in der Trockenzeit sehr viel mehr «Arbeitssuchende» als in den kühleren Zeiten, wenn der Wunsch nach industriell hergestelltem Bier kleiner war. Ich hatte damals sogar den Bierkonsum als Indikator ökonomischer Konjunkturentwicklung konstruiert, Papier, welches auch in Genf (HEI) auf grosses Interesse stiess.
Jetzt bin ich pensioniert und zurück in der «informellen» geldlosen Ökonomie. In der Tat schreibe ich weiter jeden Monat ein Papier zu aktuellen Wirtschafts- bzw. Sozialversicherungsfragen. Der einzige Unterschied zu meiner früheren beruflichen Tätigkeit ist, dass ich für meine Arbeit nicht mehr bezahlt werde, als für übliche statistische Ämter in der Versenkung verschwunden bin.
Was die «Beuteverteilung» betrifft, kann ich es mir immerhin leisten, diese Papiere auch zum Nulltarif an die Gesellschaft abzugeben.
Mit freundlichen Grüssen, Josef Hunkeler
Interessanter Titel:
Sollen Frauen für Hausarbeit bezahlt werden?
Und was ist mit den Männern? Da könnte man und frau ja auf die Idee kommen, dass der Autor (Werner – nehme ich an, ist ein Mann) sich offensichtlich nie an der Hausarbeit beteiligt. Interessant!
Ausserdem wird mit dem Titel die irrige Meinung zementiert, dass Hausarbeit = Frauenarbeit sei.