EU will Abgewiesene in griechische Lager entsorgen
Red. Ohne Griechenland lässt sich der Flüchtlingsstrom nach Westeuropa kaum bremsen. Doch Athen befürchtet, dass «Hot Spots» an der Schengengrenze, im Klartext bewachte Lager, unzählige Flüchtlinge versorgen sollen, denen das Recht auf Asyl verweigert wird. Autor Georg Brzoska arbeitet für das Bündnis Griechenlandsolidarität Berlin und hat diesen Beitrag aus Anlass des EU-Sondergipfels vom 25.10.2015 verfasst.
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Iraker und Afghanen haben in Deutschland keine Chance
Im Jahr 2015 flüchteten bisher rund 500’000 Menschen über Griechenland in die EU. Dabei handelt es sich nicht nur um in Deutschland offiziell als Kriegsflüchtlinge anerkannte Syrer, sondern u.a. auch um Iraker und Afghanen, die nicht damit rechnen können, in Deutschland Asyl zu bekommen. Allein in der Woche vom 16. bis 21. Oktober 2015 erreichten 48’000 Menschen über die griechischen Inseln die EU, davon 27’276 über die Insel Lesbos (1).
Die ökonomische Notlage weiter Teile der griechischen Unter- und Mittelschicht sowie die Auswirkungen der Austeritätspolitik sind in den Medien zu einer Randnotiz geworden. Doch weil sich das «Flüchtlingsproblem» verschärft, kommt auch Griechenland wieder in den Diskurs. Denn Griechenland steht im Mittelpunkt der europäischen Strategie des Regimes, das die Migration regeln soll: Griechenland hat in diesem Jahr europaweit die grösste Zahl von Flüchtenden aufgenommen.
Griechenland zuerst in die wirtschaftliche Abhängigkeit gebracht
Obwohl die Zahl der Ankünfte von Flüchtlingen auf den griechischen Inseln bereits seit dem Frühjahr 2015 drastisch anstieg, verhielt sich die Regierung Merkel hinsichtlich der Flüchtlingsfrage in der Zeit des offenen Konflikts mit der neuen griechischen Regierung Tsipras und der Verhandlungen über das 3. Austeritäts-Memorandum auffällig ruhig. Zunächst, so scheint es, musste die griechische Regierung auf europäischen Austeritätskurs gebracht und mit der Unterzeichnung des Memorandums in die missliche Lage ökonomischer Abhängigkeit gebracht werden, um letztlich alle wesentlichen Forderungen der Troika bzw. der EU erfüllen zu müssen, darunter auch die Richtlinien hinsichtlich eines effizienter umgesetzten Grenzregimes in der Ägäis.
Einrichtung von Lagern
Dazu gehört in erster Linie die Einrichtung von mindestens fünf sogenannter Hotspots – in Deutschland auch als «Transitzonen» bezeichnet –, welche die Funktion von Erstaufnahme- und Registrierungslagern erfüllen. Neben dem Hotspot Moria auf der Insel Lesbos sollen auf den Ägäisinseln Kos, Leros, Chios und Samos noch im November weitere derartige Einrichtungen fertiggestellt werden (2). Dennoch hat die griechische Regierung bisher keine Finanzierung des hierfür veranschlagten Bedarfs von 480 Millionen Euro erhalten. Das griechische Ministerium für Migrationspolitik betonte am 22.10.2015, dass ihr Betrieb von der Finanzierung der EU abhänge (3).
EU will mit Uno Hoheit über grosse Lager
Ausserdem plant die EU-Kommission die Verlagerung der Hotspots von Kos und Lesbos in ein grosses Lager, das in einer ehemaligen Olympiaanlage Athens eingerichtet und unter Leitung von Frontex sowie dem Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen betrieben werden soll. Im «Tagesspiegel» ist am 24.10.2015 die Rede von einer geplanten Aufnahmekapazität dieses Lagers für 40’000 – 50’000 Flüchtlinge (4), seine Aufgabe soll u.a. darin bestehen, die Flüchtenden effektiver zu registrieren, als es bisher auf den Inseln der Fall war, wo viele der Neuankommenden der Registrierung ausweichen, weil sie kein Vertrauen in die Mechanismen der EU haben oder weil sie ihre Abschiebung fürchten.
Griechische Regierung wehrt sich
Am 25.10.2015 äusserte sich der stellvertretende griechische Minister für Migrationspolitik Giannis Mouzalas zu diesen Plänen und sagte im griechischen Fernsehsender Mega, dass Griechenland keine «Flüchtlingskleinstadt für 50’000 Bewohner» errichten werde. Auch Premierminister Tsipras habe wiederholt gesagt, dass Griechenland sich nicht in ein riesiges Lager für Migranten verwandeln werde, die ihr Ziel nicht erreichten. Solche Pläne würde Griechenland definitiv ablehnen (4).
Grenzen unter europäische Aufsicht
Auch wenn es sich bei der Zahl von 50’000 möglicherweise um ein Drohszenario gegenüber Athen handelt, zeichnet sich bereits ab, dass auf Griechenland verstärkt Druck ausgeübt werden soll, seine Grenzen zukünftig noch mehr als bisher schon unter europäische Aufsicht zu stellen. Als Argument dient auch hier wieder, dass Griechenland nicht in der Lage sei, den Grenzschutz eigenständig zu organisieren. Der Mitarbeiter des Brüsseler ARD-Studios Christian Feld fragte vor dem EU-Sondertreffen in den ARD-Tagesthemen am 24.10.2015, warum Griechenland es nicht schaffe, die Hotspots «schneller in Betrieb zu nehmen» und eventuell «mehr Hilfe in Anspruch nehmen» solle (5).
Griechenland als Auffanglager für Flüchtlinge ohne Asylanspruch
Zweitens schlägt die EU-Kommission in dem Plan eine neue «Operation der EU-Grenzschutzagentur Frontex» an der Landgrenze Griechenlands zur ehemaligen jugoslawischen Republik Makedonien und Albanien vor. Die Frontex soll die MigrantInnen kontrollieren und registrieren, die nicht zuvor schon in Griechenland registriert worden sind (7). Das bedeutet die Einrichtung einer von der Frontex betriebenen Grenzbefestigung, z.B. in Eidomeni, zur möglichst lückenlosen Erfassung der über Griechenland einreisenden Flüchtenden und vermutlich der dort umgehend verhängten Einreiseverbote in die weiteren EU-Staaten.
De facto wird Griechenland damit zu einem riesigen Auffanglager für Flüchtende, denen die Selektionskriterien eine Weiterreise untersagen. Dieser Plan dürfte dem von Merkel während des Kongresses der Europäischen Volkspartei geforderten europäischen Grenzschutz entsprechen (6).
Drei Milliarden auch für Militäreinsätze?
Ihr Besuch am 18. Oktober 2015 in der Türkei ist ebenfalls im Zusammenhang der Planungen für dieses verstärkte Grenzregime zu sehen. Mit Erdogan verhandelte sie über Möglichkeiten zur Sicherung der EU-Aussengrenzen durch die Türkei und damit zum dortigen Verbleib in zu errichtenden Containerlagern von Flüchtenden aus dem Irak, Afghanistan und Syrien. Dafür fordert die Türkei drei Milliarden Euro. Eine gewaltige Summe, die das Ausmass der militärischen Mittel vermuten lässt, welche damit finanziert werden. Denn die Türkei ist selbst Kriegspartei im Syrienkonflikt, und in einem von Korruption geprägten Staat muss davon ausgegangen werden, dass drei Milliarden Euro zu allem Möglichen eingesetzt werden könnten, auch zum Kampf gegen innenpolitische Gegner, Kurden usw. Der zunächst von Deutschland gemachte Vorschlag, die Nato-Länder Türkei und Griechenland sollten die Aufgabe der Grenzkontrollen in der Ägäis gemeinsam übernehmen, wurde immerhin bereits nach Einwänden Griechenlands hinsichtlich der anhaltenden Konflikte mit der Türkei über die Hoheitsgewässer in der Ägäis fallengelassen.
Früheres Olympiagelände voller Flüchtlinge
Bereits seit Anfang Oktober sind Flüchtende in den Olympiaanlagen im Athener Stadtteil Galatsi untergebracht (7). Es ist ein offenes Lager, in dem in mehreren Sporthallen Menschen aus Afghanistan, dem Irak und Syrien leben, die von den griechischen Inseln sowie aus Piräus mit Bussen hierher gebracht werden.
Die griechische Armee versorgt sie mit Nahrung, freiwillige Helfer haben die Organisation des Lagers übernommen. Es gibt einen kleinen Raum, in dem Ärzte in privater Initiative die Flüchtenden medizinisch versorgen, viele Athener bringen zusätzliche Nahrungsmittel und Kleidung. Die Zahl der Flüchtenden bewegt sich in diesen Tagen zwischen 400 und 1200 Menschen.
Syrer willkommen, Afghanen und Iraker nicht
Die Syrer verlassen dabei das Lager schnell wieder, denn sie verfügen häufig über die finanziellen Mittel und glauben, dass sie in Deutschland willkommen sind. Damit entsteht in den Lagern und auf den Routen eine Hierarchisierung von Flüchtenden nach fragwürdigen Kriterien: Alle – Afghanen, Iraker und Syrer – sind von Krieg und Gewalt betroffen, alle entfliehen einer existenziellen Notlage.
Nicht nur von Athener Taxifahrern wird der Verdacht geäussert, dass in Europa «Menschenhandel» betrieben werde, damit in Deutschland die Fabriken mit billigen Arbeitskräften bestückt werden könnten, dann wird das tiefe Misstrauen gegenüber dem europäischen Migrationsregime überdeutlich.
«Entsorgung» des Flüchtlingproblems
Das griechische Magazin «To Pontiki» kritisierte die deutsche Migrationspolitik gegenüber Griechenland am 16. Oktober 2015 als Strategie zur Entsorgung des Flüchtlingsproblems in «Deponien» für die Beherbergung von Menschen in Griechenland. Deutschland benutze seine während der Verhandlungen mit Griechenland im Frühjahr 2015 ausgebaute europäische Hegemonie und die Kontrollfunktion der Troika in Griechenland zur Schaffung eines Kontrollregimes, das aus Lagern, Hotspots und «Deponien» bestehe, um die Flüchtenden «auszusieben» und nur denjenigen die Weiterreise zu ermöglichen, die in Deutschland asylberechtigt sind.
Die Lager in Griechenland im Auge behalten
Angesichts dieser Strategie Deutschlands und der EU, die Flüchtenden in Griechenland und der Türkei dauerhaft zu stoppen und die Not der Menschen damit aus dem Blickfeld Deutschlands zu rücken, besteht eine der Aufgaben der Griechenland-Solidaritätsgruppen darin, die Situation in den Lagern in Griechenland zu thematisieren und in den Fokus des Interesses zu stellen. Auch wenn die Hilfe gegenüber den Flüchtenden, die es bis nach Deutschland geschafft haben, richtig und notwendig ist, so werden sich die Bedingungen in Griechenland für die Flüchtenden weiter verschärfen – ebenso wie für die prekären Unterschichten in der griechischen Gesellschaft. Wenn neben der von der Troika in Griechenland weiter fortgesetzten Kürzungspolitik in diesem Winter massenhaft Zwangsräumungen durchgesetzt werden und die Armut weiter zunimmt, werden davon auch die Flüchtenden in den geplanten Lagern betroffen sein. Es entsteht die triste Situation breiter prekarisierter Massen in den urbanen Zentren Griechenlands.
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(1) Quelle
(2) Quelle
(3) Quelle
(6) Quelle
(7) Ich besuchte das Lager während eines Athenbesuchs Anfang Oktober 
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Dieser (hier leicht gekürzte) Beitrag erschien auf griechenlandsolidarität.
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Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Georg Brzoska arbeitet für das Bündnis Griechenlandsolidarität Berlin.