Industriestaaten: Auf den Knall nicht vorbereitet
Red. Stefan Frey (1952) engagiert sich aktiv in Projekten für Kultur, Umwelt und Entwicklung. Er arbeitete – sowohl in der Schweiz als auch in Madagaskar – während zehn Jahren für den WWF. Seit 2012 ist Frey als Medienarbeiter für die Schweizerische Flüchtlingshilfe tätig. Jetzt beschreibt Frey im Roman «Der Abgang – Bericht aus einer nahen Zeit» wie in der Schweiz eine totalitäre Gesellschaft möglich wird. Das Szenario wirkt düster. Infosperber wollte vom langjährigen Umweltaktivisten wissen, wie er zu seiner Einschätzung kommt.
Vom Umwelt-Lobbyisten zum Romanschreiber. Wie das?
Stefan Frey: Im konkreten Fall wollte ich ein Szenario auflegen und mit einer gewissen Stringenz belegen, dass auch die an sich offene Gesellschaft in der Schweiz Gefahr läuft, totalitären Ansätzen zu erliegen. Ich habe versucht, diese Ansätze zu Ende zu denken. Groteske und Satire sind dabei die wesentlichen Stilmittel.
Während eineinhalb Jahren schrieben Sie an «Der Abgang – Bericht aus einer nahen Zeit». Entstanden ist ein Buch à la Orwells «1984». War das wirklich nötig?
Ja. Ich beobachte und stelle fest: Unser Leben wurde materialisiert und monetarisiert bis ins Detail, Konsum ist Ersatz-Glaube. Wirtschaft und Konsum wurden globalisiert, nicht aber die Solidarität. Wenn nur noch materielle Dinge zählen, schwindet die Menschlichkeit und die Gesellschaft wird anfällig für totalitäre Tendenzen.
Sie malen den Teufel an die Wand.
Die aktuelle Entwicklung gibt mir recht. Im Internet geben die meisten Menschen ihre Privatsphäre vollständig auf. Man denkt, das sei die Freiheit, dabei ist jeder User nur Teil globaler Geschäftsmodelle. Wenn sich die politische Macht mit diesen Monopolen zusammentut, und das ist ein grundlegender Gedanke im Buch, wird es brandgefährlich. Informations-Monopole sind in den Händen von Machthabern Zeitbomben für die Demokratie. Wer nur noch häppchenweise und nach dem Gusto der Mächtigen informiert ist, wird manipulierbar. Ich befürchte, dass das auch in der Schweiz möglich wäre. Das ist die These in meinem Buch.
Die gigantischen Internet-Konzerne bezeichnen Sie in Ihrem Buch als «AGFA-Kartell». Beim Beschrieb der Populisten drängen sich Parallelen zur SVP auf.
Die Geschichte im Buch ist frei erfunden. Die SVP ist für mich nicht wichtig. Was für mich zählt, ist die Methode der Populisten. AGFA steht für Apple-Google-Facebook-Amazon.
Wie sieht diese Methode aus?
Populisten bewirtschaften die Ängste der Menschen und transportieren so mithilfe gleichgeschalteter Medien ihre Botschaften. Interessant sind aber diejenigen, die den Populisten zur Macht verhelfen. Gemässigte Politiker, die fürchten, ihre Brosamen an der Macht zu verlieren, wenn sie nicht auch extrem werden.
Wie beurteilen Sie die aktuelle Lage in der Schweiz?
Ich bin nicht wirklich optimistisch. Wirtschaftlich geht es uns zwar gut, wenn aber die riesigen Schuldenberge, die sich weltweit auch wegen der Geldschöpfung der Banken angehäuft haben, zusammenbrechen, wird es zu einem Erdbeben kommen, das auch die Schweiz erschüttern wird. Auf diesen Krisenfall sind wir nicht vorbereitet, wir haben keine solidarische Gesellschaft als Schutzschild. Wir brauchen ein «Basta-Modell», das das Genug in den Mittelpunkt stellt, den Konsum und die Mär vom ewigen Wachstum bekämpft.
Sie sind ein Träumer.
Die eigentlichen Träumer sind die Wachstums-Apostel. Sie unterliegen dem Irrtum, dass Wachstum der wichtigste Faktor zur Beurteilung einer Gesellschaft ist. Drei Prozent Wirtschaftswachstum bedeuten eine Verdoppelung aller Güter und des dafür notwendigen Rohstoffverbrauchs innert 23 Jahren. Macht Wachstum glücklich? Heute sind wir nicht glücklicher als in der Vergangenheit – obwohl wir den zig-fachen Aufwand betreiben.
Was verstehen Sie unter Wachstum?
Zum Beispiel Wachstum der Bevölkerung. Nehmen wir das Beispiel Afrika. Die Bevölkerung wächst jedes Jahr um rund drei Prozent. Diese Menschen werden in vielen Ländern von Despoten gewalttätig und gegen jedes Menschenrecht regiert. Wir reagieren mit öffentlicher Entwicklungshilfe, bei der jede Investition fehl geht und direkt in die korrupten Systeme fliesst. Die Folge sind Kriege und Flüchtlinge. Dann das Wirtschaftswachstum oder vielmehr der Lebensstil in den reichen Industriestaaten. Eine Folge davon ist der Klimawandel und noch mehr Flüchtlinge, denn die Auswirkungen treffen vor allem arme Länder.
Sie halten die öffentliche Entwicklungshilfe also für gescheitert?
Würde sie funktionieren, müsste es längst rund achtzig Prozent der afrikanischen Bevölkerung besser gehen. Das Paradoxe daran: Es gibt unzählige gute Projekte von NGOs und Privatpersonen. Diese haben allerdings keine Chance, die Makro-Ebene und damit ganze Bevölkerungen zu erreichen. Wir brauchen nicht mehr Entwicklungsgelder, wir müssen diese effizienter einsetzen. Es braucht direkte Investitionen in saubere Organisationen.
Auch die Natur und der Umweltschutz spielen in Ihrem Buch eine Rolle.
Die Klimaerwärmung wird von den Totalitären zuerst geleugnet und dann als Möglichkeit genutzt, die Bevölkerung zu disziplinieren und zu kontrollieren. Das heisst: Reale Probleme werden als Hülle genutzt, um ganz andere Ziele anzustreben.
Sprechen Sie aus Erfahrung? Immerhin arbeiteten Sie während zehn Jahren beim WWF.
Blicke ich auf diese Zeit zurück, habe ich in der Tat den Eindruck, dass wir nichts erreicht haben.
Also sind Sie frustriert, deshalb haben Sie das Buch geschrieben.
Nein. Persönlich durfte ich einige Erfolge feiern, etwa bei meinen Projekten in Madagaskar oder beim «Energiestadt-Label», bei dessen Initiierung ich dabei war. Trotzdem ist mein Fazit düster: Ich sehe die Zubetonierung der Landschaft, den sorglosen Umgang mit dem Verkehr, den Flugverkehr, der stetig zunimmt und doch nicht besteuert wird. Das alles sind Indizien, die zeigen, dass der Umweltschutz in jedem Staat letztendlich nur eine untergeordnete Rolle spielt.
Der Umweltschutz als Farce?
Richtig. Noch in den 80er-Jahren war die Bereitschaft, diese Thematik im Hinblick auf Verhaltensänderungen zu diskutieren, viel grösser. Dann fiel die Berliner Mauer und brachte andere Dynamiken ins Spiel: Der Konsum wurde zur Weltreligion, die Wachstumspolitik wurde zur Globalisierung. Da bleibt kaum Platz für den Schutz der Umwelt. Ausserdem verlor die Umweltbewegung in den 80er-Jahren ihre politischen Köpfe.
Was ist mit der Grünen Partei der Schweiz und den zahlreichen NGOs?
Die Grünen sind viel zu zahm und feiern bereits die kleinsten Zugeständnisse des Systems als Erfolge. Ein Gegenentwurf zum Wachstumsdogma fehlt. Die früher politische Umweltbewegung hat sich in den Bio-Laden verzogen.
Sie kritisieren die aktuelle Umweltpolitik der Schweiz. Der Bundesrat will die Treibhausgasemission der Schweiz bis 2030 um 30 Prozent unter das Niveau von 1990 senken.
Das ist lächerlich. Erneut wird das Problem um Jahrzehnte in die Zukunft verschoben. Politiker gaukeln eine Lösung vor, die Bevölkerung wähnt sich in Sicherheit. Das Problem wurde ja scheinbar angegangen und diskutiert. Eine Lösung werde umgesetzt, heisst es. Wir belügen uns selber. Auch NGOs feiern die marginalen Zielsetzungen des Abkommens als Erfolg. Das ist unverständlich.
Immerhin hat die Schweiz das Pariser Klimaabkommen ratifiziert. Die USA sind erst vor Kurzem mit der Begründung ausgestiegen, das Abkommen sei ungerecht, die Reduktion der Treibhausgase würde zu viel kosten.
Nun, die Schweiz weist die höchste Ölheizungsdichte in Europa auf, die verschwenderischste Automobilflotte und enorm viel Schaden-Potenzial in der Landwirtschaft. Die Schweiz könnte viel mehr machen, als im Abkommen festgelegt wurde. Und zu Trump: Sein Entscheid spielt im Übrigen auch denjenigen in die Hände, die dem Klimawandel kritisch gegenüberstehen und die USA als Vorbild betrachten. In der Schweiz trifft dieses Profil etwa auf SVP-Nationalrat Roger Köppel zu. Bei uns gibt es immerhin noch freie Medien, die dieses Bild widerlegen können. In anderen Ländern werden solche Meinungen nicht gekontert.
Wie passt Donald Trump in Ihr Buch, in Ihr Szenario einer totalitären Gesellschaft?
Er passt gut zur Geschichte, auch wenn er darin keine Rolle spielt. Vielleicht ist Trump, genau wie andere konservative Herrscher mit Hang zum Totalitarismus, für die Menschheit aber auch ein Glücksfall: Die Vernünftigen müssen sich nun zusammenraufen und eine wirksame Gegenbewegung installieren. Auch und vor allem gegen die Mini-Trumps.
Was müsste geschehen, damit Ihr Buch Utopie bleibt?
Wir müssen aufpassen, dass wir nicht die letzten freien Medien verlieren. Wir brauchen differenzierte Informationen. Heute wissen scheinbar alle über alles Bescheid. Und keiner versteht etwas. Es braucht professionelle und unabhängige Berichterstattung, das ist ein wichtiger Eckpfeiler jeder Demokratie. Wir müssen lernen, mit dem Internet richtig umzugehen, ausserdem müssen wir unsere Erkenntnisfähigkeit zurückgewinnen und aus Fehlern lernen. Wir müssen aufhören, mit Scheinlösungen auf Probleme zu reagieren. Ausserdem muss die Weltgemeinschaft zusammenfinden und sich einig werden, dass die Solidarität mit Mensch und Umwelt globalisiert werden muss. Wir brauchen eine demokratische Wirtschaftswelt.
Und die Alternative? Der grosse Knall?
Solange die Ressourcen noch vorhanden sind, funktioniert unser System. Irgendwann werden die Industriegesellschaften aber gezwungen werden, anders zu agieren. Aber dann ist es zu spät für schmerzfreie Lösungen. Das ist die wirkliche Katastrophe: Wir haben in den letzten 40 Jahren den Bremsweg derart verkürzt, dass es nur noch mit einem Knall enden kann.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
keine
Kurswechsel
Wenn Wachstumskurs wir beibehalten,
Kann ’s Glück die Treu uns nicht mehr halten.
Denn wenn wir es nicht fertig bringen,
Der Überlastung zu entrinnen,
So wird im Öko-Weltsystem,
Bald ein Zusammenbruch geschehn.
Wir müssen unsern Schiffskurs schwenken,
Umweltbelastung stark absenken;
Dies gilt für den Pro-Kopf-Verbrauch
Und für die Menschenanzahl auch.
Wenn uns der Kurswechsel gelingt,
Die Öko-Balance Rettung bringt.
Markus Zimmermann-Scheifele
Kastanienbaum, 19. 11. 2007
Guten Tag Herr Frey,
kann mich mit den grossen Linien Ihres Buches identifizieren und interpretiere Ihre Argumente als Hilferuf (den ich im Prinzip teile). So zu sagen als Insider in der Entwicklungszusammenarbeit (30 Jahre, davon 25 in Afrika und davon 15 Jahre in Madagaskar für verschiedne Organisationen) kann ich Ihre pauschale Verurteilung der staatlichen EZ nicht vorbehaltlos teilen. Beispiel Madagaskar (gilt auch für andere Länder Afrikas): um Jahrtausendwende wurde auf der Metaebene über Jahre mit vorwiegend schweizerischer und deutscher Hilfe intensiv an einem neuner Forstgesetzgebung gearbeitet, die sich im wesentlichen an der Mikroebene orientierte. Leider wurden dann die Projekte auf der Mikroebene, da zu teuer, gestrichen, so dass der Vollzug des neuen Forstgesetzes und die entsprechenden, an der Praxis orientierten Vollzugsverordnungen, nicht mehr ausgearbeitet werden konnten. Meiner Meinung nach war das ein sinnvoller Ansatz, der leider an den hohen Kosten und an unserer Ungeduld gescheitert ist. Daraus folgt: staatliche EZ kann was bewirken, wenn langfristiges Engagement gewährleistet wird.
Lieber Herr Besmer
Ich bin selber seit 30 Jahren in Madagaskar tätig, kenne also die von Ihnen beschriebene Situation aus eigener Anschauung. Sie haben recht. Da wurde auf der Gesetzesebene sogar Vorbildliches geleistet. Das Problem war und ist, dass die Durchsetzung eben dieser Gesetze nie wirklich funktioniert hat. Nicht nur wegen der zu hohen Kosten auf der Mikroebene. In einem bilanzierenden DEZA-Bericht zur Entwicklungszusammenarbeit in Madagaskar kommt – etwas verklausuliert – zum Ausdruck, weshalb. Man hat sich – in guter Absicht – fast ausschliesslich auf die technischen Aspekte konzentriert und das politisch-gesellschaftliche Umfeld ausgeblendet. Das hat einer sich inzestuös fortpflanzenden, ebenso korrupten wie dummen, Politikerkaste erlaubt, die bilateralen und multilateralen Entwicklungsgelder jahrzehntelang für eigene Zwecke abzuschöpfen. Immer mit dem Verweis auf die in der Tat vorhandenen Gesetze, die es ja nun umzusetzen gelte. Daran ist beileibe die Schweiz nicht alleine Schuld, und meine pauschale Beurteilung betrifft auch nicht die Schweizer EZA an sich sondern das EZA-System als Ganzes. Alle, wirklich alle, schauten und schauen weg, wenn Milliarden veruntreut werden. 82 Prozent der madagassischen Bevölkerung lebt heute unter der Armutsgrenze. Die logischen Folgen: permanent (zu) hohe Geburtenrate, Umweltzerstörung, Kriminalität, intern Vertriebene. Wäre das Land keine ferne Insel, würden heute mindestens 2 von 22 Millionen Madagassen in Europa anklopfen.
Lieber Herr Fey, teile Ihre Ansicht und besten Dank für die Berichtigung. Mit den besten Grüssen.