Nordirak: «lose-lose»-Situation für den Westen
Der Präsident des nordirakischen autonomen Kurdengebiets (KGR) Masud Barsani hat während einer stürmischen Sitzung des kurdischen Parlaments letztes Wochenende seinen Rücktritt bekanntgegeben. Er wünschte sein Amt über den 1. November hinaus nicht mehr zu verlängern, hiess es in einem Schreiben an die Nationalversammlung, die zum ersten Mal nach 2015 wieder mit allen Fraktionen zusammen tagte. Die nachdrückliche Forderung der zweitgrössten oppositionellen Partei Gorran, «in diesen Zeiten der Ungewissheit und des Chaos eine Regierung der nationalen Rettung» zu bilden, wurde abgelehnt. Das kurdische Parlament, seit Jahrzehnten von Barsanis Demokratischer Partei Kurdistans (KDP) und der Patriotischen Union Kurdistans (PUK) dominiert, beschloss stattdessen, die Regierungsgeschäfte bis zu den nächsten Wahlen nicht mehr zu verändern. Diese sollen womöglich gleichzeitig mit den Wahlen in ganz Irak in acht Monaten stattfinden.
Unbändige Frustration
Eigentlich hätte die Sitzung vom letzten Sonntag in erster Linie abklären sollen, was genau zur Niederlage der nordirakischen Kurden Mitte Oktober geführt hat. Das wären kurdische Politiker ihrer Öffentlichkeit schuldig, die nun verzweifelt zu verstehen versucht, warum sich ihr Leben innert so kurzer Zeit so dramatisch verändert hat. Die Sitzung wurde aber unter Ausschluss der Öffentlichkeit geführt, musste gar mehrmals unterbrochen werden. Zu gross waren die Emotionen im und ausserhalb des Parlaments. Barsani symbolisiere «das Scheitern der kurdischen Politik; er schuldet dem kurdischen Volk eine öffentliche Entschuldigung», forderte noch vor der Sitzung der Gorran-Abgeordnete Raboun Maarouf und nannte den langjährigen Kurdenführer einen «Esel». Aufgebrachte Barsani-Anhänger stürmten daraufhin mit Schlagstöcken das Parlament und suchten mit Gewalt Maarouf zur Rechenschaft zu ziehen. Die Nerven lagen blank im Nordirak.
Barsani meldete sich zu Wort. In einer emotionalen, vom Fernsehen ausgestrahlten Rede an die Nation verteidigte er leidenschaftlich das von ihm initiierte Unabhängigkeitsreferendum. Weil «wir mit Irak in einer Föderation keine wirklichen Partner sein konnten, wollten wir gute Nachbarn werden». Den militärischen Angriff der irakischen Armee und der von Iran unterstützten schiitischen Milizen auf Kirkuk in der Nacht vom 16. Oktober nannte er einen «Akt des Verrats». Ohne die kurdischen Kämpfer der Peshmerga hätten die irakischen Truppen die Stadt Mossul nie von den Dschihadisten des Islamischen Staats (IS) befreien können, führte er aus. Er prangerte an, dass an diesem Akt des Verrats sich auch «kurdische Individuen» beteiligt hätten und meinte Teile der PUK, die gemeinsam mit seiner KDP seit Jahrzehnten die Macht in der Regierung teilen.
Am meisten verwundert zeigte er sich aber über die Reaktion der internationalen Gemeinschaft. Seit 1991 gelten die nordirakischen Kurden als die treuesten Verbündeten des Westens in dieser Region. 2003 kämpften sie gemeinsam mit der westlichen Allianz gegen das Regime von Saddam Hussein und nach 2014 gegen die Dschihadisten des Islamischen Staates (IS). Allein im Krieg gegen den IS bezahlten seine Peshmergas mit 1750 Gefallenen und 10’000 Verwundeten. Als die irakischen Truppen gemeinsam mit ihren iranischen Alliierten in der Nacht auf dem 16. Oktober die Kurden angegriffen und bei diesen Angriffen gar amerikanische Waffen eingesetzt haben, schauten die USA einfach weg. 170’000 neue Vertriebene soll es laut kurdischen Quellen mitterweile geben. Doch auch Europa hat darüber geschwiegen.
Desaströse Fehlkalkulationen
Für den 71-jährigen Kurdenführer stimmte auf einmal die Welt nicht mehr. Noch am 25. September glaubte er sich am Endziel seines politischen Wirkens angelangt. Der Krieg gegen den IS schien in Irak zu Ende zu gehen. Barsani liess ein Referendum zur Unabhängigkeit des nordirakischen autonomen Kurdengebiets durchführen, betrachtete die Eigenständigkeit oder zumindest eine weitgehende Autonomie seines Gebiets als die Belohnung dafür, dass die Kurden bei der Schlacht gegen den IS einen so teuren Blutzoll bezahlt hatten. Mehr als 70 Prozent der nordirakischen Kurden nahmen an der Abstimmung teil und stimmten zu 93 Prozent für die Unabhängigkeit. An 25. September feierten die Kurden, ihre Trikolore überall schwingend, so, als wäre ihr Staat bereits Realität. Dann veränderte sich die Geschichte Nordiraks in einem atemberaubenden Tempo radikal.
Barsanis Kritiker im und ausserhalb des Parlaments warfen ihm vorigen Sonntag vor, seine Macht völlig überschätzt und die Reaktion Bagdads und der Nachbarländer Iran und der Türkei gründlich unterschätzt zu haben. Tatsächlich liess gleich nach dem Referendum Bagdad den Luftraum des autonomen Gebiets sperren und Iran die drei Grenzübergänge zu Nordirak schliessen. Die türkische Armee begann eine Grossoperation direkt am Grenzgebiet. Die «politische und wirtschaftliche Belagerung des Nordiraks läuft in vollem Gang», trommelte die konservative türkische Tageszeitung Hürriyet.
Teheran setzte die Talabani-Familie, die einflussreichste innerhalb der PUK, so unter Druck, bis ein führendes Mitglied der Familie, Bafel Talabani, sowie ein Neffe sich zu einer friedlichen Übergabe Kirkuks überreden liessen. Die Peshmerga der PUK war bis dahin für die Verteidigung der erdölreichen Provinz Kirkuk zuständig. Er habe lediglich ein Abkommen akzeptiert, das eine gemeinsame kurdisch-irakische Verwaltung der umstrittenen Gebiete vorgesehen habe, gab Bafel Talabani später zu. In Wirklichkeit wurden die Kurden aus Kirkuk vertrieben. Der Fall Kirkuks machte den Traum nach einem unabhängigen oder zumindest weitgehend autonomen kurdischen Nordirak auf einen Schlag zunichte. Ohne die Erdöleinnahmen von Kirkuk ist eine autonome Region wirtschaftlich nicht lebensfähig.
In einem waren sich Barsani und seine Kritiker an diesem Sonntag einig: nämlich, dass der Westen, allen voran Amerika, für die von Teheran initiierte «friedliche Übergabe» Kirkuks grünes Licht gegeben habe. Aus Angst, jeden Einfluss in der Region an Iran zu verlieren, hatten Washington und Berlin in der Tat Barsani vor der Abhaltung eines Unabhängigkeitsreferendums abgeraten. Und haben offenbar dem irakischen Regierungschef Haider Al-Abadi den Rücken gestärkt und stillschweigend eine demütigende Niederlage der Kurden hingenommen.
Tatsache ist, dass im Gebiet für den Westen eine perfekte «lose-lose»-Situation entstanden ist: Die Regierung der autonomen Kurdenregion KRG ist schwächer als je zuvor. Noch ist unklar, ob sie überhaupt noch die Kontrolle über den Grenzübergang zur Türkei und jenen zu Syrien behalten kann. Der irakische Regierungschef Haider al-Abadi hat bereits die Rückgabe der Kontrolle sämtlicher Grenzübergänge des Landes gefordert. Anderenfalls droht er, so die letzten Meldungen der kurdischen Agentur «Kurdistan 24», militärisch zu intervenieren. Ohne diese Grenzübergänge wäre das autonome Gebiet aber mittellos und von Bagdads Wohlwollen auf Gedeih und Verderb abhängig, eine Provinz eben, wie es auch während der Ära von Saddam Hussein war. Kommandanten der Peshmerga vor Ort weigern sich, von ihren Positionen abzurücken und schwören, diese bis zuletzt verteidigen zu wollen. Der Nordirak, bis vor wenigen Wochen noch der sicherste Teil des Iraks, könnte sich zu einem Unruheherd für die ganze Region verwandeln.
Der IS ist in Irak und in Syrien geschwächt, wirklich besiegt ist er – wie der Angriff in Manhattan auch zeigt – aber nicht. Ob die USA nach den letzten Tagen auf die Kurden als ihre «treuesten Alliierten im Kampf gegen die Dschihadisten» noch zählen können, dürfte zumindest fraglich sein. Noch ist auch nicht sicher, ob der irakische, inzwischen selbstsichere Regierungschef Al-Abadi mehr Gehör für Washington oder doch für Teheran hat.
Wachsender Einfluss von Russland
Plötzlich nimmt der Einfluss Russlands unter Kurden massiv zu. Hatten Washington und Berlin der KRG-Hauptstadt Erbil klargemacht, dass ihnen die Einheit des Iraks über allem stünde, erklärte Moskau, die Souveränität und Einheit des Iraks sei auch ihm wichtig, dass Russland aber genauso die «nationalen Aspirationen der Kurden respektieren» wolle. Gleichzeitig schloss der russische Erdölriese Rosneft mit Erbil Abkommen in Höhe von 3,5 Milliarden Dollar ab.
Der russische Einfluss nimmt auch aus einem anderen Grund in der Region zu. Hat der Westen nie einen Plan darüber entwickelt, wie die Ordnung im Nahen Osten nach dem IS hätte aussehen können, scheint Moskau diesbezüglich genauere Vorstellungen zu haben. In einem Verfassungsentwurf zum künftigen Syrien, den Russland vor Monaten in Astana unterbreitet hatte, wurde eine regionale Autonomie für die syrischen Kurden vorgesehen. Wie die türkische Tageszeitung Hürriyet gestern Mittwoch schrieb, hat Russland Syriens ethnische Gruppen zu einer Konferenz in Sochi Mitte November eingeladen. In diesem beliebten Urlaubszentrum am Schwarzen Meer sollen sie gemeinsam «Kompromisse für eine politische Lösung» finden. Die syrischen Kurden haben bereits ihre Beteiligung bekanntgemacht – auch sie am Traum nach einer eigenständigen Heimat hängend.
Wie ein roter Faden zieht sich durch die bald 100-jährige Nationalbewegung der Kurden die Frage, wann eigentlich für dieses Volk der 30 Millionen der geeignete Moment komme, damit es Anspruch habe auf eine Selbstbestimmung, in welcher Form auch immer. Seitdem die Grenzziehung 1916 den Lebensraum der Kurden in vier Staaten (Iran, Türkei, Irak und Syrien) geteilt hat, wurde jedenfalls jede ihrer Forderungen nach einer Selbstständigkeit brutal unterdrückt. So war es in den 1920-er Jahren, als ihre unzähligen Aufstände in der Türkei und in Irak von den neuen, selbstherrlichen Staaten blutig niedergeschlagen wurden, so war es auch 1945, als der bislang einzige kurdische Staat Mahabad in Iran nur ein knappes Jahr hat überleben dürfen, so 1975 und schliesslich auch jetzt nach dem letzten Referendum am 25. September. Im Gegensatz zu den Referenden in Katalonien oder etwa in Venedig ging es den Kurden dabei nicht um mehr Macht der Lokalregierung, sondern um das Recht auf einen Ort, wo sie frei von Diskriminierung und Folter, von Vertreibungen und Zerstörungen leben können.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
keine
Bei losen Englischkenntnissen den Titel besser in der eigenen Sprache halten.
Der Verweis auf Manhattan halte ich für einen schlechten Witz. Als ob jemand wüsste, wer hinter diesem Angriff stand. Natürlich ist der IS global nicht besiegt – das wird nie passieren, solange er mit Waffen und Geld unterstützt wird. Das dem leider so ist, das zeigt sich aber eher in Myanmar, auf den Philippinen und in Tadschikistan als in Manhattan, München oder Paris.
Wenn vom «Westen» die Rede ist, dann ist mir nie so recht klar, ob ich als kleiner Schweizer Nobody mit gemeint bin, oder ob es dabei um die westlichen NATO-Staten plus Israel plus den Grosskonzernen geht, welche diese vertreten. Der «Westen» hat über Jahrzehnte den Nahen Osten massiv destabilisiert. Dass sein Einfluss schrumpft, das begrüsse ich als friedliebender Erdenbürger.
Ja, der Einfluss des Irans und Russland in der Region nimmt zu. Das sind auch die Mächte, welche zusammen mit der SAA, mit Hilfe der Hizbollah und der irakischen PMU den IS effektiv und konsequent bekämpfen und zurückdrängen. In Syrien *ist* der IS faktisch erledigt. Und falls sich der Westen nicht wieder einmischt, dann wird dasselbe im Irak passieren.
Übrigens hat sich die KGR Kirkuk erst 2014 unter den Nagel gerissen – zu der Zeit, als der IS Mosul eingenommen hatte und der Irakische Staat beinahe kollabiert wäre – Jahre *nach* dem Ausrufen des nordirakischen autonomen Kurdengebiets. Wem stehen die Erträge aus den Ölfeldern bei Kirkuk zu? Exklusiv dem KRG?
Es gibt im Nahen Osten nicht nur die Kurden, die berechtigte Interessen haben. Der Barsani-Clan hat zu hoch gepokert im Nordirak. Und auch die YPG (unter dem Deckmantel der DSF) hat wohl aufs falsche Pferd gesetzt. Und dass sowohl KRG als auch Rojava unter ethnischen Säuberungen zustande gekommen sind, das darf man auch nicht ausblenden.