Kommentar

kontertext: Geschichten im Journalismus

Ariane Tanner © A.T.

Ariane Tanner /  Die «Republik» hat Lukas Bärfuss eingeladen, einen Essay zum Thema «Storytelling» zu schreiben. Ein paar Gedanken dazu.

Seit Wochen konnte man gespannt darauf sein, auf welche Weise sich das Online-Magazin Republik mit dem Fall Claas Relotius und somit dem (Ver)Fälschen von journalistischen Artikeln auseinandersetzen würde. Ein junges Medium, dessen «Textchef» inzwischen «Head of Storytelling» heisst, das eine ganze Reihe von so genannten Edelfedern aus traditionellen Redaktionen engagierte und sich durch eine hohe Affinität zur «Erzählung» (siehe z.B. Constantin Seibt über die «politische Lüge») auszeichnet, muss spezielle Gedankenarbeit zum Thema Geschichten im Journalismus leisten. Umso mehr, als dass es gilt, eine neue Leserschaft auf formal ungewohnte Weise bei der Stange bzw. dem Smartphone zu halten, wozu es gute Geschichten braucht, die der Abonnent bereit ist zu zahlen und meterweise scrollend zu lesen.
Nun lud die Republik den Schriftsteller und Dramaturgen Lukas Bärfuss ein, zu den «Geschichten» und dem Storytelling einen Essay zu verfassen: «Hört auf mit euren Geschichten!» (Republik, 19.1. 2019) Bärfuss bietet darin viele Einblicke in die Machart und Wirkung von Geschichten, über «die man viel zu wenig» wisse, obschon sie «unsere Kultur, unser Leben, die Art, wie wir die Welt erleben» prägen. Die Kürzestzusammenfassung könnte wie der Lead zum Artikel lauten: «Die Welt besteht aus Tatsachen, nicht aus Geschichten. Aber Geschichten haben Macht – fatale Macht.» Seinen Essay nehme ich hier zum Anlass für ein paar Überlegungen und auch kritische Anmerkungen, weil ich ihn für merkwürdig gefangen halte in einem Gegensatz von «Tatsache – Geschichte».

Eine grundlegende Frage schwebt über der ganzen Debatte rund um die Fälschungen im Journalismus: Wie kann man in Anbetracht von frisierten Reportagen, (fast) frei erfundenem Storytelling, Fake News und Propaganda noch von Wahrheit oder Objektivität sprechen? Die Antwort darauf kann meines Erachtens nicht sein: ‹Tatsachen-allein-sind-wahr›. Es ist aber ebenfalls keine Option, diese Frage mit der These ‹Alles-ist-sowieso-konstruiert› abzutun. Denn wäre alles konstruiert, dann gäbe es keinen Standpunkt mehr, von dem aus man bessere oder schlechtere Argumente für die eine oder andere Geschichte identifizieren kann.
Das Gleiche gilt aber auch für die Einbettung der Tatsachen. Es gibt zwar (historische) Tatsachen, die nicht mehr zur Debatte stehen (z.B. das Wahlrecht für Frauen wurde in der Schweiz 1971 eingeführt), aber es wird natürlich weiterhin über das Zustandekommen und die Wirkungen einer solchen Tatsache diskutiert. Die Geschichte des Frauenwahlrechts kann z.B. mit der 68er-Bewegung, aber auch mit dem Landesstreik in Verbindung gebracht werden; in beiden Fällen wird eine historische Tatsache auf andere Tatsachen, die vielleicht aus neu aufgefundenen Quellen stammen, bezogen und erzählend präsentiert. Auf besseren oder schlechteren Gründen für die eine oder andere Ausformung einer Geschichte muss man jedoch im Allgemeinen bestehen, wenn man nicht in einen Positivismus (ich spreche wahr) oder Relativismus (ich erfinde alles) verfallen und wenn man gutes Storytelling von fiktiven Geschichten unterscheiden will.
Diese Gründe wären: Recherche, (historische) Vorarbeiten, Statistiken, Vielstimmigkeit, Argumente, Bemühen um Objektivität etc., schlicht: Handwerk.

Bei Bärfuss entdecke ich einen etwas anderen Tatsachenbegriff. Es scheint für ihn noch unzählige wahre, bislang noch unbeachtete Fakten in der Welt zu geben, die unabhängig von uns existieren und der Entdeckung durch Journalisten harren. Mit Kaspar Surber (WOZ vom 10.01. 2019) liesse sich sagen, dass in der Idee des ‹da draussen›, wo es journalistische Trouvaillen zu machen gebe, auch das Echo eines maskulinen Modells der journalistischen Eroberungsfront anklingt. Bärfuss› Überlegungen hingegen gehen in eine andere Richtung: Das Herbeischaffen von bislang Unbekanntem ist teuer und aufwändig. Billiger sei es da und auch passend zum Kostendruck in Medienkonzernen, Geschichten zu erzählen.
Dieser Journalismus jedoch, der es auf Stories abgesehen habe, sei letztlich Werbestrategien auf den Leim gegangen. «Die Medien meinten, mit ihrem Storytelling die Aufmerksamkeit der Leser gewinnen zu können, aber sie haben sich damit den Methoden des Marketings übergeben», so Bärfuss. Oder anders gesagt: Form werde in diesem Fall Inhalt vorgezogen.

Würde der Journalismus jedoch die Überschrift des Essays, «Hört auf mit euren Geschichten!», wörtlich nehmen, dann gehörten letztere allein ins Reich der Literatur. Es gäbe eine klare Arbeitsteilung zwischen Journalistin und Schriftsteller. Und die «Macht», welche Bärfuss den Geschichten (nicht aber den Fakten!) zuschreibt, wäre auf der Seite seiner Zunft. Das klingt ein wenig nach vergangenen Zeiten, als die Fiktion noch ein festes Zuhause im Roman hatte, während der ‹gute alte Schurni› die (Lokal)fakten zusammentrug.
Es klingt auch ein wenig nach der allgemein zuspätgekommenen Wertschätzung für eine Schweizerische Depeschenagentur (SDA). Diese hatte und hat aber einen anderen Auftrag und Plan wie beispielsweise ein Online-Magazin. Bezeichnend für einen Wandel in der Branche ist auch, dass sich bei der Republik niemand als «Journalist» oder «Journalistin» bezeichnet, sondern als «Autorin», «Reporterin» oder «Redaktor».

Es ist aber noch eine zweite, recht andere Art von Tatsachenbegriff in Bärfuss› Essay zu identifizieren: Für sich genommen, so Bärfuss, sagten die Tatsachen nämlich noch gar nichts aus. Erst durch die Verknüpfung derselben durch Konjunktionen wie «und», «dass» oder «während» erhielten die Tatsachen Bedeutung. Und diese liege nicht in den Tatsachen selbst, sondern in den Verbindungen zwischen ihnen, wo auch die Geschichte entstehe. Eine Geschichte, schreibt Bärfuss, beginne «nicht mit den Tatsachen, sondern mit ihren Verknüpfungen, und diese sind zu guten Teilen eine Erfindung, die nur einen einzigen Zweck verfolgt: den Leser bei der Gurgel zu packen, wie Billy Wilder gesagt hätte». Dahinter verberge sich das «Storytelling» oder die Dramaturgie als «wirkungsvolle Droge», die der Journalismus «in den letzten Jahren in grossen Schlucken getrunken» habe und davon «süchtig und krank geworden» sei.
Die historischen Wurzeln des Storytelling sieht Bärfuss im Werk «The Art of Dramatic Writing» des Ungarn Lajos Egri aus dem Jahre 1946. Verschiedene Mittel – Erwartungen wecken, ein «ungeklärtes Verhältnis zwischen Tatsachen» zu Beginn setzen – seien seit damals bekannt, gewisse Tricks ausreichend erforscht und auch schon ‹alte Hüte›, zum Beispiel: «Die Frau steht in der Küche. Auf dem Tisch liegt eine Pistole.» Weshalb wir hier weiterlesen, habe die Neurophysiologie hinreichend gezeigt; die Imagination erledigt den Rest.
Die journalistische Zunft jedoch darf nicht einfach imaginieren; d.h. der/die Schreibende entscheidet, was aufgrund von Fakten, Recherchen und Wissen noch eine legitime Verbindung zwischen Tatsachen ist. Jeder Journalist trägt diese Verantwortung und sollte sich laut Bärfuss diesen «Sachverhalt» über den Schreibtisch hängen, denn: «Geschichten, die in der Welt sind, werden selbst zur Tatsache.» Zu diesem Bewusstsein passt auch Kaspar Surbers Forderung aus seiner Analyse zum Fall Relotius in der WOZ: «Gesucht ist also ein Journalismus, der nicht nur seine Fakten belegt, sondern unabhängig von der Form seine eigenen Herangehensweisen und Produktionsbedingungen in den Beiträgen auch thematisiert.»

Geschichten haben also Macht. Sie würden, wie Bärfuss schreibt, sogar dann akzeptiert, wenn sie nicht überprüfbar seien. Wir könnten uns sozusagen nicht dagegen wehren, dass wir uns Geschichten merkten: «Geschichten sind mächtiger als unser kritisches Bewusstsein. Und das hat evolutionäre Gründe.» Diese Erklärung tönt sehr nach dem Bestsellerautor Yuval Noah Harari, der in der Republik schon mehrmals als Garant für ein Argument auftauchte. Harari hebt die Fähigkeit des Geschichtenerzählens als das wesentlichste Merkmal der gesamten Menschheitsgeschichte hervor und zieht leichtfüssige Vergleiche zwischen Prähistorie und Zeitgeschichte.
Doch wenn das biologische Argument für die Überzeugungskraft von Geschichten stimmen würde, hätte Propaganda immer – zwingend – Erfolg. Ich persönlich bezweifle, ob der Rückverweis auf steinzeitliches Geraune am Lagerfeuer in schwach besiedelten Steppen nützlich ist in Bezug auf Storytelling in einer hypermedialen Welt. Andere Autoren versuchen beispielweise den Glauben an Fake News damit zu erklären, dass Menschen zu faul zum Denken sind: «mentally lazy» (The New York Times, 19.01. 2019)

Was aber, wenn sich der Stoff nicht in eins der schönen Erzählmuster einpassen lässt, weder in die klassischen Narrative der Erzähltheorie (Tragödie, Komödie, Satire, Romanze), noch in ein Raster des Storytellings? Was tun, wenn es (noch) nicht entscheidbar ist, in welche Richtung die Geschichte geht, wenn überhaupt unklar ist, was genau relevant ist, was zu einem Thema recherchiert wurde? Der ausgebildete Journalist Jonas Schaible, aktuell Parlamentsreporter für t-online, benannte dieses Problem folgendermassen: «Es gibt kein klassisches Erzählmuster für Ambivalenz, eine Geschichte hält Ambivalenz nur aus, solange sie den Verlauf der Handlung nicht stört.»
Da gälte es meines Erachtens weiterzudenken. Eine neue Art von Narrativ wäre gefragt, das sich nicht auf bekannte Konjunktionen oder Erzählweisen stützen kann. Es ginge also nicht darum, Tatsachen gegen Geschichten abzuwägen oder sogar ganz mit den Geschichten «aufzuhören». Ohne Erzählen funktioniert Journalismus kaum. Aber es ginge darum, die Unentscheidbarkeit in einer journalistischen Geschichte auszuhalten.

Weiterführende Informationen


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Ariane Tanner ist Historikerin und Texterin aus Zürich. Interessenbindungen: keine.

    Unter «kontertext» schreibt eine externe Gruppe Autorinnen und Autoren über Medien und Politik. Sie greift Beiträge aus Medien auf und widerspricht aus politischen, journalistischen, inhaltlichen oder sprachlichen Gründen. Zur Gruppe gehören u.a. Bernhard Bonjour, Rudolf Bussmann (Redaktion, Koordination), Silvia Henke, Anna Joss, Mathias Knauer, Guy Krneta, Johanna Lier, Alfred Schlienger, Felix Schneider, Linda Stibler, Ariane Tanner, Rudolf Walther, Matthias Zehnder.

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2 Meinungen

  • am 24.01.2019 um 19:54 Uhr
    Permalink

    Ariane Tanner schrieb in ihrem Artikel von der «allgemein zuspätgekommenen Wertschätzung für eine Schweizerische Depeschenagentur (SDA)». Früher war die SDA an Veranstaltungen oft anwesend. Am 16. Mai im letzten Jahr vermisste ich die SDA und die Medien an einer interessanten Veranstaltung in der Universität Zürich und in der Helferei. Der Architekt Richard Gage aus San Francisco erläuterte damals aus seiner Sicht den Zusammensturz der drei Wolkenkratzer im World Trade Center am 11. September 2001. Marc Chesney, ein Finanzprofessor der Uni Zürich, stellte seine Analyse zu den verdächtigen Börsenbewegungen vor dem 11. September 2001 vor.

    Wie es scheint ist das süffige «Storytelling» heute für die Medien wichtiger zu sein als Hintergründe zu realen Vorkommnissen ins Visier zu nehmen.

    Die Ausführungen von Richard Gage und Marc Chesney hätten eigentlich die Medien interessieren müssen, da auch Zürcher Versicherungen riesige Entschädigungen nach 9/11 auszahlen mussten. Unter den Versicherern mussten neben der Allianz die Gesellschaften Travelers Companies, Zürich Financial Services, Swiss Re und ihr Industrieversicherer, Employers Insurance sowie Royal Indemnity Entschädigungen auszahlen.

    https://www.welt.de/wirtschaft/article893649/Allianz-einigt-sich-im-World-Trade-Center-Streit.html

    Diese Versicherungsgesellschaften verzichteten seltsamerweise von vornherein auf eigene, unabhängige technische Abklärungen des riesigen 9/11 Schadenfalles, wie sie sonst üblich sind.

  • am 28.01.2019 um 20:01 Uhr
    Permalink

    Ob Bärfuss oder Tanner – ich komme bei diesem Geschreibsel nicht draus… Und das Foti erhellt die «Geschichte» (oder ist es eine Erzählung? oder ein Artikel??) auch nicht. Kann frau/man wenigstens im Infosperber so schreiben, dass frau/man draus kommt???
    Danke und auf ein andermal… h.feuz

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