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Täglich zweieinhalb Stunden auf der Suche nach dem schnellen Kick: Smartphone-Nutzerinnen © B.Morgan/flickr.

Welt retten in der Just-in-Time-Spirale – aussichtslos

Hanspeter Guggenbühl /  Digitale Technik bringt schnelle Resultate und kurzfristigen Genuss. Langfristige Aufgaben bleiben ungelöst. Ein Gedankengang.

«Warum handelt die Menschheit nicht?» Diese Frage, diesen Seufzer, hören wir oft, wenn Wissen- und Medienschaffende uns global drohende Katastrophen vor Augen führen. Die erste Antwort ist banal: Weil die «Menschheit» kein organisierbares Kollektiv ist, sondern aus sieben Milliarden Einzelpersonen, Millionen von Sippen und zahlreichen Staaten besteht. Sie alle haben eigene Sorgen, eigene Wünsche, andere Prioritäten. Das «Hier und Jetzt» steht ihnen näher als globale Bedrohungen. Kurzfristiges hat Vorrang gegenüber Langfristigem.

Kurzfristiges Denken und Tun kann Sinn machen. Wer halb verdurstet zur Oase kommt, dem liegt der erste Schluck Wasser gesunderweise näher als die Begrünung der Wüste. Der Sprung aufs Trottoir, wenn ein Auto auf sie zurast, hat für die Fussgängerin zu Recht Vorrang vor dem politischen Engagement zu Gunsten von mehr Verkehrssicherheit. Schneller Reflex, kurzfristiges Handeln ist existenziell, kann im konkreten Fall das eigene Leben retten, längst bevor die «Menschheit» als Folge von ferner liegenden Ereignissen wie etwa einem Atomkrieg oder der Aufheizung des Klimas zu Grunde geht.

Abschreibungsfristen werden kürzer

Das ökonomische System bevorzugt im Konfliktfall ebenfalls das Kurz- gegenüber dem Langfristigen. Das fossile Kraftwerk, das ein Energieunternehmen heute baut, wird längst abgeschrieben sein, bevor die Vorräte an Kohle oder Erdgas zur Neige gehen, obwohl die Amortisationsfristen von Kraftwerken vergleichsweise lang sind. Je schneller sich eine Investition amortisiert, desto leichtfertiger wird sie getätigt. Die tendenziell sinkenden Abschreibungsfristen begünstigen die Leichtfertigkeit.

Das gleiche Prinzip gilt bei Eingriffen, bei denen es etwa darum geht, einen verfälschten Markt mit politökonomischen Eingriffen zu korrigieren. Beispiel: Wirtschaftsprofessorinnen und Politiker finden Lenkungsabgaben oder Emissionszertifikate, welche die langfristige Verknappung von nicht nachwachsenden Naturgütern ins Wirtschaftssystem integrieren, theoretisch mehrheitlich eine gute Sache. Aber in der kurzfristigen Praxis haben andere Mittel für diese Politökonomen stets Vorrang, selbst wenn diese Mittel das langfristige Problem verschärfen. «Zuerst müssen wir die Konjunktur wieder ankurbeln», sagte mir der einst grün gesinnte Politiker und Ökonom Franz Jäger, als ich ihn an einem Podium an sein Bekenntnis für «Umweltabgaben» in seinem Buch «Natur und Wirtschaft» (Verlag Rüegger1993) erinnerte.

Schlimm ist nicht, dass Jäger und die meisten andern Ökonomen und Politikerinnen im Moment eine schnelle Lösung suchen. Fatal ist, dass sie seit Jahrzehnten, also langfristig, kurzsichtig wirtschaften und politisieren. Darum nehmen Raubbau und Ausbeutung von Natur und Menschen ebenso stetig zu wie Aufrüstung und kriegerische Auseinandersetzungen.

Das schnelle Resultat, der unmittelbare Genuss, liegt uns auch als Konsumentinnen und Konsumenten nahe. Der Griff zur Schokolade, zur Zigarette oder andern Genussmitteln stillt kurzfristig die Lust, lang bevor die Waage uns Übergewicht und der Arzt Lungenkrebs diagnostiziert. Der technische Wandel fördert dieses Verhalten, weiss der Schreibende aus eigener Berufserfahrung: Vorbei die Zeiten, als er in andere Städte reiste, mit Fachleuten Gespräche führte, in seinen Archivschubladen wühlte, Artikel in die manuelle Schreibmaschine tippte, in ein Kuvert packte und per Briefpost an die Redaktionen schickte, die seinen Text dann nach einigen Tagen veröffentlichten. Heute sitzt er vor dem Computer, konsultiert Fachleute per E-Mail, holt weitere Informationen mit einigen Klicks auf den Bildschirm, tippt auf der Tastatur fast ebenso schnell, wie er denken kann – zuweilen noch etwas schneller –, und wenn sein Artikel fertig ist, kann er ihn in wenigen Minuten online publizieren.

Digitale Technik bringt zusätzlichen Schub

Die mobile Kommunikation dreht die Just-in-time-Spirale weiter. Diejenigen, die selber noch keines dieser weit verbreiteten Apparätchen besitzen, können es im Bus, Tram oder Zug täglich beobachten: Weit über die Hälfte der Fahrgäste ist schweigend ins Smartphone vertieft. Die Streicheleinheiten, die der kleine Bildschirm dabei erhält, lässt jede verliebte Person vor Neid erblassen.

Diese Beobachtung bestätigte die NZZ letzten Sonntag den verbliebenen Zeitungs-Lesenden; dies in einem Artikel unter dem Titel «Der Sucht-Code«: Demnach schalten die Besitzerinnen und Besitzer ihr Smartphone im Schnitt 88 Mal pro Tag ein in der Hoffnung, ihren Reizhunger mit dem Empfang einer SMS, E-Mail, einem «Like» oder einer andern Antwort auf eine selber verbreitete Botschaft stillen zu können. Dabei beschäftigen sie sich «jeden Tag zweieinhalb Stunden» mit diesem vielseitigen Gerät. Die lange Verweildauer wird offenbar gezielt gezüchtet: «Ein Heer von Programmierern steigt mit raffinierten Tricks in unser Gehirn – und macht uns abhängig von unserem Telefon», schreibt NZZ-Journalistin Ursina Haller. So verführten die geschickt programmierten Anwendungen (Apps) die Nutzer (neudeutsch: User) dazu, auf den einzelnen Internetseiten länger als geplant zu verweilen.

150 Minuten täglich am Handy. Da staunen die wenigen smartphone-abstinenten Personen. Gleichzeitig fragen sie sich, wo diese Zeit, die sie gegenüber der Mehrheit sparen, denn bei ihnen jeden Tag wieder zerrinnt. Nutzen sie die 150 gesparten Minuten, um Bücher statt Twitter-Nachrichten zu lesen? Wohl nur bedingt. Oder für Sex und geselliges Zusammensein mit Freundinnen und Freunden? Für diese beiden glücksfördernden Tätigkeiten zusammen verwendeten die Teilnehmenden an einer Erhebung zur Glücksforschung schon 2004, als es noch keine Smartphones gab, lediglich 80 Minuten pro Tag. Oder retten sie den Planeten? Sieht nicht danach aus.

Langfristige Lösungen bleiben auf der Strecke

In der «Multioptionsgesellschaft» (die der Soziologe Peter Gross 1992 analysierte), in der die Anbieter den Konsumentinnen und Konsumenten schnellen Genuss und kurzfristige Resultate anbieten, bleibt die Lösung von langfristigen Aufgaben zwangsläufig auf der Strecke. Das Smartphone mag ein Werkzeug sein, das diese Entwicklung fördert und beschleunigt. Die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Ursachen liegen tiefer und haben mehr Gewicht.

Weiterführende Informationen


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

keine

Zum Infosperber-Dossier:

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2 Meinungen

  • am 17.08.2018 um 12:04 Uhr
    Permalink

    Es genügt doch, zur Kenntnis zu nehmen, wie der US-Präsident kommuniziert! Aber wie bringen wir dem Journalismus bei, dass Analyse ohne Handlungsaufforderung und Handlungskontrolle nicht weiter führt. Ich kenne auch besonnene jugendliche. Aber wenn ich die grosse Masse beim Umgang mit «just in time» in den Social Media beobachte, fällt mir die Prognose, wohin das führen wird, nicht schwer.

  • am 17.08.2018 um 16:01 Uhr
    Permalink

    Was Herr Gugginbühl schreibt stimmt 100%. Doch seit Milliarden von Jahren dreht sich die Welt nicht schneller, und der Tag ist somit noch immer 24 Stunden lang. Das wird sich in den kommenden Jahren kaum ändern, egal wie schnell und wie oft wir miteinander kommunizieren. Die Beschleunigung trifft nur uns selbst. Sterben werden wir dadurch auch nicht langsamer, höchstens schneller. Helfen wir also einander, die Zeit, die wir haben zu geniessen und zeigen wir unseren Kindern, wie das geht. Alles andere wird sich von selbst regeln – wie immer. Oder ist jemand klüger als die Natur?

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