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Lokman Kadak: «Sie fesselten mir die Hände auf den Rücken und hängten mich an der Decke auf» © tt

«Meinen Kindern wird die Zukunft gestohlen»

Tobias Tscherrig /  Im Kampf um Gerechtigkeit wandert Lokman Kadak von Locarno nach Bern. Er will seinen Kindern ein Leben in Sicherheit ermöglichen.

Der 42-jährige Lokman Kadak sitzt an einem Gartentisch in Naters (VS) und zieht an einer Zigarette. Die Füsse stecken in geliehenen Sandalen, am Finger blitzt der Ehering. Die grau-melierten Haare wippen im Takt des Gesprächs, eine Zehe linst durch die löchrige Socke. Kadak ist Ehemann, 2-facher Familienvater, kurdischer Türke, Flüchtling. Trotz einer langen Reise, Misshandlungen in türkischen Gefängnissen und der Sehnsucht nach seiner Familie, hat er das Lachen nicht ganz verlernt: Er scherzt mit der anwesenden Dolmetscherin und seinen Gastgebern, die ihn spontan bei sich übernachten lassen. Sein Lächeln ist ansteckend. Nur manchmal, wenn er von seiner Familie oder dem erlebten Leid spricht, ist ihm seine Ohnmacht anzusehen.

Naters – und das anliegende Städtchen Brig – sind die nächsten Etappen einer über 20-jährigen Odyssee, die nicht mehr enden will. Wie viele andere Kurden litten Kadak und seine Familie unter dem Regime des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan. Kadak wurde mehrmals inhaftiert, schliesslich folgte eine Verurteilung wegen einer angeblichen Mitgliedschaft zur kurdischen Arbeiterpartei PKK, die von der Türkei und einigen anderen Staaten als terroristische Vereinigung eingestuft wird. Auch wenn er zum Zeitpunkt des Prozesses schon längst kein PKK-Mitglied mehr war, wurde Kadak vom Obersten Türkischen Gerichtshof im Dezember 2018 zu sechs Jahren und drei Monaten Freiheitsentzug verurteilt.*

SEM lehnt Asylantrag ab
Im September 2018 flüchtete Kadak über Umwege in die Schweiz und stellte einen Antrag auf politisches Asyl. Vom Staatssekretariat für Migration (SEM) erhielt er im April 2019 einen negativen Bescheid. Lokman Kadaks Verfahren in der Türkei sei im Rahmen der Rechtsstaatlichkeit abgelaufen, so die Begründung. Weil er einen Anwalt mit seiner Verteidigung betraut hatte.

Der 42-Jährige legte Berufung ein, seitdem sehnt er sich nach einer Antwort. Eine Antwort, die nicht nur über seine, sondern auch über die Zukunft seiner Familie entscheiden wird. In der Zwischenzeit nutzt er die Möglichkeiten, die ihm noch bleiben: In einem Brief an das SEM bat er um Einsicht. Er legte dar, dass die Türkei das Europarats-Mitglied mit den meisten Verurteilungen durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ist. Er schrieb von den Säuberungen, von denen Teile der Bevölkerung in der Türkei seit dem gescheiterten Staatsstreich im Jahr 2016 betroffen sind.

Wettlauf gegen die Ohnmacht
Um nicht nur untätig herumzusitzen und auf die Antwort der Schweizer Behörden zu warten, machte sich Lokman Kadak erneut auf den Weg: Während zwei Wochen wandert er von seinem aktuellen Wohnsitz in Locarno nach Bern, um die Behörden und die Bevölkerung auf seine Lage aufmerksam zu machen (Stationen am Ende des Textes). Zu Fuss, knapp 280 Kilometer, Alpenüberquerung inklusive. Mit ausgeliehenen Wanderschuhen, einem schweren Rucksack, die Hoffnung im Gepäck.

In Naters angekommen, leidet Kadak an einem geschwollenen Fuss. Seine vorübergehenden Gastgeber fahren ihn in die Notfallstation. Wegen Nierenbeschwerden kann er nicht mehr in seinem Zelt übernachten und ist auf die Hilfe von Menschen angewiesen, die er auf seinem Weg trifft. Von seinem Vorhaben lässt er sich trotzdem nicht abbringen. «Ich laufe für meine Familie», sagt Lokman Kadak. «Damit meine Kinder eine bessere Zukunft haben.»

Immer wieder betont Kadak, welch spontane Solidarität ihm auf seinem Weg entgegengebracht wird. Als seine Geschichte im Tessin veröffentlicht wird, erhält er aus der ganzen Schweiz knapp 50 Übernachtungsangebote. «Ich schätze die Gespräche mit den Bewohnerinnen und Bewohnern der Schweiz», sagt Kadak. «Die seelische Unterstützung ist für mich sehr wichtig. Ich werde all die Zeichen der Solidarität niemals vergessen.»

Ein Leben lang gebrandmarkt
Lokman Kadaks Odyssee beginnt vor über 20 Jahren: Im Jahr 1998 sollte er ins türkische Militär einrücken, er weigert sich. «Wenn ich ins Militär gegangen wäre, hätte ich andere Menschen umbringen und Entscheidungen treffen müssen, mit denen ich nicht einverstanden bin», erklärt er seine Beweggründe. Kadak flüchtet und taucht in Istanbul unter. Er schliesst sich der linksgerichteten «Partei der Demokratie des Volkes» (HADEP) an. Sechs Monate später wird er gefasst und für ein Jahr inhaftiert. Während den ersten Tagen im Gefängnis sei er oft mit einem Stock geschlagen worden, sagt Kadak. Er gestikuliert, zeigt mit den Händen auf die Stellen an seinem Körper, auf die die Schläge einprasselten. «Am Schlimmsten war es, als sie mir die Hände auf den Rücken banden und mich an der Decke aufhängten.»

Im Gefängnis setzt sich Kadak mit den Ideen des PKK-Führers Abdullah Öcalan auseinander. Er ist fasziniert von seinen Theorien und beschliesst, Mitglied der kurdischen Arbeiterpartei zu werden. «Ich wollte an der Bewegung teilhaben und mich für die Rechte der Kurden einsetzen. Für mich war es immer sehr wichtig, dass die Kurden für ihre Rechte und für ihre Autonomie kämpfen», sagt Kadak.

Im Jahr 2000 wird Lokman Kadak freigelassen. Vier Jahre nach seinem Eintritt in die PKK tritt er freiwillig wieder aus. Trotzdem wird ihn seine Mitgliedschaft noch knapp 20 Jahre später verfolgen: «Ich war kein aktives Mitglied. An irgendwelchen aggressiven Handlungen habe ich mich nie beteiligt. Trotzdem verfolgt mich diese Geschichte, die türkischen Behörden lassen mich nicht los. Für sie werde ich wohl immer ein PKK-Mitglied sein.»

Kadak redet eindringlich mit der Dolmetscherin. Das Thema ist ihm wichtig. Manchmal kritisiert er seine ehemalige Partei, die «nicht immer das Richtige» getan habe. Seine damalige Mitgliedschaft bereut er aber nicht. «Warum sollte ich? Ich habe mich für die Rechte der Kurden eingesetzt.»

Flucht aus dem Irak, Auslieferung durch Interpol
Nach seiner Freilassung wandert Lokman Kadak mit seiner Familie in den Irak aus. Von 2004 bis 2016 leben sie unbehelligt, dann kommt der Islamische Staat (IS), die Situation wird problematisch. «Unsere Kinder hatten Angst. Die Schulen waren geschlossen, für uns gab es dort keine Zukunft.» Lokman Kadaks Frau ist russische Kurdin, die Familie flüchtet nach Russland. Aber auch hier finden sie keine Ruhe. «Die Polizei und der Geheimdienst durchsuchten ständig unsere Wohnung. Wir wurden oft für stundenlange Verhöre auf Polizeiwachen geschleppt, immer wieder drohte man uns mit der Auslieferung in die Türkei.»

Deshalb geht Kadak auch nicht auf den Vorschlag des SEM ein, wonach er und seine Familie in Russland leben könnten. Die Familie hat Angst. Lokman Kadak resigniert: «Ich hatte immer und überall Probleme, weil ich PKK-Mitglied war. Dabei habe ich seit Jahren mit dieser Partei abgeschlossen.»

Um seiner Familie endlich ein sicheres Leben zu ermöglichen, entschliesst sich Kadak zur Flucht in die Schweiz. Sie erreichen die Ukraine, dann die Slowakei. Hier werden sie festgenommen und in die Ukraine zurückgeschickt. Unter dem Mandat von Interpol liefern die ukrainischen Behörden Kadak in die Türkei aus. Erneut sitzt er im Gefängnis, dieses Mal während 18 Monaten. Schliesslich wird er freigelassen, dann folgt die erstinstanzliche Verurteilung: sechs Jahre und drei Monate Gefängnis. Kadak legt Berufung ein und flüchtet mit dem Pass seines Bruders alleine nach Bosnien, dann in die Schweiz.

«Papa, ich werde mich umbringen»
Er wird in einer Asylunterkunft in Locarno untergebracht, vor einiger Zeit durfte er eine kleine Wohnung beziehen. Kadak besucht Sprachkurse und lernt italienisch. «Ich spiele oft auf meiner Saz (kurdisches Saiteninstrument)», sagt er, lacht und imitiert mit seinen Händen die passenden Bewegungen. «Ansonsten laufe ich umher und entdecke die Schweiz – oder ich telefoniere mit meinen Kindern.» Das Lachen verstummt. Lokman Kadak hat seine Familie seit über zwei Jahren nicht mehr gesehen.

Während Kadak in der Schweiz auf einen Entscheid der Behörden wartet, sitzen seine Frau, seine 12-jährige Tochter und sein 15-jähriger Sohn in der Türkei fest. Zwar haben sie ein Dach über dem Kopf, besitzen aber keine Aufenthaltsbewilligung. Die Kinder waren seit zwei Jahren nicht mehr in der Schule, der Gang zum Arzt oder ins Krankenhaus kommt nicht in Frage. Sorgen macht sich Kadak auch wegen möglicher Staatswillkür und erneuten Repressionen.

Seine 12-jährige Tochter sagt ihm vor einem Monat am Telefon, dass sie gerne Ärztin werden will: «Aber ich glaube nicht, dass ich mir diesen Wunsch erfüllen kann. Für mich ist es wohl bereits zu spät.» Dann einige Wochen später: «Papa, ich werde mich umbringen. Ich kann mit dieser Situation nicht mehr umgehen.» Der 15-jährige Sohn erklärt am Telefon: «Papa, als du gingst, war ich ein Kind. Jetzt bin ich ein Mann.»

«Meine Kinder leiden – und ich bin hier im Paradies»
Lokman Kadak kann nicht in die Türkei zurück. Geht er, wartet das Gefängnis. Wegen seinen Kindern ist er in die Schweiz geflüchtet: «Um einen Ort zu finden, in dem ich und meine Familie leben können und in Sicherheit sind. Einen Ort, wo meine Kinder zur Schule gehen und an ihrer Zukunft arbeiten können.»

Lokman Kadak will nichts – nur seine Familie. Die Schweiz bezeichnet er als «Paradies». Ein Paradies, dass er auch seinen Kindern ermöglichen will. Deshalb hat er Berufung gegen den negativen Asylentscheid eingereicht. Deshalb läuft er nun zu Fuss von Locarno nach Bern. Er machte sich erneut auf den Weg: Weil ihm kein Ausweg bleibt. Weil er nicht weiss, was er sonst noch tun kann. «An jedem Tag, der vergeht, wird meinen Kindern ein Stück von ihrer Zukunft gestohlen.»

Die Route von Lokman Kadak

Locarno – Bellinzona (19.6 km.) 22. Juni
Bellinzona – Biasca (20.3 km) 23. Juni
Biasca – Faido. (20.3 km) 24. Juni
Faido – Airolo (17.5 km) 25. Juni
Airolo – Bedretto (10 km) 26. Juni
Bedretto – Ulrichen (28.7 km) 27. Juni
Ulrichen – Fiesch (19 km) 28. Juni
Fiesch – Brig (17.5 km) 29. Juni
Brig – Gampel (20.6 km) 30. Juni
Gampel -Leukerbad (22 km) 01. Juli
Leukerbad-Kandersteg (19 km) 02. Juli
Kandersteg – Spiez (25.1 km) 03. Juli
Spiez – Wichtrach (22.1 km) 04. Juli
Wichtrach – Bern (16 km) 05. Juli


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

* Der Text basiert auf den Angaben von Lokman Kadak.

Zum Infosperber-Dossier:

Afghanischer_Flchtling_Reuters

Migrantinnen, Migranten, Asylsuchende

Der Ausländeranteil ist in der Schweiz gross: Die Politik streitet über Asyl, Immigration und Ausschaffung.

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2 Meinungen

  • am 2.07.2020 um 16:22 Uhr
    Permalink

    Bei dieser ganzen empörenden Geschichte dieses Kurden darf man eines nicht übersehen. Ohne die Komplizenschaft der NATO, der EU – allen voran Deutschlands – könnte der türkische Faschist RTE niemals die nichttürkischen Menschen so grausam verfolgen. Dieses undemokratische und terroristische AKP-Regime passt irgendwie nicht zu dem eurpäischen Gesäusel von «freitheitlich-demokratischer Grundordnung», wie es vor allem aus Berlin ertönt. Oder doch?

  • am 2.07.2020 um 18:08 Uhr
    Permalink

    Tragischer Fall. Dennoch, er hätte mit seiner Familie – und zum Wohle seiner Familie – wie angeboten, in Russland bleiben können. Aber klar, alle wollen in das Paradies Schweiz, wenn auch sogar alleine und die Familie im Stich lassen. Daher sollte man diesen Mann die Rückreise nach Russland oder Türkei organisieren, bezahlen, inkl. Startgeld.
    Es gibt Tausende solche Fälle. Wenn wir Jeden solchen Fall aufnehmen, macht das Schule und es kommen immer mehr. Ferner muss man diesen Herkunftsländer die Entwicklungshilfe kürzen, wenn sie solche Ehemänner nicht zurücknehmen wollen. Wir als reiches Land sollten in solchen Ländern mehr direkte Hilfe vor Ort leisten.

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