Die EU-Flüchtlingspolitik vor einem Scherbenhaufen
Gestrandet sind sie. Seitdem Mazedonien seine Grenzen zu Griechenland für «Migranten» Anfang dieser Woche gesperrt hat, sitzen Tausende von Flüchtlingen aus Afghanistan und Pakistan an dieser Grenze fest. Nur Flüchtlinge aus Syrien und dem Irak dürfen ins Land, heisst es seither, und dies nur, wenn diese über legale Reisepapiere verfügen. Laut griechischen Quellen kommen durch dieses plötzlich eng gewordene Nadelöhr bestenfalls 580 Menschen am Tag durch.
Wer das Pech hat, als Afghane auf die Welt gekommen zu sein, oder wer vor dem Krieg flieht ohne vorher seine Reisepapiere in Ordnung gebracht zu haben, ist selber Schuld. Tausende Flüchtlinge drängen sich im Camp Idomeni auf der griechischen Seite der Grenze und warten. Es ist wie ein Warten auf Godot. Sie wissen nicht, ob und wann sie weiter dürfen. Wer keinerlei Chance auf einer Weiterreise hat, wie Afghanen und Pakistani, wird von der griechischen Polizei eingesammelt und mit Bussen in Richtung Athen oder in andere Städten gefahren. Das Lager bei Idomeni ist aber schon beim nächsten Schub der Flüchtlinge wieder voll.
Er habe sein ganzes Vermögen aufgebraucht, um die Reise seiner Träume nach Deutschland finanzieren zu können, sagt ein junger afghanischer Flüchtling dem griechischen Privatsender Skai-TV. Er werde allemal hinkommen. In seiner Stimme schwingt viel Verzweiflung mit. Denn gerade um dies zu verhindern, wird jenseits des ersten Stacheldrahtzauns auf der mazedonischen Seite der Grenze noch ein zweiter Zaun gebaut.
Frustration macht sich auch an Griechenlands Ostgrenze breit. Da will der Strom der immer neuen Flüchtlingswellen seit Beginn dieses Jahres nicht nachlassen. Gemäss Angaben der Internationalen Organisation für Migration (IOM) haben allein in den ersten zwei Monaten 102’547 Flüchtlinge Griechenland erreicht. Für 321 Menschen endete diese «Reise der Hoffnung» tödlich; die meisten von ihnen waren Kinder. Fabrice Leggeri, Direktor der EU-Grenzschutzagentur Frontex, rechnet für 2016 «angesichts der Lage in Syrien» erneut mit rund einer Million Flüchtlingen in Europa.
Politisieren nach dem Motto «rette sich, wer kann»
Österreich hat eine Tagesobergrenze von 80 Asylbewerbern eingeführt. Auf Initiative der Wiener Regierung diskutierten letzten Mittwoch die Innen- und Aussenminister von neun Ländern des West-Balkans über die Frage, wie der Strom der Flüchtlinge durch die sogenannte Balkanroute zu reduzieren oder gar zu stoppen wäre. Zum Treffen eingeladen waren unter anderem Albanien, Bosnien-Herzegowina, Kroatien, Mazedonien, Serbien, Ungarn und Slowenien. Unter Ausschluss Griechenlands beschlossen sie, die griechisch-mazedonische Grenze mit einem doppelten Stacheldraht zu sperren, was de facto bedeutet, europäische Beschlüsse einseitig ausser Kraft zu setzen. Das war einmalig in der Geschichte der EU. Aus Protest zog Griechenland die Botschafterin aus Wien zurück – auch das hat es unter EU-Mitgliedstaaten noch nie gegeben.
Es tut dem Gewissen von bestimmten EU-Politikern offenbar gut, wenn man dem Bestraften gleich die Schuld seiner Strafe zuschiebt. Solange Griechenland die EU-Aussengrenze nicht besser schützen könne, würden nationale Massnahmen umgesetzt, erklärte nach dem Wiener-Treffen Österreichs Verteidigungsminister Hans Peter Doskozil. Hans Peter Doskozil tat dabei so, als ob er nicht wüsste, dass die EU-Aussengrenze in der Ägäis sich aus zahllosen griechischen Inseln zusammensetzt – und die eignen sich wirklich schlecht für Stacheldraht.
In der östlichen Ägäis ist seit Monaten die für die EU-Aussengrenzen zuständige Agentur Frontex im Einsatz. Die Frontex oder gar die Nato für nicht «effektiven» Grenzschutz zu beschuldigen, wäre nicht so einfach wie eben den schwarzen Peter Griechenland zuzuschieben nach dem Motto: «Auch in der Schule schlägt man auf den Klassenschwächsten ein.»
Die Nato hat letzten Donnerstag die Details ihrer Marine-Mission in der Ägäis beschlossen. Nato-Schiffe sollen demnach in griechischen und türkischen Gewässern operieren, um die Menschenschleuserei zu bekämpfen. «Sollten Menschen gerettet werden, die aus der Türkei kommen, werden sie in die Türkei zurückgebracht», erklärte der Generalsekretär der Militärallianz Jens Stoltenberg. Die Rückführung von Flüchtlingen hängt allerdings vom Wohlwollen der Türkei ab. Bislang hatte sie sich geweigert, zurückgeführte Flüchtlinge zu akzeptieren.
Kuhandel der EU mit Erdogan
Es ist erstaunlich, wie schnell der EU-Koloss von 380 Millionen Bürgern wegen knapp zwei Millionen Flüchtlingen aus der Bahn geworfen ist. Die Flüchtlingskrise wurde zu einer existenziellen Krise der EU, die sich noch vor nicht allzu langer Zeit als globale Grossmacht verstand.
Noch gibt es eine leise Hoffnung, dass eine gesamteuropäische Lösung gefunden werden kann. Der Vorschlag stammt von Angela Merkel und sieht eine zentrale Rolle für die Türkei vor. Um den Flüchtlingsstrom aus der Türkei nach Westeuropa «erheblich» zu reduzieren, hatte die EU letzten November Ankara dreieinhalb Milliarden Euro versprochen sowie Visa-Erleichterungen für türkische Bürger im Schengen-Raum. Ein EU-Beitritt der Türkei, den ausgerechnet die Konservativen bis dahin hartnäckig abgelehnt hatten, sollte gemäss Vereinbarung nun kein Tabu mehr sein. Eine Intensivierung der Verhandlungen für den EU-Beitritt wurde eingeleitet.
Diese drei Forderungen hatte vor der Vereinbarung der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan dem Präsidenten der EU-Kommission Jean Claude Juncker und dem EU-Ratspräsidenten Donald Tusk gestellt. Wie in der Presse durchgesickert war, soll er ihnen unmissverständlich klargemacht habe, «alle Forderungen der Türkei besser sofort zu erfüllen». Ansonsten würde er die westliche Grenze der Türkei öffnen und die «EU mit Flüchtlingen überfluten».
Eine Erpressung? Nicht nur die regierungsnahe Presse hatte den Verhandlungsstil Erdogans anerkennend gutgeheissen. Auch regierungskritische liberale Kreise, die europäische Prinzipien und Werte auf ihre Fahne geschrieben haben, sprachen nach dem EU-Türkei-Abkommen letzten November enttäuscht von einer «Heuchelei der Europäer».
Die Europäer hätten sich auf einen «somewhat unethical» Kuhhandel mit Erdogan eingelassen, kommentierte Mitte Februar Selcuk Gültasli, Redaktor der Tageszeitug «Hürriyet». Brüssel habe plötzlich seine «Werte und Prinzipien» vergessen und «über alle Einschränkungen der Presse und willkürlichen Festnahmen von Journalisten geschwiegen». Die EU-Politiker hätten ferner den Abruch der Friedensgespräche mit den Kurden und den schmutzigen Krieg im kurdischen Südosten des Landes «so leise kritisiert, dass diese Kritik von niemandem gehört werden könnte». Vom Schweigen des Westens zu den massiven Verletzungen fundamentaler Menschenrechte in der Türkei bitter enttäuscht zeigte sich auch Nobelpreisträger Orhan Pamuk: Die EU sei nur daran interessiert, dass die Türkei ihr die Flüchtlinge vom Leib halte, prangerte er öffentlich an.
Präsident Recep Tayyip Erdogan ist ein Machtpolitiker. Er weiss, dass die EU von der Türkei heute mehr abhängt als je zuvor. Wird er bei diesen drei Bedingungen bleiben oder den Preis für seine Bereitschaft noch einmal erhöhen? Der EU-Türkei-Gipfel am 7. März wird womöglich eine Antwort auf diese Frage geben können.
Riesige Halle gestrandeter Seelen
Seit der Schliessung seiner Nordgrenze geht in Griechenland die Angst um, dass das ganze Land zu einer «riesigen Lagerhalle gestrandeter Seelen» – so Regierungschef Alexis Tsipras – wird. Die Frage, wie lange es wohl brauche, bis die Frustration und die Verzweiflung der jungen Flüchtlinge nur in Wut umschlagen, dürfte nicht nur ihn quälen. Die UNO warnte vor «Chaos» und einer «humanitären Krise innerhalb weniger Tage».
Unmittelbar nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 suchten über 350’000 Albaner, fast 50’000 Polen und weit über eine halbe Million Pontus-Griechen aus dem Kaukasus und Zentralasien in Griechenland Zuflucht. Sie wurden in der Gesellschaft relativ schnell integriert, unter anderem auch weil sie in diesem Land haben leben wollen.
Die Flüchtlinge von heute haben allerdings nur ein Ziel: weiter nach Westeuropa zu ziehen. Zu Hunderten brechen sie aus den Auffangslagern aus und ziehen, oft stundenlang zu Fuss, zum Camp Idomeni an der mazedonisch-griechischen Grenze weiter. Und während die Nato bei ihrer Mission in der Ägäis der Menschenschleuserei das Handwerk zu legen sucht, treten in den Häfen und freien Plätzen griechischer Städte schon die neuen Schleuserbanden in Erscheinung: Eine «sichere Überfahrt» nach Belgrad soll laut Aussagen der Flüchtlinge nun 2500 und nach Berlin 4000 Euro kosten.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine.
Schutz finden die «Flüchtlinge» dort, wo sie jetzt sind, auch. Ein Anrecht auf das Land mit den besten Sozialleistungen gibt es nach wie vor nicht. Daher wird das Wort «Schutzsuchender» oder auch «Flüchtling» immer bewusst verharmlosend gebraucht. Schutz suchen die keinen mehr, den haben sie schon in etlichen Ländern vor Mazedonien gehabt. Es geht nur um die Optimierung der persönlichen Situation auf Kosten der Bevölkerung des Ziellandes, die das finanzieren, ermöglichen und tolerieren soll. «Asyloptimierer» (O-Ton J. Mikl-Leitner, Innenministerin Österreich) trifft es daher wesentlich besser als «Schutzsuchender» oder «Flüchtling».