Weltinnenpolitik_DemocracywithoutBorders

Weltinnenpolitik und Weltparlament gegen Globalisierung und Nationalismus © www.democracywithoutborders.org

Vom Hori­zont her: Welt­in­nen­po­litik

Dominik Gross /  Die Antwort auf die ökonomistische Globalisierung und den globalen Nationalismus wäre eine demokratische Weltinnenpolitik.

Red. Dominik Gross ist Wirtschaftshistoriker und arbeitet als Verantwortlicher für Internationale Finanz- und Steuerpolitik bei «Alliance Sud», der entwicklungspolitischen Arbeitsgemeinschaft von Schweizer Entwicklungsorganisationen.

Der neue Schweizer Aussen­mi­nister Ignazio Cassis hat sich in den ersten Monaten im Amt in einen Satz verliebt: «Aussen­po­litik ist Innen­po­litik.» Egal wo er auftritt ­– ob als Ehren­gast beim 50-jährigen Jubi­läum der Aussen­po­li­ti­schen Gesell­schaft, in einer Rats­de­batte zu einem Depar­te­ments­ge­schäft oder in einer Sitzung mit Mitar­bei­te­rInnen – immer hat er diesen Satz dabei. Er ist die einge­schwei­zerte Version von «America first».

Cassis schwebt eine Aussen­po­litik vor, die sich in allen Berei­chen bedin­gungslos den «natio­nalen Inter­essen» verschreibt. Oder dem Stamm­tisch, wie Cassis auch gerne sagt. Was er damit meint, zeigte sein Angriff auf die flan­kie­renden Mass­nahmen für den Lohn­schutz in den bila­te­ralen Verträgen zwischen der Schweiz und der EU: Er will zurück zur Gast­ar­bei­te­rIn­nen­po­litik der 1960er Jahre, die möglichst «billige» auslän­di­sche Arbeits­kräfte mit möglichst wenig BürgerInnen- und Arbeits­rechten ausstatten will. Dass schon EMS-Chemie-Chefin und SVP-Nationalrätin Martullo-Blocher im Februar Ähnli­ches forderte, zeigt: Schlechter Lohn­schutz liegt im Inter­esse neoli­be­raler Natio­na­lis­tInnen. Cassis befür­wortet ganz im Einklang mit FDP und SVP zudem eine Finanz- und Steu­er­po­litik, die Banken und Konzernen so wenig gesell­schaft­liche Verant­wor­tung wie möglich über­trägt und die Intrans­pa­renz auf dem Finanz­platz so hoch wie möglich hält. Gemeinsam mit den SVP-Bundesräten und Partei­kol­lege Schneider-Ammann treibt er auch eine Aussen­wirt­schafts­po­litik voran, die umfas­sende Markt­zu­gänge für Schweizer Unter­nehmen mit möglichst wenig neuen rechts-, finanz-, steuer- und staats­po­li­ti­schen Verbind­lich­keiten für die Schweiz kombi­nieren will.

Für eine Globa­li­sie­rung der Rechte

In allen Welt­re­gionen nutzen Natio­na­lis­tInnen derzeit die erodie­rende Glaub­wür­dig­keit des wirt­schafts­li­be­ralen Kosmo­po­li­tismus der letzten vierzig Jahre. Diese Politik hat rund um den Globus den Graben zwischen Arm und Reich vergrös­sert und die Welt an den Rand einer ökolo­gi­schen Kata­strophe gebracht. Das Welt­wirt­schafts­system über­lebte 2008 den fünften Crash seit 1970 nur knapp und unter enormsten Kosten für die Allge­mein­heit. Der wirt­schafts­li­be­rale Multi­la­te­ra­lismus machte Welt­kon­zerne zu para­staat­li­chen Gebilden und schränkte gleich­zeitig die wirtschafts- und sozi­al­po­li­ti­schen Möglich­keiten natio­nal­staat­li­cher Demo­kra­tien massiv ein. Die Natio­na­lis­tInnen wollen das Grund­prinzip hinter der bröckelnden neoli­be­ralen Hege­monie aller­dings nicht über­winden, sondern im Gegen­teil radi­ka­li­sieren: Sie wollen wirt­schaft­liche Konkur­renz nicht mehr in multi­la­teral defi­nierten Regel­werken für Handel- und Kapi­tal­ver­kehr orga­ni­sieren, sondern ein neues unge­zü­geltes Recht der Stär­keren durch­setzen.

Die Entwick­lung einer demo­kra­ti­schen Welt­in­nen­po­litik bietet einen Ausweg aus der Bredouille von Neoli­be­ra­lismus und Natio­na­lismus, in der die Welt heute steckt. Eine solche Politik kehrte Cassis‘ Maxime um: «Innen­po­litik ist Aussen­po­litik» wäre ihre Losung. Eine demo­kra­ti­sche Welt­in­nen­po­litik könnte entlang der bereits bestehenden globalen Wert­schöp­fungs­ketten von Kapital und Arbeit eine Globa­li­sie­rung der Rechte voran­treiben. Die Berliner Philo­so­phin Bini Adamczak hat das neulich in einem Inter­view mit der Wochen­zei­tung so umschrieben:

«Milli­arden von Menschen, die sich nicht kennen, stehen in Bezie­hung und sind aufein­ander ange­wiesen. Aller­dings hat diese Bezie­hung, vermit­telt über Welt­markt und Tausch­wert, die Form von Indif­fe­renz und Konkur­renz, Ausbeu­tung und Unter­drü­ckung. Ich halte es aber weder für möglich noch für wünschens­wert, sich aus dieser Abhän­gig­keit wieder zurück­zu­ziehen. Statt­dessen sollten wir die gegen­sei­tige Abhän­gig­keit zum Ausgangs­punkt nehmen, um zu fragen, wie wir sie demo­kra­tisch und egalitär gestalten können.»

Die Antwort auf Natio­na­lismus und Ökono­mismus könnte also eine demo­kra­ti­sie­rende Welt­in­nen­po­litik in allen Berei­chen sein, wie sie etwa die schwei­ze­ri­sche entwick­lungs­po­li­ti­sche Arbeits­ge­mein­schaft Alli­ance Sud – ein Zusam­men­schluss verschie­dener grosser Entwick­lungs­or­ga­ni­sa­tionen – vor zehn Jahren gefor­dert hatte und wie sie seit 2015 in der «Agenda 2030 für nach­hal­tige Entwick­lung» der UNO (Sustain­able Deve­lop­ment Goals – SDGs) veran­kert ist. Entwick­lungs­po­li­tisch bedeuten die SDGs einen Para­dig­men­wechsel: Sie denken «Entwick­lung» nicht mehr als einen post- bzw. neoko­lo­nialen Prozess, der im Sinne einer «nach­ho­lenden Entwick­lung» die «Entwick­lungs­länder» dem «Zivi­li­sa­ti­ons­ni­veau» der «Indus­trie­länder» näher­bringen soll, sondern setzen sich sieb­zehn welt­in­nen­po­li­ti­sche Ziele, die eine sozial und ökolo­gisch nach­hal­tige Entwick­lung der ganzen Welt bewirken sollen.

Die «Agenda 2030 für nach­hal­tige Entwick­lung» der Vereinten Nationen enthält 17 globale Nach­hal­tig­keits­ziele (SDGs), die im September 2015 von der UN-Generalversammlung verab­schiedet wurden.



Konzernverantwortungs-Initiative in der Schweiz ist ein aktu­elles Beispiel dafür, wie der Geist der Agenda verwirk­licht werden könnte: Sie will multi­na­tio­nale Konzerne mit Sitz in der Schweiz jenseits ihrer Bekennt­nisse in Hoch­glanz­bro­schüren dazu verpflichten, welt­weit Umwelt- und Sozi­al­stan­dards auch wirk­lich einzu­halten.

Steu­er­po­li­ti­sche Zusam­men­ar­beit oder Stand­ort­kon­kur­renz?

Die Globa­li­sie­rung der Rechte wird aller­dings etwas kosten. Die UNO geht davon aus, dass ihre Mitglieder jähr­lich 5000-7000 Milli­arden US-Dollar aufbringen müssen, um die SDGs bis 2030 zu errei­chen. Das klingt nach viel. Ist es aller­dings ange­sichts eines Welt­brut­to­in­land­pro­dukts von 76’000 Milli­arden US-Dollar nicht wirk­lich. Und umso weniger ange­sichts von aktuell 6100 Milli­arden Franken, die gemäss Angaben des Staats­e­kre­ta­riates für inter­na­tio­nale Finanz­fragen (SIF) alleine auf dem Schweizer Finanz­platz verwaltet werden – häufig noch immer steu­er­frei. Allein den soge­nannten Entwick­lungs­län­dern gehen nach Schät­zungen des US-Think-Tanks Global Finan­cial Inte­grity jähr­lich 1000 Milli­arden US-Dollar an mögli­chen Steu­er­ein­nahmen durch Steu­er­ver­mei­dung von Privat­per­sonen sowie globalen Konzernen, Geld­wä­scherei und Korrup­tion verloren. Lücken im gegen­wär­tigen Steu­er­system erlauben es den Konzernen zudem, ihre Gewinne nicht dort zu versteuern, wo sie ihre Wert­schöp­fung erzielen, sondern dort, wo die Steuern am tiefsten sind.

Diese Mobi­lität der Gewinne ist das poli­ti­sche Kapital der Konzerne. Sie zwingt die national orga­ni­sierten Gemein­wesen zu einer Politik, die nicht mehr der demo­kra­tisch ausge­han­delten Finan­zie­rung komplexer Gesell­schaften und ihrer Insti­tu­tionen dient, sondern der möglichst idealen Stand­ort­pflege für Konzerne. Der «Steu­er­wett­be­werb» fördert nicht, wie manche Wett­be­werbs­a­po­lo­ge­tInnen behaupten, die Viel­falt verschie­dener volks­wirt­schaft­li­cher Modelle und «effi­zi­ente» (will heissen möglichst billige) Staats­wesen, sondern drängt Gebiets­kör­per­schaften dazu, immer genau das zu tun, was ihre Nach­barn und Stand­ort­kon­kur­renten auch tun. Und das hiess in den letzten Jahr­zehnten fast immer: Steuern senken, vor allem jene von Gross­un­ter­nehmen. Wie kurz der Weg von dieser Steu­er­dum­ping­po­litik zum neuen Natio­na­lismus ist, demons­trierte kürz­lich SVP-Finanzminister Ueli Maurer am Beispiel des Konzern­tief­steuer­ge­bietes Schweiz: Wenn die Euro­päi­sche Union den Binnen­markt­zu­gang für die Schweizer Börse einschränken sollte, gab er zu Proto­koll, würde die Schweiz zu erneuten Steu­er­sen­kungen für Unter­nehmen gezwungen, um die Wett­be­werbs­fä­hig­keit der Schweiz aufrecht­zu­er­halten. Gleich­zeitig drohte Maurer der EU à la Trump mit finanz­markt­po­li­ti­schen Vergel­tungs­mass­nahmen.

Eine globale Steu­er­po­litik, die nicht auf Stand­ort­kon­kur­renz, sondern auf eine welt­in­nen­po­li­ti­sche Zusam­men­ar­beit setzt, kann dieses rechte Perpe­tuum Mobile aus Auste­ri­täts­po­litik und Natio­na­lismus stoppen. Sie kann die finan­zi­ellen Grund­lagen für neue demo­kra­ti­sche Insti­tu­tionen auf regio­naler und globaler Ebene schaffen, die die poli­ti­schen, sozialen und wirt­schaft­li­chen Rechte der Bürge­rInnen garan­tieren und durch­setzen. Diese Insti­tu­tionen könnten soziale und poli­ti­sche Umver­tei­lung auf globaler Ebene betreiben und so der Entrecht­li­chung vieler Menschen, die die Natio­na­lis­tInnen voran­treiben, entge­gen­treten. Und die entspre­chende Steu­er­po­litik könnte den zerstö­renden Stand­ort­wett­be­werb zwischen Nationen (und in der Schweiz auch zwischen Kantonen, Städten und Gemeinden) beenden, die im Inter­esse der Konzerne und ihrer Aktio­näre soziale Ungleich­heit sowie natio­na­lis­ti­sches Stamm­tisch­denken schürt und den Service public welt­weit lahm­legt.

Die Auste­ri­täts­po­litik, die sich aus dieser Stand­ort­kon­kur­renz ergibt, macht die Möglich­keit eines guten Lebens letzt­lich zu einer rein privaten Frage der indi­vi­du­ellen ökono­mi­schen Verhält­nisse und leistet damit den poli­ti­schen Menta­li­täten konser­va­tiver Natio­na­lis­tInnen Vorschub. Umge­kehrt steht eine Politik, die für offene Grenzen eintritt, gleiche Rechte für alle einfor­dert, eine gute Gesund­heits­ver­sor­gung errei­chen will und sich für eine demo­kra­tiefä­hige Medien- und Kultur­land­schaft einsetzt, nur dann auf einem stabilen mate­ri­ellen Funda­ment, wenn sie sich auch für üppige Steu­er­ein­nahmen aus Unter­neh­mens­ge­winnen, Kapi­tal­ren­diten, hohen Löhnen und privaten Vermögen einsetzt. Letz­teres haben die neoli­be­ralen Kosmo­po­li­tInnen seit den 1970er Jahren versäumt. Eine koope­ra­tive Steu­er­po­litik könnte diese Lücke füllen und Insti­tu­tionen eines demo­kra­ti­sie­renden Multi­la­te­ra­lismus poli­ti­sche Gestal­tungs­mög­lich­keiten eröffnen, die Dörfer, Städte, Länder und Welt­re­gionen aus ihrer gegen­sei­tigen Konkur­renz befreien.

Deleuze statt Cassis

Die Schweiz ist ein guter Ausgangs­punkt für eine steu­er­po­li­ti­sche Zusam­men­ar­beit auf globaler Ebene. Sie lebte in den letzten Jahr­zehnten gut davon, mit ihren tiefen Steuern andere Unter­neh­mens­stand­orte auszu­booten und den ökono­mi­schen Über­schuss, den Firmen anderswo produ­ziert haben, zu ihren Gunsten abzu­schöpfen. Diese Stra­tegie ist seit der Krise von 2008 durch neue Regu­lie­rungs­ver­suche der G20-Länder, der EU und der OECD unter poli­ti­schen Druck geraten. Weil der Steu­er­wett­be­werb und die Profit­ver­schie­bungen der Konzerne aber gleich­zeitig weiter­gehen, sind die Unter­neh­mens­steuern im globalen Vergleich seit 2008 trotz allem weiter gefallen. Das hat auch für die Schweizer Unter­neh­mens­steu­er­stra­tegie Konse­quenzen: Je enger der poli­ti­sche Spiel­raum für Steu­er­oasen wird und je tiefer die Konzern­be­steue­rung im inter­na­tio­nalen Vergleich sinkt, desto grösser werden auch die ökono­mi­schen, poli­ti­schen und sozialen Kosten, die ein Tief­steuer­ge­biet wie die Schweiz aufbringen muss, um im globalen Wett­rennen um das Kapital der Konzerne attraktiv zu bleiben.

In vielen Schweizer Kantonen spürt man jetzt schon die Folgen dieser chro­ni­schen Abwärts­spi­rale. Bald wird es unter den gegen­wär­tigen wirt­schafts­po­li­ti­schen Voraus­set­zungen ohne einschnei­dende Quali­täts­ver­luste bei der Bildung, der Gesund­heits­ver­sor­gung oder beim Kultur­angebot nicht mehr gehen. So scheint ein Struk­tur­wandel im Geschäfts­mo­dell Schweiz unum­gäng­lich. Schlimm wäre das nicht: Ein über­wie­gende Mehr­heit der Menschen in der Schweiz hätte, wie ihre Mitbür­ge­rinnen und Mitbürger in der Welt auch, ein genuines Inter­esse an einem steu­er­po­li­ti­schen Para­dig­men­wechsel, weil sie heute vom Schweizer Kapi­tal­im­port unter dem Strich nicht mehr profi­tieren. Und poli­tisch aussichtslos ist eine Schweizer Vorrei­ter­rolle für eine inter­na­tio­nale Steu­er­ko­ope­ra­tion an sich auch nicht: Als Knoten­punkt welt­weiter Kapital- und Waren­ströme verfügt das Land in der Steuer- und Finanz­po­litik über eine gute Portion trans­na­tio­naler Gestal­tungs­macht. Sie könnte sich der Welt daher für einmal auch ganz prak­tisch mit etwas andienen, was sie zumin­dest mythologisch-theoretisch schon seit jeher zu ihren Kern­kom­pe­tenzen zählt: Demo­kratie und den Einsatz für die Menschen­rechte.

Ausge­rechnet Cassis’ Stamm­tisch­land könnte zeigen, wie man sich die Welt – wie der fran­zö­si­sche Philo­soph Gilles Deleuze einst sagte – nicht von der eigenen Türschwelle aus vorstellt, sondern vom Hori­zont her.

«Mangelnde Lebensperspektiven in den Entwicklungsländern, die Zunahme fragiler Staaten und die ökologischen Risiken, allen voran die Klimaerwärmung, betreffen die ganze Welt. Alles, was der Schweiz lieb ist – Wohlstand, Sicherheit, Selbstbestimmung oder Demokratie, ist auf die Länge nicht gesichert, wenn es nicht gelingt, solche ‹lokalen› Probleme mit globalen Auswirkungen zu entschärfen. Ehemals nationale, innenpolitische Aufgaben wie die Förderung der wirtschaftlichen und sozialen Wohlfahrt, der Schutz der Umwelt, die Sicherung des Friedens sowie die Einhaltung der Menschenrechte verlangen heutzutage ‹weltinnenpolitische› Anstrengungen im Rahmen einer intensiven internationalen Zusammenarbeit.» (Programmschrift 2008, Alliance Sud)

Dieser Text erschien erstmals auf Geschichte der Gegenwart.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Dominik Gross ist Wirtschaftshistoriker und arbeitet als Verantwortlicher für Internationale Finanz- und Steuerpolitik bei Alliance Sud, der entwicklungspolitischen Arbeitsgemeinschaft von Schweizer Entwicklungsorganisationen.

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