«Natur hat Vorrang vor dem Wirtschaftswachstum»
Der freisinnige Wirtschaftswissenschaftler Hans Christoph Binswanger, geboren 1929, ist am 18. Januar in St. Gallen gestorben. Er war einer der bedeutendsten Ökonomen der Schweiz und Vorreiter der Umweltökonomie. Ihm gelang es, seine Themen Ökonomie, Ökologie und Geldtheorie miteinander zu verknüpfen und deren Zusammenhänge darzustellen, zuletzt in seinem komplexen Spätwerk «Die Wachstumsspirale» (Metropolis-Verlag, 2006).
Schon früh erkannte Binswanger, dass das heutige kapitalistische Wirtschaftssystem «einem Wachstumszwang unterliegt». Diese Erkenntnis kontrastierte mit seiner Einsicht, dass ein ständiges Wirtschaftswachstum aus ökologischen Gründen nicht durchzuhalten ist. Um diesen herausfordernden Konflikt zu entschärfen, entwickelte er schon ab den 1970er-Jahren verschiedene Modelle für eine ökologische Steuerreform. Dazu schlug er eine Lenkungsabgabe vor mit dem Ziel, die Energie als Treiber des Naturverbrauchs zu verteuern, und mit dem Ertrag daraus die menschliche Arbeit zu verbilligen.
Binswanger war in den 1970er-Jahren zusammen mit Werner Geissberger und Theo Ginsburg Leiter der Forschungsgruppe «Neue Analysen für Wirtschaft und Umwelt» (NAWU). Zu deren Mitgliedern gehörte unter andern auch der spätere Zürcher Stadtpräsident Elmar Ledergerber, der Energieexperte Samuel Mauch, der Geograf Martin Boesch, der Soziologe Wolf Linder, die Biochemikerin Joan Davis, die Raumplanerin Verena Häberli und der Sozialwissenschaftler Peter Gross, der später sagte, Binswanger hätte längst den Nobelpreis für Wirtschaft verdient.
Die NAWU-Gruppe stellte sich die Frage, wie und mit welchen Mitteln es gelingen könnte, ohne einschneidende Krisen von einer vom Wirtschaftswachstum getriebenen Entwicklung zu einem Zustand des ökologischen Gleichgewichts zu gelangen. Die Ergebnisse veröffentlichte die Gruppe im 1978 veröffentlichten «NAWU-Report» unter dem Titel «Wege aus der Wohlstandsfalle».
Hanspeter Guggenbühl hat in seiner Funktion als Journalist Hans Christoph Binswanger mehrmals getroffen. Ein ausführliches Gespräch führte er im Januar 1996 mit Binswanger, nachdem eine Gruppe von Politikern und Ökonomen um Heinz Hauser ihr «Weissbuch» mit dem Titel «Mut zum Aufbruch» veröffentlicht und darin Vorschläge für weniger Staat und mehr Wirtschaftswachstum publiziert hatte. Sein Interview mit dem kurz zuvor als Professor emeritierten Binswanger erschien erstmals am 23. Januar 1996, also vor genau 22 Jahren, in der «Berner Zeitung» und am 25. Januar in der «Basler Zeitung». Mit dem Nachdruck dieses Interviews dokumentiert Infosperber, wie sich Binswanger schon damals von andern Ökonomen unterschied. Seine Ideen warten nach seinem Tod immer noch auf ihre Verwirklichung.
Hanspeter Guggenbühl: Sie, Herr Binswanger, und Ihr Kollege Heinz Hauser haben jahrelang gemeinsam Volkswirtschaft an der Hochschule St.Gallen gelehrt. Haben Sie mit ihm zuweilen über ihr Fachgebiet diskutiert?
Hans Christoph Binswanger: Über einzelne Sachfragen ja.
Und über grundsätzliche Ziele und Inhalte der Volkswirtschaft?
Am Rand. An der Universität St.Gallen halten wir die Lehr- und Forschungsfreiheit hoch. Es wird nicht versucht, eine Einheitsdoktrin zu schaffen.
Heinz Hauser ist Mitverfasser des umstrittenen Unternehmer-Weissbuchs «Mut zum Aufbruch». Darin wird im analytischen Teil die «fehlende wirtschaftliche Dynamik in der Schweiz» beklagt, weil unsere wirtschaftliche Wachstumsrate in den letzten Jahren kleiner war als in den übrigen Industriestaaten und viel kleiner als in ostasiatischen Schwellenländern. Macht Ihnen das auch Kummer?
Ich setze mich für eine nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung ein, welche die natürlichen Ressourcen schont. Diesem Ziel muss sich das Wirtschaftswachstum unterordnen. Wachstum ist kein Selbstzweck, allenfalls ein Mittel zum Zweck, um den Wohlstand zu vergrössern, doch es muss im Einklang mit der Natur erfolgen. Wenn die Umwelt zerstört wird, geht auch der Wohlstand verloren. Die Erhaltung der Natur als unsere Lebensgrundlage hat Vorrang vor dem Wirtschaftswachstum.
Dann ist es Ihnen also egal, wenn das Wachstum in der Schweiz hinter jenem der übrigen Welt zurückbleibt?
Die Schweizer Wirtschaft, also das Bruttoinlandprodukt pro Kopf, bewegt sich heute schon auf einem sehr hohen Niveau. Wenn die Dritte Welt aufholen soll, muss unsere Wachstumsrate tiefer sein als etwa in aufstrebenden ostasiatischen Staaten, wo das Bruttoinlandprodukt pro Kopf immer noch zehn- bis hundert mal kleiner ist als bei uns. Dazu ein einfaches Zahlenbeispiel: Zwei Prozent Zuwachs auf der Basis von tausend gibt zwanzig – das ist doppelt soviel wie zehn Prozent Wachstum auf der Basis von hundert.
Mit ihren Forderungen im Weissbuch nach Deregulierung und Staatsabbau verfolgen die Unternehmer in erster Linie das Ziel, die Wettbewerbsfähigkeit der Schweiz zu verbessern und «die Produktivität durch Rationalisierung und Innovationen zu steigern». Wo stehen diese Forderungen auf Ihrer wirtschaftspolitischen Prioritätenliste?
Es braucht eine Produktivitätssteigerung, doch man darf sich nicht allein auf die Erhöhung der Arbeitsproduktivität ausrichten. Wichtiger ist die Erhöhung der Energie- und Ressourcenproduktivität, indem wir für die gleiche Wirtschaftsleistung den Naturverbrauch verringern. Damit lassen sich die Kosten senken ohne die Arbeitslosigkeit zu erhöhen.
In Ihren Büchern haben Sie wiederholt verlangt, der Verbrauch von Naturkapital müsse mittels einer Abgabe auf der Energie in die Volkswirtschaft einbezogen werden. Glauben Sie heute noch, dass diese, Ihre zentrale Forderung je realisiert wird?
Dieser Vorschlag liegt so sehr in der Logik der Sache, dass wir nicht darum herum kommen, ihn zu verwirklichen. Höhere Energiepreise sind die Voraussetzung für eine effizientere Nutzung der natürlichen Ressourcen. Mit der Verteuerung der Energie können gleichzeitig die Lohnnebenkosten gesenkt werden, denn nach meinem Vorschlag soll der Ertrag aus der Energieabgabe zur Mitfinanzierung der Renten verwendet werden, was die Arbeitgeber entlastet.
Dieses Abgabe-Modell haben Sie schon vor 20 Jahren vorgelegt, doch bisher ist nichts davon verwirklicht worden. Woher nehmen Sie Ihren Optimismus?
Ansätze gibt es immerhin; skandinavische Ländern sowie Holland und Belgien haben Energie- oder CO2-Abgaben eingeführt, wenn auch nur in bescheidenem Rahmen. In Zukunft aber wird der Druck zur Verteuerung der Energie bei gleichzeitiger Verbilligung der Arbeit aus zwei Gründen steigen: Einerseits verschärft sich das Problem der strukturellen Arbeitslosigkeit, die sich mit konjunkturellen Mitteln nicht mehr beseitigen lässt. Andererseits geht es darum, die bedrohte Finanzierung der Renten, insbesondere der Altersrenten zu sichern.
Die Überwälzung der Naturkosten auf die Verursacher verteuert vorerst einmal die Produktion. Und dieser Effekt steht völlig quer zum Ziel der offiziellen Wirtschaftspolitik und des Weissbuchs, wonach die Produktionskosten der Schweizer Wirtschaft aus Wettbewerbsgründen gesenkt werden sollen.
Nein, das stimmt nicht, denn eine Energieabgabe nach meinem Modell ist kostenneutral, weil die Einnahmen an die Wirtschaft zurückerstattet werden. Zudem kann man mit einer Abgabe, welche die Energie um sagen wir einmal 50 Prozent verteuert, die energiebedingte Umweltbelastung wesentlich vermindern, und man kann mit der Senkung der Lohnnebenkosten auch die Arbeitslosigkeit verringern, was beides Kosten spart. Unter dem Strich sinken damit die Gesamtkosten der Volkswirtschaft. Im übrigen ist auch das Weissbuch, das möchte ich betonen, für die Internalisierung der Umweltkosten im Verkehr und für eine CO2-Abgabe …
… aber nur unter dem Vorbehalt, dass solche Abgaben nicht im Alleingang eingeführt werden, sondern global harmonisiert von Feuerland bis zum Nordpol. Unter solchen Vorbehalten lässt sich eine Lenkungsabgabe auf Energie oder CO2 nie realisieren.
Meiner Ansicht nach kann und soll eine Energie- oder CO2-Abgabe im Alleingang eingeführt werden, denn das Land, dass eine solche Abgabe als erstes einführt, gewinnt Wettbewerbsvorteile.
Trotzdem fordert die Schweizer Wirtschaft gegenwärtig billigere Energie, insbesondere billigere Elektrizität für die Industrie.
Die Wirtschaft verlangt aber auch eine Senkung der Lohnnebenkosten, und diesem Verlangen kommt mein Abgabe-Modell entgegen. Die Forderung nach einer Senkung der Energiekosten aber führt in die falsche Richtung, weil die relativen Preise von Arbeit und Energie durch die einseitige Belastung der Arbeit in der Vergangenheit verzerrt worden sind.
Ihre umweltorientierte Ökonomie war populär in den 80er-Jahren, als es der Wirtschaft gut ging. Heute steht die Sorge um Wohlstand und internationale Wettbewerbsfähigkeit im Vordergrund. Hat ihre Lehre politisch abgedankt?
Im Gegenteil, sie gewinnt jetzt erst recht an Bedeutung. Statt auf Expansion und Verschwendung muss sich die Wirtschaft auf tiefere Wachstumsraten und eine Erhöhung der Ressourceneffizienz ausrichten. Sie muss lernen, den Gewinn zu erhöhen ohne den Umsatz, das Bruttosozialprodukt zu steigern.
Wir machen also mit weniger Umsatz und weniger Naturverbrauch mehr Gewinn und mehren damit den Wohlstand – das ist ein bestechendes Konzept. Weshalb ist unsere Wirtschaft nicht schon von selber drauf gekommen, weshalb setzt sie unverdrossen auf Umsatzwachstum?
Es ist eben unbequem, wenn man die alten Gleise verlassen muss. Diese Bequemlichkeit gilt es zu überwinden. Voraussetzung dafür ist, dass auch die Politik die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen mittels Energieabgbe und Minimalkosten-Planung ändert, damit es sich lohnt, Ressourcen einzusparen und damit die Kosten zu senken.
Mit tieferen Wachstumsraten steigt nach allgemeiner Erfahrung aber die Arbeitslosigkeit.
Wachstum und Beschäftigung haben sich in den letzten Jahren weitgehend entkoppelt. Trotz starkem Wachstum in den 80er-Jahren ist die strukturelle Arbeitslosigkeit nicht verschwunden. Deshalb geht es jetzt eben darum, die Beschäftigung zu fördern, indem man die Produktivität nicht bei der Arbeit, sondern bei der Ressourcennutzung steigert, und, ich wiederhole, indem man die Lohnnebenkosten senkt.
Ein weiteres Problem, das heute im Vordergrund steht, stellen die wachsenden Ausgaben und Schulden des Staates dar. Haben Sie dagegen auch ein Rezept?
Die Staatsausgaben können vor allem im Bereich der Infrastruktur gesenkt werden. Statt die Infrastruktur stetig auszubauen, wie das zum Beispiel im Verkehrssektor geschieht, sollte man das Verkehrswachstum einschränken und die bestehende Infrastruktur besser nutzen. Es gilt also auch die Infrastruktur-Effizienz zu erhöhen.
Die Autoren des Weissbuchs wollen nicht nur die Ausgaben des Staates senken, sondern auch die direkte Bundessteuer. Was halten Sie davon?
Die Senkung dieser Einkommenssteuer erachte ich als falsch; sie dient kaum dazu, die Standortattraktivität der Schweiz für Firmen zu erhöhen. Wenn man die Position der Schweiz im Standortwettbewerb verbessern will, muss man vielmehr die Lohnnebenkosten senken. Abgesehen davon führt die Senkung oder gar die Abschaffung der direkten Bundessteuer zu einer Umverteilung von unten nach oben und damit zu sozialen Konflikten. Was sich wiederum kontraproduktiv auf den Standort Schweiz auswirken würde.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine. Hanspeter Guggenbühl ist Co-Autor des Buches «Schluss mit dem Wachstumswahn», erschienen 2010 im Somedia-Verlag.
Warum es im patriarchalen Währungssystem immer Wachstum braucht erklärt neben vielem anderen Bernard Lietaer.
Er war für über 30 Jahre in unterschiedlichsten Funktionen innerhalb des Geldsystems tätig.
"Konventionelles Geld wirkt wie ein Filter, durch den die Fülle der Welt systembedingt nur als Knappheit wahrgenommen werden kann. Das fördert Konkurrenz, Angst, Neid, schlimmstenfalls Gewalt"
"Wir betrachten Geld als selbstverständlich. Aber in Wirklichkeit werden wir durch Geld auf eine Weise manipuliert, welche die meisten Menschen nicht tolerieren würden, wenn sie sich über diese Manipulation bewusst wären."
Bernard Lietaer
Seine kompletten Aussagen in einem Video auf deutsch findet man hier:
https://youtu.be/lcVTdSrLLAk
Ursachen statt Symptome bekämpfen wäre also angesagt.
Nicht Arbeit, sondern Energie und Kapital besteuern – z.B. mittels kommender Volksinitiative für eine Mikro-Finanztransaktionssteuer anstelle von Mehrwertsteuer und Bundessteuer etc. – würde bedeuten, an den Wurzeln anzusetzen.
Die Ideen von C. Binswanger werden weiter leben.
Vollgeld würde nicht nur endlich unser Geld sicher machen auf der Bank, sondern wäre ein wichtiger Schritt zu einem gerechteren Geldsystem, welches uns Bürger seit viel zu langer Zeit zu Lasten einer Finanzelite benachteiligt.
Es ist bemerkenswert, dass Herr Binswanger den Verbrauch von Naturkapital nur bei der Energie ortet. Ich würde da einen umfassenderen Ansatz, der jegliches Naturkapital beinhaltet, klar vorziehen!
@Huber. Vielleicht wäre ein bedingungsloses Grundeinkommen eine Möglichkeit. Meiner Ansicht nacht müsste allerdings zuerst der Arbeitsbegriff sozusagen säkularisiert werden. Er ist zumindest in der Schweiz immer noch stark von der Idee des protestantischen Arbeitsethos geprägt.(Im Schweisse DEeines Angesichtss. sollst Du Dein Brot verdienen.)
@Huber. Vielleicht wäre ein bedingungsloses Grundeinkommen eine Möglichkeit. Meiner Ansicht nacht müsste allerdings zuerst der Arbeitsbegriff sozusagen säkularisiert werden. Er ist zumindest in der Schweiz immer noch stark von der Idee des protestantischen Arbeitsethos geprägt.(Im Schweisse DEeines Angesichtss. sollst Du Dein Brot verdienen.)
@Huber. Vielleicht wäre ein bedingungsloses Grundeinkommen eine Möglichkeit. Meiner Ansicht nacht müsste allerdings zuerst der Arbeitsbegriff sozusagen säkularisiert werden. Er ist zumindest in der Schweiz immer noch stark von der Idee des protestantischen Arbeitsethos geprägt.(Im Schweisse DEeines Angesichtss. sollst Du Dein Brot verdienen.)
@Huber. Vielleicht wäre ein bedingungsloses Grundeinkommen eine Möglichkeit. Meiner Ansicht nacht müsste allerdings zuerst der Arbeitsbegriff sozusagen säkularisiert werden. Er ist zumindest in der Schweiz immer noch stark von der Idee des protestantischen Arbeitsethos geprägt.(Im Schweisse DEeines Angesichtss. sollst Du Dein Brot verdienen.)
@ Herr Fritsche
Ja, Sie haben recht, Arbeit wird in der Schweiz und auch anderen Ländern glorifiziert, auch wenn an den tatsächlichen Bedürfnissen vorbei «gearbeitet» wird. Arbeit kann eben auch schädlich sein, wenn Raubbau an Mensch, Tier und Natur betrieben wird, nur der Arbeitsplätze und des Geldes wegen. «Hier und da begann man sich zu fragen, ob der Sinn der Produktion wohl eigentlich darin lag, Waren herzustellen oder lediglich für Arbeitsplätze zu sorgen.» «Seit der Erschaffung des Geldes ging der eigentliche Reichtum eines Landes weitgehend in Vergessenheit, wie die fruchtbaren Böden, die grossen Wälder, die Berge, die Flüsse und Seen, die Artenvielfalt, Bodenschätze und Viehbestände, alles drehte sich nur noch um das Geld, dieses scheinbar höchste Gut, das jederzeit Mangelware war und dieser Zustand hält bis heute an.“ (Aus Goldschmied Fabian oder warum überall Geld fehlt.) Beim BGE wird sofort die Frage nach der «Finanzierung» gestellt, obwohl es immer die gleiche Geldmenge braucht, wenn z.B jemand Fr.4000-. erhält, egal ob dies durch Lohn, Rente, BGE oder was auch immer geschieht. Es sind einfach unterschiedliche Kanäle, die einen sind leistungsbezogene, die anderen leistungslose Einkommen. Auch Dividenden, Börsen- und Spekulationsgewinne, Zinsen etc. sind genau genommen leistungslose Einkommen.