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Haushalt in Afghanistan mit Wasserbassin und Solarzellen. © Mansfield, AREU

Afghanistan: Das Wüstenmärchen, das zum Horrortrip werden kann

D. Gschweng /  Solarkraft lässt in einer der harschesten Gegenden der Welt die Wüste ergrünen. Das ist nur bedingt eine gute Nachricht.

Afghanistan ist bekannt für Terror und Taliban, nicht für disruptive Technologien. Zumindest, solange sie nicht im Drohnenkrieg zum Einsatz kommen. Nachhaltigkeit und grüne Wirtschaft ist nicht das, was man in einer der am schwersten zugänglichen Gegenden der Welt erwarten würde.

Solarkraft hat in diesem gar nicht so unwichtigen Winkel der Welt unbemerkt grosse Veränderungen angestossen, die Auswirkungen auf die ganze Welt haben. Mit ökologischen Überlegungen hat das nichts zu tun.

Über der Wüste geht die Sonne auf

Das erste glitzernde Solarpaneel wurde in Afghanistan 2013 gesichtet. Der Reporter Justin Rowlatt, damals BBC-Korrespondent für Südasien, sah 2016 aus einem Militärhelikopter über Helmand die ersten Solarzellen. Das Muster am Boden wiederholte sich: ein Hof, ein paar Solarpaneele, ein Wasserreservoir.

Die Veränderung war 2016 bereits in vollem Gang. Solartechnologie hatte die Abhängigkeit der Bauern von teurem Dieselkraftstoff schlechter Qualität beendet, mit dem sie ihre Wasserpumpen betrieben hatten. Über der Wüste war die Sonne aufgegangen.

Die bebaute Fläche, 2002 noch 48’000 Hektaren, hat sich bis zum Ende der US-amerikanischen Besatzungszeit 2012 auf 157’000 Hektaren und bis 2019 auf 344’467 Hektaren vergrössert. Auf Satellitenbildern ist das rasante Wachstum gut erkennbar. Die Wüste ist grün geworden.

Die solarbetriebene Opiumfabrik

Das ist nicht nur eine gute Nachricht. Rowlatts Geschichte stellt vieles in Frage, was wir sonst als gut und erstrebenswert ansehen.

Helmand ist etwa so gross wie die Schweiz und eine der gefährlichsten Gegenden der Welt. Vor allem aber ist die afghanische Provinz zusammen mit der Nachbarprovinz Kandahar das bei weitem produktivste Opiumanbaugebiet der Welt.

Auf den Feldern wächst nicht nur Mohn, aber er ist die lohnendste Saat. Die Bauern in der Region können zwei- bis dreimal im Jahr ernten. Sie bauen auf dem neu gewonnenen Ackerland ausser Mohn auch Getreide und Gemüse an. Die Region ist aufgeblüht. Die lokalen Märkte sind von einer temporären Veranstaltung zu einer ständigen Einrichtung geworden, das Angebot ist gewachsen. Solarpaneele, zeigt ein Bild der «BBC», türmen sich meterhoch.

Nicht nur die legale Wirtschaft boomt

Für 5’000 Dollar bekommt ein Bauer in Helmand einige Paneele und eine Pumpe. Er lässt einen etwa 100 Meter tiefen Brunnen bohren und baut ein Reservoir. Das unbewirtschaftete Land urbar zu machen, ist harte Arbeit. Wer das geschafft hat, baut ein Haus und holt die Familie nach.

Am anderen Ende der Welt, in England, wird die Entwicklung genau verfolgt. Richard Brittan, ein ehemaliger Soldat, der sich mit dem Unternehmen «Alcis» auf die Analyse von Satellitenbildern spezialisiert hat, wertet auf seinen Bildschirmen aus, was in Afghanistan passiert. Er sieht Siedlungen, Felder und auch die Paneele und Reservoirs, die Rowlatt auf seinem Helikopterflug sah. 2019 zählte er mehr als 67’000 Solarpaneele im Tal von Helmand.


Zwischen 2002 (dunkle Farben) und 2019 (heller) hat die bewirtschaftete Fläche in Helmand drastisch zugenommen. (Alcis, grössere Auflösung)

5’000 Dollar sei viel Geld in Afghanistan, sagt der Wissenschaftler David Mansfield, der seit 25 Jahren zum Opiumanbau in Afghanistan forscht. Die Investition amortisiere sich aber innerhalb weniger Jahre, danach sei Wasser für die Landwirte quasi gratis.

Von 2018 bis 2019 ist die Anzahl der Brunnen von 50’000 auf mindestens 63’000 gestiegen, hat Brittan in den Satellitenbildern gezählt. Zwischen 2014 und 2019 sind jedes Jahr durchschnittlich 96’000 Menschen in die Wüste Helmands gezogen.

Corona, die Droge und die Arbeitslosigkeit in England

Dave Higham, der ebenfalls in Grossbritannien lebt, macht das grosse Sorgen. Der ehemals Drogenabhängige hilft heute anderen Menschen aus der Sucht. Über Mangel an Zuspruch zu seinem Programm «Pay it Forward» kann er sich nicht beklagen.

Denn mit dem Bevölkerungswachstum am anderen Ende der Welt wuchs auch die Opiumproduktion. Die Qualität des Heroins, das seine Klientel kaufe, habe sich verbessert, sagt Higham. Lieferengpässe wie zur Zeit seiner eigenen Drogenabhängigkeit in den 1980er-Jahren gebe es nicht mehr.

Wie viele Zeitgenossen wurde auch Higham während einer Rezession abhängig, die Zahl der Arbeitslosen stieg damals stark an. In einer Corona-bedingten Rezession könne das wieder passieren und in Verbindung mit einer Welle qualitativ guten Solar-Heroins aus Afghanistan einen scharfen Anstieg der Kriminalität auslösen, warnt er. Die meisten Abhängigen müssten stehlen, um ihre Sucht zu finanzieren.

Die Zahlen geben ihm recht. Im September 2019 beschlagnahmte die britische Polizei auf einem Containerschiff 1,3 Tonnen Heroin, die bisher grösste gefundene Menge.

Frauen und Mädchen leiden in der Wüste

Abhängige in allen Teilen der Welt sind nicht die Einzigen, für die die ergrünte Wüste eher Fluch als Segen ist. Mädchen und Frauen in Helmand leiden in der isolierten, gefährlichen und abgelegenen Wüstenregion unter schlechter Gesundheitsversorgung und fehlender Chancengleichheit.

Ausser in der Provinzhauptstadt Lashkar Gah und einem weiteren Distrikt gibt es keine Schule, die Mädchen über die Primarstufe hinaus unterrichtet. Leute, die versuchen, im Rahmen von Förderprogrammen die überproportional grosse Zahl der meist mittellosen Witwen in der Gegend zu erreichen, brauchen Geleitschutz, wenn sie in die Dörfer fahren.

Versuche, die Bauern in Helmand vom Opiumabbau abzubringen, gibt es. Doch es ist schwer, ein legales Produkt zu finden, das die gleichen Erlöse verspricht. Das findet sogar die – oft bestochene – afghanische Polizei. Einige Projekte experimentieren mit Pistazien oder Trauben. Diese aber wachsen nur, solange das Wasser fliesst. Und das ist keinesfalls sicher.

Das Grundwasser sinkt bis drei Meter pro Jahr

Die Sonne über Helmand könnte schnell wieder sinken. David Mansfield, der im April 2020 in Zusammenarbeit mit dem Thinktank AREU (Afghanistan Research and Evaluation Unit) eine Arbeit über die Entwicklung der Region veröffentlicht hat, warnt vor der unabsehbaren Entwicklung des unkontrollierten Wasserabbaus. AREU wird von verschiedenen internationalen Stiftungen und der EU finanziert.

Der Grundwasserspiegel sinkt um bis zu drei Meter pro Jahr. Die Methoden der Wasserbewirtschaftung sind nicht effektiv, auch aus den offenen Reservoirs verdunstet viel Wasser. Ein Problembewusstsein unter den Landwirten gibt es nicht. Das Wasser ist zunehmend verschmutzt von Düngemitteln und Pestiziden. Die unter anderem durch Verdrängung aus anderen Gegenden getriebene Zuwanderung hält ungebremst an.

Wenn die Sonne wieder untergeht

Ob das Bohren tieferer Brunnen ausreicht, weiss niemand. Über die Reserven der wasserführenden Schicht unter Helmand ist wenig bekannt. «Vielleicht dauert dieser Boom nicht länger als zehn Jahre», sagt die Leiterin AREUs, Orzala Nemat, zur «BBC». 1,5 Millionen Menschen im südwestlichen Afghanistan könnten dann schlimmstenfalls ihre Lebensgrundlage verlieren.

Einige, denkt Nemat, werden innerhalb Afghanistans migrieren, viele andere werden versuchen, nach Europa und Amerika auszuwandern. Was sie zur «BBC» nicht sagt, aber im Vorwort zu Mansfields Arbeit schreibt: Die ohnehin wackelige Stabilität der Region stünde in Frage. Die Bewohner Helmands, die lange Zeit unter der Schirmherrschaft der Taliban standen, halten nicht viel von der Regierung in Kabul. Die Sorge, dass Rückkehrer aus der Wüste gegen die Behörden agitieren könnten, ist gross.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

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