Das Velo ist produktiv – leider zu produktiv
Am Anfang ging der Mensch zu Fuss. Weit kam er nicht – mit viel Schweiss allenfalls 42 Kilometer pro Tag. Der erste Marathon-Läufer, der das auf die Schnelle versuchte, brach 490 vor Christus in Athen tot zusammen. Später heuerte er Tiere an, um sich fortzubewegen. Erst setzte er sich auf den Esel, in Afrika aufs Dromedar, schwang sich aufs Pferd oder spannte Pferde vor die Kutsche. Das war bequemer, aber auch aufwendiger. Um sich und ihre Last fortzubewegen, mussten die Pferde viel Futter fressen, bevorzugt Hafer.
Geboren aus der (Hungers-)Not
1816, im «Jahr ohne Sommer», als in Europa die grosse Hungersnot ausbrach, kam die Wende. Die Hungernden schlachteten ihre gefrässigen Tiere, assen sie und mussten sich wieder vermehrt auf Schusters Rappen fortbewegen. Das tat 1817 auch der deutsche Baron Karl Friedrich von Drais. Aus Bequemlichkeit setzte er sich dabei rittlings auf einen Rahmen aus Holz, an dem er vorne und hinten ein Rad montiert hatte. Diesen Rahmen und damit sich selbst trieb er sitzend voran, indem er abwechselnd mit dem einen und anderen Bein am Boden schwungvoll abstiess und sein Gefährt rollen liess.
Mit der von ihm erfundenen und nach ihm benannten «Draisine» erreichte Drais eine Geschwindigkeit von 15 Kilometern pro Stunde. Damit war der Baron auf seinem Laufrad schneller unterwegs als die damaligen Postkutschen (soweit es sie im hungernden Europa noch gab). Und vor allem: Er brauchte pro Kilometer weit weniger körpereigene Energie und damit weniger Getreide als der Marathon-Läufer oder die vor die Kutsche gespannten Pferde.
Höchste Produktivität im Verkehr
Die Erfindung des Laufrads im Jahr 1817 gilt als Geburtsstunde des Velos – darum feiern wir 2017 sein zweihundertjähriges Jubiläum. Doch perfekt wurde das Zweirad erst, als es zum reinen Fahrrad mutierte: 1878 bekam es Pedalen und eine Kette, welche die Kraft der kurbelnden Beine direkt auf die Achse des Hinterrads übertrugen. Damit hatte das Velo den heutigen Stand der Technik erreicht; was später folgte – mit Luft gefüllte Reifen, Übersetzungen, Ersatz der Holz- durch Stahl- und später Carbonrahmen, verfeinerte Bremsen, etc. – diente nur noch der Optimierung dieser Technik.
Wer sich ab 1878 auf dem Velo fortbewegte, erreichte die höchste Stufe der Transport-Produktivität. Denn eine Person auf dem Fahrrad benötigt kaum mehr Platz als eine Fussgängerin. Sie kommt doppelt so schnell voran wie ein Marathon-Läufer – und im Nahverkehr schneller ans Ziel als Leute in Autos oder öffentlichen Verkehrsmitteln. Das Velo lärmt nicht, stinkt nicht, vergiftet weder Luft noch Wasser, ist billig und energieeffizient. Zum Vergleich: Für eine Strecke von hundert Kilometern verbrennt eine Person auf dem Velo bei Tempo 20 drei Kilowattstunden (kWh) Endenergie in Form von Nahrung. Für die gleiche Distanz benötigt eine Person im Zug rund zehn Mal, im Auto 20 bis 30 Mal mehr Endenergie in Form von nicht erneuerbarem Benzin.
Vom Leicht- zum Massen-Transport
Trotz dieser Vorteile setzte sich das Velo als Verkehrsmittel nur bedingt durch. Denn im 19. Jahrhunderts drängten andere Erfindungen auf den Transportmarkt. 1825 nahm die erste öffentliche Eisenbahn in England den Betrieb auf; 1847 folgte in der Schweiz die «Spanisch-Brötlibahn». 1886 rollte mit dem «Benz-Patent-Motorwagen 1» das erste Auto mit Verbrennungsmotor auf die Strasse. 1903 starteten die Gebrüder Wright zu ersten Motorflügen.
Materielle Masse ersetzte damit die Leichtigkeit des Velos, und mit der Produktivität ging es bergab. Denn im Unterschied zum Fahrrad, das mit einem Eigengewicht von 8 bis 20 Kilo 70 Kilo schwere Personen von A nach B transportieren kann, sind Eisenbahnen, Busse, Autos und Flugzeuge viel gewichtiger als ihre menschliche Fracht. Beim Auto etwa ist die Verpackung (Tara) heute im Schnitt über zehnmal schwerer als die beförderten Personen. Ähnlich verhält es sich bei Bahnen und Flugzeugen. Dieser Massen-Verkehr verschlechterte die Produktivität des Personentransports gegenüber dem Velo gewaltig; dies sowohl material- und flächenmässig als auch energetisch.
Fremd- ersetzt Eigenenergie
Dieser Rückschritt aufs Effizienzniveau der Pferdekutschen war möglich, nachdem die Menschheit begonnen hatte, nachwachsende Nahrung durch nicht erneuerbare Energievorräte zu ersetzen. Kohle trieb Dampfmaschinen, Eisenbahnen und Kraftwerke an, die es später erlaubten, Dampf- durch Elektro-Lokomotiven zu ersetzen. Erdöl bewegt den zunehmenden Auto- sowie Luftverkehr und erlaubt es obendrein, wachsende Verkehrsflächen zu betonieren und zu asphaltieren.
Die Eisenbahnen ersetzten oder ergänzten das Velo. Die Autowelle bedrängte den nicht motorisierten Zweiradverkehr oder verdrängte ihn auf separate Fahrrad-Wege, welche die Bauwirtschaft – neben neuen Strassen und Autobahnen – auf die grünen Wiesen teerte. Diese separate Infrastruktur war nötig, um dem von stärkeren Fahrzeugen bedrohten Velo einen minimalen Anteil am Personenverkehr (in der Schweiz heute weniger als fünf Prozent) zu sichern, verminderte aber dessen materielle und flächenmässige Effizienz ebenfalls. Zudem wandelt sich das produktivste Verkehrsmittel in den letzten Jahrzehnten zunehmend zum Sport- und Lifestyle-Gerät sowie zum Freizeitvehikel.
Mehr Umsatz für die Wirtschaft
Während der Umstieg vom leichten Velo zu massigen Transportmitteln die Produktivität des Personenverkehrs senkte, erhöhte dieser Wandel den Umsatz der Wirtschaft. So belaufen sich die Gesamtkosten des Personenverkehrs in der Schweiz heute auf rund 74 Milliarden Franken pro Jahr oder annähernd 10’000 Franken pro Person. Verkehrten alle Personen in der Schweiz künftig nur noch per Velo, sänke nicht nur ihr Kilometerkonsum auf ein menschliches Mass. Auch der wirtschaftliche Umsatz im Verkehrsbereich und das Bruttoinlandprodukt würden massiv einbrechen.
Damit endet die zweihundertjährige Geschichte mit einem Paradox: Das Velo als raumsparendes, gesundheitsförderndes, genügsames, umweltfreundliches und energieeffizientes Gefährt ist als Verkehrsmittel zu produktiv. Denn ein effizienter (Verkehrs-)Konsum lässt sich mit einer wachstumsorientierten Wirtschaft nicht vereinbaren.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine. Hanspeter Guggenbühl ist Autor des Buches «Die Energiewende, und wie sie gelingen kann», Somedia/Rüegger-Verlag, Chur 2013
Als Autofahrer kann ich mir fremde Arbeit aneignen und Macht über andere ausüben. Das ist beim Umstieg aufs Fahrrad zu beachten.