SBB: Der Bahnverkehr wächst auf Pump
Das Coronavirus erfasst jetzt auch die SBB: Der Fernverkehr nach Italien sei in den letzten Tagen um 90 Prozent, jener nach Frankreich um 60 Prozent eingebrochen. Innerhalb der Schweiz reisen zurzeit 10 Prozent weniger Personen in Schnellzügen. Diese aktuellen Daten gab der abtretende Chef der SBB, Andreas Meyer, am Dienstag an der Bilanz-Medienkonferenz in Bern bekannt. Ebenfalls spürbar (aber noch nicht quantifizierbar) geschrumpft ist in den letzten Tagen auch der öffentliche Regionalverkehr.
Personenverkehr: Plus 75 Prozent in 19 Jahren
Diesem virusbedingten Rückgang, dessen Dauer zurzeit nicht absehbar ist, ging ein Jahr mit überdurchschnittlich wachsendem Bahnverkehr voraus. So stieg die Personen-Transportleistung der SBB im Jahr 2019 auf den Rekordwert von 19’700 Millionen Personenkilometer (482 Millionen Passagiere mit einer mittleren Reisedistanz von 41 Kilometer). Damit bewältigen die SBB rund 90 Prozent des gesamten nationalen Schienenverkehrs; die übrigen 10 Prozent entfallen auf kleine kantonale Bahnunternehmen.
Gegenüber dem Vorjahr entsprechen die 19’700 Millionen Personenkilometer (Pkm) km einem Zuwachs von 5,8 Prozent. Gestiegen ist auch die mittlere Belegung pro Sitzplatz der SBB-Züge, nämlich von 27,9 auf 28,9 Prozent. Die Zahl der Reisenden nahm kurzfristig also stärker zu als das Angebot an Zügen und Sitzplätzen. Die Transportleistung im Güterverkehr hingegen sank gegenüber dem Vorjahr um 3,5 Prozent auf rund 16’400 Millionen Tonnenkilometer (tkm).
Relevanter als die kurz- ist die langfristige Entwicklung: Von 2000 bis 2019 wuchs die Transportleistung der Schweizer Bahnen im Personenverkehr, immer gemessen an Pkm, um stolze 75 Prozent, jene des Gütertransportes um 65 Prozent. Dieses Wachstum verlief schubweise, denn es hängt eng mit dem Ausbau der Infrastruktur und des Angebots zusammen.
Der grösste Wachstum-Schub erfolgte 2005 nach der Eröffnung der «Bahn 2000». Danach folgten die Neat durch den Lötschberg und Gotthard, die Durchmesserlinie durch den HB Zürich sowie jüngst die grenzüberschreitende S-Bahn im Grossraum Genf. Der kurzfristig starke Zuwachs im Jahr 2019 ist vor allem auf den Einsatz von Extrazügen an nationale Grossanlässe sowie die forcierte Ausgabe von «Sparbilletten» zurück zu führen, mit denen das SBB-Management die Züge ausserhalb der Spitzenzeiten besser auslasten will.
Wachsende Subventionen, zunehmende Verschuldung
Damit kommen wir zur finanziellen Kehrseite des zunehmenden Schienenverkehrs. Diese lässt sich in fünf Worten zusammenfassen: Das Wachstum basiert auf Pump. So stieg die Verkehrsleistung der SBB kurz- und langfristig stärker als der Ertrag aus den Verkehrstarifen.
Stärker als die Tarifeinnahmen wuchsen auch die Subventionen, welche die öffentliche Hand unter verschiedenen Titeln an die Bundesbahnen (aber auch an kleine kantonale Bahnunternehmen) bezahlt: Die «Entgelte» der öffentlichen Hand allein an die SBB für die Bahninfrastruktur (inklusive Darlehen und A-fonds-perdu-Beiträge) sowie die Abgeltungen für den SBB-Regionalverkehr summierten sich im Jahr 2019 auf rund 4,4 Milliarden Franken. Die Gesamtverschuldung der SBB stieg 2019 auf über 33 Milliarden Franken. Derweil sank der «Vollkostendeckungsgrad» auf 45 Prozent. Das heisst: Die Tarife der SBB-Kunden deckten 2019 weniger als die Hälfte aller Bahnkosten; trotzdem fordert der Preisüberwacher ständig Tarifsenkungen.
Bahnsubventionen sind politisch abgestützt
Die staatliche Stützung der Schweizer Bahnen im Allgemeinen und der SBB im Besonderen widerspricht zwar dem Verursacherprinzip. Aber sie ist politisch gewollt und rechtlich abgestützt. So müssen die SBB als Unternehmen nur begrenzt rentieren; in diesem begrenzten Rahmen erzielten sie 2019 einen wenig aussagekräftigen Konzerngewinn von 463 Millionen Franken.
Mit der Subventionierung der Schweizer Bahnen verfolgen Bundesrat und Parlament sowohl soziale als auch verkehrspolitische Ziele. Einerseits gilt der Bahnverkehr als Dienst an der Öffentlichkeit. Andererseits verfolgt die Verkehrspolitik das Ziel, möglichst viel Personen- und Gütertransport von der Strasse auf die Schiene zu verlagern; aus diesem Grund hat der Nationalrat gestern Dienstag die künftigen Subventionen für den Güterverkehr massiv erhöht.
Die Verkehrsverlagerung – und ihre Grenzen
Dank dem erwähnten Ausbau der Infrastruktur und des Angebots der Bahnen sowie steigenden Subventionen ist diese Verkehrsverlagerung in den letzten beiden Jahrzehnten in begrenztem Mass gelungen. Das zeigen folgende statistischen Zahlen über die Transportanteile im nationalen Personenverkehr, immer gemessen in Pkm:
o Im Jahr 2000 betrug der Anteil der Schiene am gesamten motorisierten Schweizer Personenverkehr (exklusive Fuss- und Veloverkehr) 13,2 Prozent.
o Von 2000 bis 2019 stieg dieser Schienenanteil auf 17 Prozent, während der Anteil des privaten motorisierten Strassenverkehrs (vorab Autoverkehr) auf knapp 80 Prozent des gesamten Personenverkehrs in der Schweiz sank. Der verbleibende Anteil von rund 3,5 Prozent entfällt auf den öffentlichen Strassenverkehr (Tram und Bus).
Diese Daten zeigen auch die Grenzen der Verlagerung: Wollte die Schweiz nur schon 20 Prozent des heutigen privaten Strassenverkehrs auf die Schiene verlagern, würde sich der Verkehr auf der Schiene glatt verdoppeln. Doch das ist bei den heutigen Bahn-Kapazitäten unmöglich. Denn in Spitzenzeiten sind die Bahnen (sofern nicht gerade ein Virus die Reiselust einbrechen lässt) bereits voll aus- und zum Teil überlastet. Eine Verlagerung der – relativ kurzen – Verkehrsspitzen in die übrigen Tageszeiten mit schwacher Auslastung ist, wie die Erfahrungen zeigen, trotz Sparbilleten und weiteren Tarifaneizen nur in kleinem Umfang möglich.
Strassenverkehr wird ebenfalls subventioniert
Solange der Umfang des Gesamtverkehrs so hoch bleibt wie heute oder künftig noch weiterwächst, können die Schweizer Bahnen also nur einen kleinen Anteil des Strassenverkehrs übernehmen. Es wäre denn, der Staat würde die Schienenwege noch weit stärker ausbauen und subventionieren, als er es heute schon tut, und damit eine noch stärkere Verschuldung in Kauf nehmen.
Ähnliche Probleme stellen sich im privaten Strassenverkehr: Dieser stösst in Spitzenzeiten ebenfalls an seine Kapazitätsgrenzen; davon zeugen die wachsenden Staustunden. Zudem deckt der Strassenverkehr die von ihm verursachten Kosten ebenfalls nicht voll. Mit den Treibstoffsteuern und weiteren Abgaben finanzieren Autofahrerinnen und Gütertransporteure zwar die Kosten der Strassen und weiterer Infrastrukturen. Nicht voll gedeckt werden aber die indirekten Kosten aus Unfällen und Umweltbelastungen (hoher Platzverbrauch, Lärm, CO2-Ausstoss), die der Strassenverkehr verursacht.
Fazit: Der Staat subventioniert sowohl den Schienen- als auch den Strassenverkehr jährlich mit Milliardenbeträgen. Damit fördert er das Wachstum des Gesamtverkehrs. Auf der Strecke bleibt die Kostenwahrheit.
Weitere Artikel zu den Bahnen auf Infosperber:
– «Bahn-Bashing: Masslos und kleinkarriert»
– «Alles Meyer? Oder: Was die 32 300 SBB-Angestellten leisten»
– Dossier: Auto oder Bahn: Wer zahlt Defizite
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
keine
Die Analyse ist an sich richtig. Aber folgt aus dem Umstand, dass Bahn und Strasse gleichermassen ihre Kosten nicht voll decken, tatsächlich auch zwingend, dass Verkehrsverlagerungen zwecklos sind? Ich halte solche im Gegenteil nicht nur aus ökologischen Gründen für sinnvoll; auch ökonomisch könnten die Verluste verringert werden, wenn beide Verkehrsmittel stärker artgerecht eingesetzt würden – sprich: Für Massenverkehre die Bahn, für die Feinverteilung die Strasse. Auf den Hauptachsen sollten deshalb eher neue Bahnlinien als neue Nationalstrassen gebaut werden.
Dessenungeachtet sollte die Diskussion über die Kostenwahrheit im Verkehr natürlich weitergeführt werden. Wie könnte dieses Prinzip auf sozialverträgliche Weise durchgesetzt werden?