Greina

Der geplante Parc Adula rund um die Greina-Ebene könnte der zweite Schweizer Nationalpark werden © Raphael Weber/Pro Natura

Parc Adula oder der Wert der Wildnis

Helmut Scheben /  Der Abstimmungskampf um den Parc Adula wirft die Frage auf: Sind streng geschützte Naturreservate überhaupt noch zeitgemäss?

Wer die Wörter «Wildnis» oder «Wilderness» bei Google eingibt, der landet bald einmal bei Funktionsunterwäsche für Antarktis-Abenteuer, bei Himalaya-tauglichen Uhren, bei Freeride-Ski, Foto-Safaris in Namibia oder Luxus-Kreuzfahrten auf dem Amazonas. Von Jack Wolfskin bis Icebreaker, von Tissot bis Völkl: Die Outdoor-Ware wird als Eintrittskarte zur Wildnis verkauft.
Das Wilde und die Wildnis: Noch nie gab es so gute Brandbeschleuniger für das Konsumfeuerwerk der Outdoor-Branche. Im Gleichschritt mit der Abholzung der Regenwälder geht die Produktion von Traumwelten der Wildnis. Der Run auf die Restbestände an unberührter Natur ist nur allzu verständlich.
Denn im Zeitalter der digitalen Weltabbildung besteht die Gefahr, dass uns die materielle Realität abhanden kommt. In der urbanen Gesellschaft ersetzen elektronische Geräte und Roboter mehr und mehr die körperliche Arbeitskraft. Die Menschen suchen Wege, um zur materiellen Realität zurückzufinden. Viele verspüren ein wachsendes Bedürfnis nach physischem Kontakt mit der Natur.
Die gemietete Kuh
Im Appenzellischen kann man eine Kuh mieten. Für 300 oder 400 Franken in der Alpsaison. Man kann sie anfassen, die Kinder können sie streicheln. Man darf auch mal probeweise einen Eimer Milch von Hand melken, man bekommt Käse zum Vorzugspreis und sicher auch noch ein Buurezmorge auf der Alp.
Es ist banal festzustellen, dass die Geschichte Geschichte ist, und dass am Ende auch die Schweiz der Bergbäuerinnen und Matterhorn-Bezwinger sich in rasendem Tempo in eine Schweiz der Landschaftspfleger und Tourismus-Unternehmer verwandelt hat. Selbst wenn wir einräumen, dass die Bilder der Milka-Kuh-Schweiz und der Matterhorn-Schweiz immer nur Teil der geschäftstüchtigen Vermarktung eines Mythos waren, es gab dahinter wie bei jedem Märchen eine materielle Wirklichkeit. Aber diese Wirklichkeit ist – in einem Land in dem durchschnittlich alle 43 Minuten ein neues Einfamilienhaus fertiggestellt wird und in dem pro Sekunde mehr als ein Quadratmeter Boden zugebaut wird – längst Freiluftmuseum geworden.
Die Anfänge des Wildnis-Begriffs
Der amerikanische Geologe Ferdinand Hayden schlug 1871 dem Kongress vor, das Gebiet um den Yellowstone River als Schutzgebiet auszugrenzen. Andernfalls drohe die Gefahr, dass die Profitgier das Gebiet zerstöre (…to make merchandise of these beautiful specimens). Und der legendäre Naturforscher und Wildnis-Prophet John Muir, der um die gleiche Zeit im Yosemite-Gebiet lebte, schrieb in einem seiner Texte: «Gott hat für diese Bäume gesorgt, er hat sie vor Sturm und Flut bewahrt, aber er kann sie nicht vor Verrückten bewahren. Nur Uncle Sam kann das.»
Die USA haben heute 59 Nationalparks, und viele weitere Gebiete sind als National Monuments von der Besiedlung oder wirtschaftlichen Nutzung ausgeschlossen. Die amerikanischen Parks leiden zwar zum Teil unter dem Ansturm des Massentourismus, doch die USA haben auch echte Wilderness-Zonen bewahren können. In grossen Wüstengebieten im Südwesten ist jeglicher Zutritt mit Motorfahrzeugen untersagt. Es gibt keine Infrastruktur, man darf die Gebiete nur zu Fuss betreten, man darf keinerlei Spuren hinterlassen.
Der Streit um Schutzgebiete
In der Schweiz kämpfen nach wie vor Alpenschutzorganisationen gegen die kommerzielle Vermarktung und Verbauung der letzen Wildnisgebiete. Die grossen Kältewüsten und Felslandschaften sollen nicht zu Fun-Parks und Kletterhallen umgebaut werden.
Aber hallo, wenden viele ein, das ist doch alles sinnloses Lamentieren, viel Nostalgie und Retro-Frivolität. Wenn die Berge zum Fun-Park umgebaut werden, dann ist es eben so. Wer hat eigentlich etwas gegen Fun-Parks? Die technische Entwicklung war noch nie aufzuhalten, sagen andere. Oder hätten wir im grausamen Mittelalter stehen bleiben sollen?
Das sind recht schräge Argumentationen. Denn Zivilisationsprozesse und technische Entwicklung sind nie gradlinig verlaufen. Es gab Fortschritte, aber oft auch fatale Irtümer, die als Fortschritte gefeiert wurden und später korrigiert werden mussten. Denken wir an Tschernobyl und Fukushima.
Man kann Bäche renaturieren, wenn man gewahr wird, dass die Kanalisierung Überschwemmungen zur Folge hat. Es gibt Gemeinden, welche – statt subventionierte Schneekanonen zu kaufen – ein paar Skilifte abbauen, wenn sie sehen, dass es jeden Winter weniger Schnee hat und dass die Ruinen der Tourismus-Industrie die Gegend nicht attraktiver machen.
Überlagert von Klischees
Sicher ist Wildnis kein harmloser geographischer Begriff. Das Wort ist überlagert von Klischees. Es wurde okkupiert von literarischen Bewegungen und naturphilosophischen Thesen. Es ist kein Zufall, dass die Naturschwärmerei und Verherrlichung der Wildnis-Landschaften und des wilden Menschen («le bon sauvage») von Philosophen, Literaten und Malern ausging, die um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert im Rauch der Fabriken der grossen Städte lebten und die Industrialisierung mit ihren neuen sozialen und ökonomischen Zwängen täglich am eigenen Leib erfuhren. Wildnis war die Befreiung aus diesen Zwängen, sie wurde zum Symbol für Reinheit und Unschuld.
Natürlich ist es sinnlos, idyllischen Vorstellungen von Wildnis als einem Paradies auf Erden anzuhängen. Ein langer zivilisatorischer Prozess hat die Alpen über Jahrhunderte hinweg in eine Kulturlandschaft verwandelt. Das ist nicht rückgängig zu machen. Aber ein Restaurant mit Aussichtsplattform auf einen Gipfel zu bauen ist etwas grundsätzlich anderes als Lawinenverbauungen zum Schutz von Strassen oder Siedlungen. Es gibt eine Menge Gründe für den Schutz von noch existierenden Wildnisgebieten. Selbst diejenigen, die ihre Priorität einzig im schnellen Geldmachen sehen, dürften begreifen, dass auch geschützte Landschaften eine «Kapitalanlage» sind und eine Wertschöpfung bringen. Der Grand Canyon in den USA ist ein touristisches Milliarden-Business. Aber das muss kein Vorbild sein. Man sollte es nicht übertreiben mit der massentouristischen Vermarktung.
Das Risiko der Einsamkeit
Letztlich es geht um mehr als Ökonomie und Ökologie. Wildnis ist auch so etwas wie ein moralisches oder kulturelles Kapital. Sie ist ein Medikament gegen unseren Machbarkeitswahn. Eine Impfung gegen unsere Angst vor Kontrollverlust.
Denn Wildnis heisst: den Weg suchen. Man kann sich irren und muss umkehren. Man wird viel Zeit brauchen. Man ist der Natur ausgeliefert. Wo keine Treppenstufen, kein Klettersteig-Drahtseil uns absichern, wo kein Restaurant uns erwartet, kein Lift, keine Strasse, kein Parkplatz uns bequemes Fortkommen versprechen, dort sind wir plötzlich mit uns selbst allein und konfrontiert mit der Möglichkeit unseres Scheiterns. Letztlich wäre Wildnis also auch das Territorium, in der uns das Prekäre und Hinfällige unserer Existenz bewusst werden könnte.
Die einen halten dies für eine Chance, für andere ist es ein Horror. Eine Gesellschaft, die glaubt, sie müsse alles ständig versichert und unter Kontrolle haben, wird wirklicher Wildnis mit Misstrauen begegnen.
Wenn ich einen Satz nennen sollte, der umschreibt, was Wildnis für uns bedeuten könnte, dann wäre es eine Strophe des argentinischen Sängers Héctor Chavero, der sich Atahuallpa Yupanqui nannte:
«De tanto vivir entre piedras, yo creí que conversaban.» («Hab‘ solange zwischen Steinen gelebt, dass ich glaubte, sie könnten sprechen.»)
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Dieser Text erschien in leicht veränderter Fassung im journal21.
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Literatur:
Elsbeth Flüeler, Marco Volken u.a. «Wildnis. Ein Wegbereiter durchs Gebirge». Mountain Wilderness. Zürich 2004 (vergriffen)


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Helmut Scheben ist Vorstandsmitglied der Alpenschutzorganisation Mountain Wilderness.

Zum Infosperber-Dossier:

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