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Michael Dittmar, Autor des Gutachtens für die Fraktion der Grünen im deutschen Bundestag © srf

Kernfusion: ETH-Physiker fordert ITER-Ausstieg

Kurt Marti /  Ein Gutachten demontiert die milliardenteure Kernfusion. Der Bundesrat und das zuständige Staatssekretariat sind voll des Lobes.

Die zivile Nutzung der Kernfusion wird schon seit den 1950er Jahren erforscht. Dabei geht es im Gegensatz zur Kernspaltung um die Fusion zweier Atomkerne nach dem Vorbild der Sonne. Schon seit Jahrzehnten schwärmen die FusionsforscherInnen von dieser «unbegrenzten Energie», die es zu nutzen gelte.

Ende Juli feierten die ForscherInnen des Kernfusions-Reaktors ITER (Internationaler thermonuklearer Versuchsreaktor) einen «historischen Moment», nämlich den Beginn der Montage, nachdem der Startschuss für das Projekt schon 2007 erfolgte.

Die internationale Medienkonferenz fand auf dem Hintergrund der aktuell hängigen Entscheidungen in der EU und der Schweiz für weitere Subventionen in Milliardenhöhe statt. Neben der EU und der Schweiz sind auch die USA, Russland, China, Indien, Japan und Südkorea dabei (siehe dazu das Sperberauge: NZZ und SDA mit deutscher Brille).

«Energiegehalt von einem Kilogramm trockenem Holz»

Die technische Realität ist bedeutend weniger rosig als die Energie-Träume der ITER-Verantwortlichen. Denn obwohl seit den 1950er Jahren Milliardenbeträge in diese Forschung geflossen sind, entsprach die gesamte Ausbeute der Kernfusion beispielsweise in den 1990er Jahren dem «Energiegehalt von einem Kilogramm trockenem Holz».

Diese leicht ironische Bemerkung steht in einem Gutachten, das der Physiker Michael Dittmar, der an der ETH Zürich und am Teilchenforschungszentrum CERN in Genf forscht, im Auftrag der Fraktion der Grünen im deutschen Bundestag verfasst hat.

Das sei «eine wirklich winzige Menge», wenn man sie mit der elektrischen Energie vergleiche, die in Süddeutschland von den heutigen kommerziellen photovoltaischen Zellen erzeugt werde und die das Licht der Sonne nutze, «eines 150 Millionen Kilometer entfernten natürlichen Fusionsreaktors».

Das Gutachten zeigt minutiös auf, wie es beim neusten internationalen Kernfusions-Forschungs-Projekt ITER zu grossen zeitlichen Verzögerungen und massiven Kostensteigerungen kam. Zudem verweist das Gutachten auf die «stark reduzierten» Zielsetzungen als Folge der finanziellen und technischen Probleme.

«Gigantische Fehlberechnungen» und «explodierende» Kosten

Dittmar spricht in seinem Gutachten von «gigantischen Fehlberechnungen». Im Jahr 2007 wurde mit dem Bau des ITER-Projektes im südfranzösischen Cadarache begonnen. Anfänglich wurde mit Baukosten von fünf Milliarden Euro gerechnet. «Nur wenige Jahre nach Baubeginn» seien die Kosten «explodiert». Inzwischen belaufen sich die ITER-Kosten laut offiziellen Angaben auf rund 20 Milliarden Euro.

Laut Gutachten sind die entscheidenden ITER-Experimente zur kurzzeitigen Freisetzung von Fusionsenergie «nicht vor dem Jahr 2040» zu erwarten. Gemäss dem ursprünglichen Plan hätte dies bereits im Jahr 2025 der Fall sein müssen.

In den ersten zehn Jahren seien mit dem ITER-Forschungsreaktor «nur ‘simple’ Experimente» geplant, in denen «keine Kernfusion stattfindet», erklärte Dittmar gegenüber der SRF-Tagesschau. Das ITER-Projekt sei vor 20 Jahren unter «falschen Annahmen» bewilligt worden, «dass es das Energieproblem der Menschheit für ewig und alle Zeiten lösen» werde. Aber eigentlich habe das ITER-Projekt damit «überhaupt nichts zu tun».

Forderung nach einer Exit-Strategie

Erst die ITER-Experimente zur kurzzeitigen Freisetzung von Fusionsenergie liefern laut Gutachten die «Go/No-Go-Kriterien» für einen realistischen ersten Entwurf eines «Demonstrations-Reaktors» (DEMO), der elektrische Energie erzeugen kann. Dieses DEMO-Projekt könne «nicht vor dem Jahr 2040» beginnen.

Nach dem DEMO-Forschungsreaktor soll laut Plan der PROTO-Forschungsreaktor folgen, der letzte Schritt vor der Massen-Produktion eines zukünftigen Fusions-Reaktors nach 2050. Das Gutachten weist speziell darauf hin, dass dafür keine Kosten-Schätzungen präsentiert werden.

Fazit des Gutachtens: Die in den 30 Jahren der Planung und Konstruktion des ITER-Reaktors gesammelten Erfahrungen zeigen, dass dies «nicht die Technologie ist, die zu einer kommerziell wettbewerbsfähigen Energieproduktion führt». Deshalb fordert das Gutachten, dass «die Arbeiten für einen akzeptablen Plan zur Beendigung des ITER-Projekts jetzt eingeleitet werden», bevor weitere zweistellige Milliarden-Beträge in das Projekt investiert werden.

Lobpreisungen des Bundesrats und des zuständigen Staatssekretariats

Die Forderungen des Gutachtens sind ein Wink mit dem Zaunpfahl gegenüber Brüssel und Bern, denn die EU-Kommission will im Rahmen des Euratom-Programms 2021-2027 weitere 6,1 Milliarden Euro in den Fusions-Reaktor ITER investieren und auch der Bundesrat will sich laut seiner aktuellen Botschaft ans Parlament mit 280 Millionen Franken daran beteiligen, nachdem die Schweiz in den letzten Jahrzehnten über eine Milliarde Franken in die Fusions-Forschung investiert hat.

Im Gegensatz zum kritischen Gutachten des ETH-Physikers Michael Dittmar preisen der Bundesrat und das federführende Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation (SBFI) das ITER-Projekt in höchsten Tönen. Hier ein paar Original-Zitate aus der Botschaft des Bundesrats:

  • «ITER ist ein Pionierprojekt, mit dem eine umfangreiche Versuchsanlage gebaut und betrieben werden soll, um den Nutzen der Kernfusion als künftige saubere und nachhaltige Energiequelle aufzuzeigen. Letztlich sollte die Kernfusion eine wirksame Lösung für den Energiebedarf einer CO2-neutralen und umweltbewussten Gesellschaft liefern.»
  • «Das Hauptziel der Forschung im Bereich Kernfusion ist die Entwicklung der notwendigen Technologien für eine Nutzbarmachung dieser Reaktion, die als inhärent sichere Energiequelle praktisch unerschöpflich ist und weder CO2 noch hochaktive, langlebige radioaktive Abfälle produziert.»
  • «Ziel des Euratom-Programms (Anm. d. Red.: Kernspaltung und Kernfusion) ist es, die Forschungs- und Bildungstätigkeiten im Nuklearbereich weiterzuführen, um die kontinuierliche Verbesserung der nuklearen Sicherheit und des Strahlenschutzes zu fördern und zur nachhaltigen, sicheren und effizienten Dekarbonisierung des Energiesystems beizutragen.»
  • «Die Beteiligung an ITER ermöglicht attraktive Industrieaufträge und Forschungsmandate für Schweizer Akteure.»

Und aus einem SBFI-Bericht (2018):

  • «Dank einer breiten Nutzung der Kernfusion sollte es möglich sein, enorme Mengen an Energie zu gewinnen und zugleich die Umwelt zu schützen. Die Kernfusion verursacht nämlich praktisch keine CO2-Emissionen und erzeugt keine langlebigen radioaktiven Abfälle.»
  • «Die Beteiligung der Schweiz an ITER ist deshalb sehr wichtig, um die Wettbewerbsfähigkeit der Schweizer Kernfusionsforschung und ihres eigenen Kompetenzzentrums, des Swiss Plasma Centers an der ETH Lausanne, gewährleisten zu können.»
  • «Hinzu kommt, dass der Bau von ITER für Schweizer Forschungseinrichtungen und High-Tech-Unternehmen eine einmalige Gelegenheit ist, ihre Kompetenzen im Rahmen des grössten internationalen Vorhabens der wissenschaftlichen Zusammenarbeit, das je vereinbart wurde, einbringen und weiterentwickeln zu können

Hinweise auf die massiven Kostensteigerungen und die grossen zeitlichen Verzögerungen sucht man in der Botschaft des Bundesrats vergeblich. Stattdessen schreibt der Bundesrat: «Nach einer positiven Analyse durch unabhängige Expertinnen und Experten stimmten die Mitglieder der internationalen ITER-Organisation 2016 einer Aktualisierung des Zeitplans zum Abschluss des Baus von ITER zu.»

Und im SBFI-Bericht wird zwar erwähnt, dass sich der Bau von ITER «schon früh stark verzögert» habe und «erhebliche Mehrkosten» verursache, aber das SBFI verweist vertrauensvoll auf die «substanzielle Revision der betrieblichen und finanziellen Planung», die der aktuelle Generaldirektor der ITER-Organisation, Bernard Bigot, im Jahr 2015 vorgenommen habe.

Zudem sind die bundesrätlichen Hoffnungen in die «Dekarbonisierung des Energiesystems» durch Fusions-Reaktoren höchst fraglich, denn spätestens bis 2050 sollte gemäss Energiestrategie 2050 der CO2-Ausstoss ohnehin gleich Null sein. Wofür es dann die Fusions-Reaktoren noch braucht, sagt der Bundesrat nicht. Wenn sie bis dann überhaupt verfügbar sind.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Kurt Marti war früher Beirat (bis Januar 2012), Geschäftsleiter (bis 1996) und Redaktor (bis 2003) der Schweizerischen Energie-Stiftung (SES).

Zum Infosperber-Dossier:

SolaranlageBauernhof-1

Energiepolitik ohne neue Atomkraftwerke

Erstes, zweites und drittes Gebot: Der Stromverbrauch darf nicht weiter zunehmen.

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9 Meinungen

  • am 14.08.2020 um 12:15 Uhr
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    Endlich eine kritische Aussage über Kernfusion. Das ist ohne Zweifel eine wünschenswerte Energieform, aber ich habe mich schon oft gefragt, wie oft diese Technologie wirtschaftlich und technologisch eigentlich von den vorhandenen Erneuerbaren überholt werden muss, um zu erkennen, dass sie ein Milliardengrab ist, deren Kosten den Ausbau mit vorhandenen Erneuerbaren verhindert.
    Der einzige treibende Gedanke kann sein, dass moderne Energiekonzerne im Angesicht dezentraler Strukturen von Windkraft und Fotovoltaik weiterhin von Zentralisierung leben wollen. Diese Zentralisierung, die auch einer wünschenswerten Demokratisierung der Energie widerspricht, garantiert weiterhin grosse Gewinne. Ist das der Grund?

  • am 16.08.2020 um 20:11 Uhr
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    Habe dieses Jahr einen Beitrag über ITER in «Einstein» gesehen. Und gestaunt über die riesigen Investitionen die hier getägt werden. Das Positive: Immerhin hat man erkannt, dass solche Projekte nicht von einzelnen Ländern gestemmt werden können. Gleichzeitig habe ich vermisst, dass sich niemand kritisch mit dem Thema auseinandergesetzt hat. Seit Jahrzehnten ist das Thema präsent. Die technischen Hindernisse die überwunden werden müssen sind derart riesig, dass die notorischen Verzögerungen im Fahrplan und Ausgabensteigerungen überhaupt nicht verwunderlich sind. Energieerzeugung durch Fusion wird noch Jahrzehnte bis zur Einsatzreife brauchen. Als alternative Energiequelle zur Ablösung der fossilen Energieträger taugt sie also nicht. (Wie im Bericht erwähnt). Vielleicht werden gewisse Erkentnisse (Materialtechnologie, Steuerung von starken Magnetfeldern) gewonnen, die evtl anderweitig industriell verwendet werden können. Aber eigentlich wäre es wirklich gescheiter auf den «Fusionsreaktor» Sonne zu setzen und die Energiegewinnung durch Photovoltaik massiv auszubauen (gilt speziell für die Schweiz). Die Sonne erzeugt riesige Energiemengen und schickt uns keine Rechnung.

  • am 17.08.2020 um 16:51 Uhr
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    Hätte Bern die Milliarde in die Forschung und Förderung der Solarenergie gesteckt, wären wir bedeutend weiter mit der Energiewende. Aber von einem tollen Projekt zu träumen ist halt schöner.

  • am 17.08.2020 um 21:16 Uhr
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    Ich bin selber Physiker und freue mich sehr, dass ein (fachkundiger!) Kollege das ITER-Projekt fundiert kritisiert. Ich selber bin Experimentalphysiker und habe mich mit kernmagnetischer Resonanz beschäftigt, d.h. ich bin «etwas weit weg» von der Kernfusion. «Gefühlsmässig» habe ich das Projekt natürlich von Anfang kritisiert. Aber schön ist. dass ein Hochenergiephysiker, der am CERN arbeitet, die Sache fachlich kritisiert! Endlich! Danke!

  • am 21.08.2020 um 18:12 Uhr
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    Danke für den guten Artikel.
    Es geht nicht um Energie sondern um Arbeitsplätze für gut ausgebildete Personen. ITER ist kein Forschungsprojekt sondern eine Arbeitsbeschafungssmassnahme und dient dazu Grosskonzernen wie Siemens lukrative Aufträge zuzuhalten. Darum hat auch niemand ein Interesse daran, dass Projekt auch abzuschliessen, sonst versiegen die goldenen Füllhörner.

  • am 22.08.2020 um 03:11 Uhr
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    Auch wenn ich kein Physiker bin wie Hr. Dittmar, gewisse physikalische Grundlagen kenne ich. Mein Gefühl sagt mir dass die Zukunft genau auf Fusion rausläuft. Und dass daher dieses ITER Projekt ein Schlüsselprojekt für die zukünftige Energieversorgung ist. Es erscheint mir plausibel, dass mit der Fusion in Zukunft viel mehr Energie mit weniger Abfall oder Emissionen produziert werden kann. Ich glaube ehrlich gesagt nicht daran, dass die heutigen konventionellen erneuerbaren Energien in 100-200 Jahren überhaupt noch eine grosse Rolle spielen. Denn z.B. Solarenergie funktioniert nur in Ländern mit viel Sonneneinstrahlung. Im Norden geht das nicht. Windstrom ist sicher auch wichtig vor allem in nördlicheren Ländern aber auch das hat sicher viele Haken.
    Auch wenn das Projekt letzten Endes Unmengen an Geld kostet. Meiner Meinung nach ist es eine Investition in die Zukunft und weil Energieerzeugung etwas vom Allerwichtigsten ist, sind diese Summen gerechtfertigt. Da gibt es anderes was auch viel kostet aber überhaupt keinen Nutzen bringt. Das Militär zum Beispiel. Für nichts. Militär zerstört und tötet. Aber x Milliarden werden jedes Jahr in Waffen investiert. Oder das Cern. Wie viel hat denn das Cern bis jetzt gekostet? Sicher auch viele Milliarden. Und was hat es gebracht? Ist das Cern wichtiger als ITER? Glaube nicht.
    Eine Energieerzeugung nach dem Vorbild der Sonne finde ich wirklich sinnvoll, auch wenn es noch lange dauern wird bis das funktioniert.

  • am 29.08.2020 um 12:47 Uhr
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    Ich wollte als Junge auch Fusionsforscher werden und studierte dann Physik. Noch während des Studiums lernte ich aber die viel wirksamere Windenergie und später Sonnenenergie kennen und arbeitete als Solaringenieur. Was will man mehr, eine Fläche am Sonnenlicht macht Strom! (Auch im Norden, Herr Piquerez) Jahr für Jahr, auch wenn mit nächtlichen Unterbrüchen und Wolken-bedingten Fluktuationen.

    Der scheinbar eleganten Fusion weine ich nicht nach. Auch unlimitierte, emissionsfreie Gratisenergie würde unsere Probleme nicht lösen, und die Fusion ist dies bei weitem nicht, wie der Artikel teilweise beschreibt.

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