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Kleiner Frauenanteil, viel sexuelle Gewalt: Plenarsaal Europaparlament © flickr

Viel sexuelle Gewalt in Europas Parlamenten

Andreas Zumach /  Weibliche Abgeordnete in Europa leiden nicht nur unter sexuellen Übergriffen. Sie haben auch Mühe, sich dagegen zu wehren.

In den Parlamenten der 47 Mitgliedstaaten des Europarates sind sexuelle Belästigung, Missbrauch und Gewalt gegen weibliche Abgeordnete und Mitarbeiterinnen offenbar weit verbreitet. Und in den meisten dieser Parlamente haben die betroffenen Frauen nur mangelhafte Möglichkeiten, sich ohne Risiko auf Repressalien vertraulich zu beschweren. Ebenso unzureichend sind die Mechanismen für Ermittlungen und für Sanktionen gegen die männlichen Täter.

Zu diesem Schluss führt eine gemeinsame Studie der Interparlamentarischen Union (IPU) und der parlamentarischen Versammlung des Europarates (PACE), die am Dienstag in Genf veröffentlicht wurde. Für die Studie erhielten alle weiblichen Abgeordneten aus den nationalen IPU-Delegationen der 47 Mitgliedsstaaten des Europarates sowie Parlamentsmitarbeiterinnen aus diesen Ländern einen ausführlichen Fragebogen. Die Untersuchung basiert damit auf der Befragung von rund 250 weiblichen Abgeordneten, die Mitglied der IPU sind.

81 Abgeordnete aus 45 Parlamenten – also rund ein Drittel der Befragten – plus 42 Mitarbeiterinnen erklärten sich zur Beantwortung und zu vertraulichen Interviews bereit. Lediglich aus Malta und der Slowakei erhielt die IPU keine Antwort. Die in der Studie wörtlich zitierten Antworten der insgesamt 123 Frauen wurden zu ihrem Schutz anonymisiert, so dass keine Rückschlüsse auf ihre Identität, ihr Herkunftsland oder ihre parteipolitische Zugehörigkeit möglich sind.

Erschreckende Ergebnisse mit einer Relativierung

Von jenen Parlamentarierinnen, die an der Umfrage teilnahmen, haben «85 Prozent psychologische Gewalt erlitten», sei es durch sexuelle Belästigung und Übergriffe, andere Formen körperlicher Bedrohungen sowie durch sexistische Bilder von ihnen und anzügliche Texte über sie, die in Zeitungen, Rundfunk und Fernsehen oder auf Facebook, Twitter oder anderen sogenannten sozialen Medien erschienen sind. Fast 47 Prozent der Antwortenden wurden gar mit dem Tod, Vergewaltigung oder Schlägen bedroht. Knapp 25 Prozent wurden Opfer sexualisierter Gewalt, weitere fast 15 Prozent der Befragten erlitten andere Formen körperlicher Angriffe. Die Gewalttäter waren zu 77 Prozent männliche Abgeordnete der eigenen Parlamentsfraktion oder anderer Fraktionen.

Der hohe Anteil von 85 Prozent durch Gewalt und/oder sexuelle Belästigung betroffener Frauen ist erschreckend hoch. Aus Plausibilitätsgründen muss diese drastische Zahl allerdings etwas relativiert werden. Denn es ist anzunehmen, dass das Drittel der Abgeordneten, die an der Umfrage teilnahmen, stärker von den genannten Übergriffen betroffen war als die zwei Drittel, die an der Umfrage nicht teilnahmen. In der IPU-Studie wird denn auch offen vermerkt, sie erhebe «nicht den Anspruch, statistisch repräsentativ» zu sein.

Angst vor Repressalien limitiert Beschwerden

Die Studie zeigt weiter, dass in den Parlamenten eine grosse Mehrheit der betroffenen Frauen über die erlebte sexuelle Belästigung und Gewalt schweigt, etwa aus Angst vor Repressalien, Jobverlust und anderen Nachteilen. Lediglich 23 Prozent der befragten Abgeordneten und nur 12,5 Prozent der Mitarbeiterinnen gaben an, sie hätten sich beschwert. Viele beklagen sich über die völlig unzureichenden Möglichkeiten und Mechanismen für vertrauliche Beschwerden, Ermittlungen sowie ungenügende Sanktionen gegen die männlichen Täter.

Eine Parlamentsmitarbeiterin berichtet, sie habe nach einer Beschwerde über sexuelle Belästigung durch einen Abgeordneten ihren Job verloren, während der Täter nach wie vor völlig unbehelligt im Parlament sitze. Die Angst vor Repressionen liefert auch eine Erklärung, dass zwei Drittel an der Umfrage nicht teilnahmen.

Diese Regionaluntersuchung der IPU in europäischen Parlamenten deckt sich im Wesentlichen mit den Ergebnissen einer früheren Studie, für die 2016 Frauen in 39 Parlamenten aus allen fünf Kontinenten befragt wurden. In den kommenden Jahren will die IPU auch Regionalstudien in Asien, Afrika und Lateinamerika durchführen. Die USA sind bislang nicht Mitglied der IPU.

Die IPU und ihre Ziele

Zur 1889 in Paris gegründeten IPU mit Sitz in Genf gehören als Mitglieder die nationalen Parlamente aus 178 der 193 UNO-Staaten. Zu jährlichen IPU-Generalversammlung kommen rund 1200 Delegierte aus diesen Parlamenten zusammen. Eines der Hauptanliegen der IPU ist die Erhöhung des Frauenanteils in den Parlamenten. Bis 2020 soll er im Durchschnitt der 178 Mitglieder bei mindestens 30 Prozent liegen.

Weiterführende Informationen


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