Ukraine: Vielleicht erwacht Europa doch noch
«Die Korruption prägt in der Ukraine den Alltag: Es gibt bestechliche Ärzte, Polizisten, Beamte oder Professoren, die Universitätsabschlüsse für ein paar hundert US-Dollar verkaufen. Die Korruption erschöpft sich aber nicht nur im Fehlverhalten einzelner, oft kümmerlich bezahlter Beamter, sondern formt die Grundstruktur der politischen Ökonomie – und gerade deshalb ist sie so schwer zu bekämpfen. Es ist ein System, in dem Macht reich macht und Reichtum mächtig, in dem zwar die Form des bürgerlichen Staates existiert, aber letztlich doch Netzwerke im Hintergrund den Staat kontrollieren, um sich zu bereichern.»
Der dies schreibt, ist Paul Simon, ein im deutschen Münsterland aufgewachsener und heute in Kiew lebender Journalist in der Monatszeitschrift «Blätter für deutsche und internationale Politik», die für ihre journalistische Qualität bekannt ist.
Paul Simon im gleichen Artikel an anderer Stelle:
«‹Es ist die beste Ukraine, die es je gegeben hat›, sagte etwa noch Ende September 2018 Andreas Lier, Präsident der Deutsch-Ukrainischen Industrie- und Handelskammer, im Gespräch mit der Zeitung ‹Kyiv Post›. Zwar gebe es bei der Privatisierung von Staatsbetrieben, der Deregulierung, dem Kampf gegen die Korruption und strukturellen Wirtschaftsreformen noch viel zu tun. Aber das deutsch-ukrainische Handelsvolumen nehme zu, und bereits jetzt seien 2000 deutsche Firmen in der Ukraine aktiv. Die Fertigungsketten der deutschen Autoindustrie, die sich seit Jahrzehnten wie ein Netz über Osteuropa ausbreiten, reichen mittlerweile bis hinter das westukrainische Lwiw, wo zehntausende Ukrainer vor allem einfache Teile wie Kabel für die deutschen Weltmarktführer produzieren. Mit Monatslöhnen ab 200 Euro kann die Ukraine selbst mit Asien konkurrieren – befindet sich aber, dank des 2017 in Kraft getretenen Freihandelsabkommens, nur eine Lastwagenfahrt vom EU-Markt entfernt.»
Überrascht? Nicht wirklich. Der Deutsch-Ukrainischen-Handelskammer geht es vor allem um tiefe Gestehungskosten, und da kommt die Ukraine mit ihren krisenbedingten Tiefstlöhnen grad zur richtigen Zeit.
Paul Simon weiter:
«Kaum ein Land in Osteuropa hat derart unter dem Zusammenbruch des Kommunismus gelitten wie die Ukraine. In den 1990er Jahren brach nicht nur die Wirtschaft zusammen, sondern ein ganzes um die Industrie- und Agrarproduktion organisiertes Gesellschaftssystem. Während Millionen Menschen verarmten oder das Land verliessen, übernahmen halbkriminelle Oligarchen-Clans die Kontrolle über den Staat. Anders als in Russland gab es keinen Gasreichtum, der für Wohlstand sorgen konnte, und keine starken staatlichen Institutionen, die Stabilität garantierten. So war die Ukraine zwar immer demokratischer, aber auch instabiler und korrupter, und vor allem bis heute sehr viel ärmer als ihr grosser Bruder im Osten. An diesem Erbe trägt das Land bis heute. Die Ukraine brauchte fast 20 Jahre, um auch nur das Bruttosozialprodukt der Sowjetzeit wieder zu erreichen. Und sie brauchte eine Revolution und Jahre der vom Internationalen Währungsfonds (IWF) erzwungenen Reformen, bis sich auch westliche Investoren zuversichtlich zeigten. In deren Augen ist die Ukraine jetzt endlich open for business.»
Land der Oligarchen
Paul Simon weiter:
«Allerdings stellt sich die Frage, wie viele Bewohner des Landes dem Satz zustimmen würden, sie lebten in der ‹besten Ukraine, die es je gegeben hat›. Denn man kann auch ein anderes Bild des Landes zeichnen. In diesem Bild ist der ukrainische Staat noch immer korrupt und undemokratisch, beherrscht von den gleichen Oligarchen, die das stagnierende Land seit seiner Unabhängigkeit ausplündern. Es ist ein Land, in dem der Lebensstandard seit Jahren kaum gestiegen ist und dem Millionen Menschen den Rücken kehren. Ein Land, in dem Patriotismus und Militärparaden überdecken sollen, wie zerrissen die Gesellschaft ist, und die nationalistische Rhetorik der Regierung diesen Riss noch vertieft. In dem nicht nur russische Medien von Zensur und Verboten betroffen sind, Oligarchen alle grossen Fernsehsender kontrollieren sowie kritische Aktivisten und Journalisten ungestraft eingeschüchtert und angegriffen werden können. Wo Minderheiten und Oppositionelle sich bedroht fühlen, aber Neofaschisten unbescholten und selbstbewusst auf den Strassen marschieren. Nur 25 Prozent aller Ukrainer (Bewohner der Kriegsgebiete ausgenommen) glauben einer Umfrage vom Sommer zufolge, dass es der nachfolgenden Generation besser gehen wird. Im Osten des Landes ist die Zahl besonders niedrig, aber selbst in der Hauptstadt Kiew glauben nur 30 Prozent an eine bessere Zukunft.»
Und dann diese Analyse:
«Die wichtigste Ursache des ukrainischen Pessimismus ist nicht der Krieg, sondern die Verfasstheit der Gesellschaft. So sagen 83 Prozent, es sei ihnen wichtig, dass die Ukraine sich zu einer funktionierenden Demokratie entwickle, aber Hoffnungen darauf hegen wenige. Offenbar haben die meisten Ukrainer immer noch das Gefühl, in einer Art dysfunktionalem Obrigkeitsstaat zu leben, dessen Machthaber vor allem an ihrem privaten Vorteil interessiert sind. Nur sechs Prozent glauben, dass sich die Regierung für ihre Meinung interessiert. Solche Zahlen stellen der politischen Entwicklung seit 2014 ein niederschmetterndes Zeugnis aus. Kein einziger etablierter Politiker der Vergangenheit oder Gegenwart wird von der Bevölkerung positiv gesehen. Nur vier Prozent geben an, den seit 2014 amtierenden Präsidenten Poroschenko bei der bevorstehenden Präsidentschaftswahl wählen zu wollen, ganze 80 Prozent lehnen ihn ab – immerhin darin ist das Land geeint.»*
Selten gehörte Aussagen
Paul Simons Analyse des Zustandes der Ukraine heute erstaunt. Nicht weil sie nicht richtig wäre, im Gegenteil. Sie beschreibt die ukrainische Realität in beachtlicher Schärfe – und das ist das Erstaunliche. Im Rahmen der von den USA forcierten weltweiten Russophobie berichten die meisten westlichen – auch europäischen – Medien über die Ukraine, wenn überhaupt, sehr einseitig und beschönigend, weil sie dieses Land geopolitisch auf der Seite des Westens und vor allem als künftiges Mitglied der NATO haben wollen. Und, wie oben erwähnt, die Wirtschaft das Land natürlich auch als Tieflohn-Land nutzen will. Da ziemt es sich nicht, es so zu beschreiben, wie es wirklich ist: gesellschaftlich weiter von den sogenannten «europäischen Werten» entfernt als das gebetsmühlenartig verteufelte Russland.
Eine Ausnahme nur?
Eigene Korrespondenten in der Ukraine haben die Medien kaum mehr. Zu teuer – und wer interessiert sich denn schon für die Ukraine? Sie wird meist von den Korrespondenten in Moskau «betreut», und diese haben ja meist den Auftrag, zu berichten, wie viel in Moskau, aus westlicher Sicht, schief läuft.
Aber selbst diese Moskauer Korrespondenten kommen nicht mehr ganz darum herum, die Probleme in der Ukraine wenigstens anzutippen. Ein schönes Beispiel ist Alice Bota, die Moskauer Korrespondentin der deutschen Wochenzeitung «Die Zeit», die üblicherweise ziemlich Zeit-Herausgeber Josef Joffe-kompatibel Russland und natürlich speziell Putin in die Pfanne haut. Jetzt war sie in Kiew, und, oh Wunder, sie hatte sogar den Mut, den Premierminister Wolodymyr Hroisman auf die rasant wachsende Neonazi-Szene anzusprechen. Ein Ausschnitt aus dem Interview:
«ZEIT: Am Wochenende wurde eine Transgender-Demonstration von Rechtsextremen gesprengt, die Polizei schaute tatenlos zu. Das sind nicht die einzigen Probleme mit der politischen Rechten. Es gibt das rechtsextreme Bataillon Asow. Es gibt die rechtsextreme Organisation S-14, die sich mit Überfällen auf Roma brüstet und mit Steuergeldern unterstützt wird. Warum lassen Sie (als Premierminister) das zu?
Hroisman: Ich wurde kürzlich über die Situation mit S-14 unterrichtet. Wir werden uns darum kümmern.
ZEIT: Es wäre jedenfalls ein starkes Symbol, wenn die Regierung gegen rechtsextreme Einstellungen vorgehen würde. Warum tun Sie das bei Asow nicht?
Hroisman: Wie kommen Sie darauf? Sie müssen unterscheiden zwischen Asow als NGO und als militärische Unterorganisation, die das Land im Osten verteidigt. In dem Bataillon gibt es keine Rechtsextremisten. Sie werden aus den Staatsorganen ausgeschlossen. Auf die NGO haben wir keinen Einfluss. Ich als Premierminister teile keine Ideologie, die sich auf Gewalt und die Verbreitung von rassistischer und religiöser Diskriminierung gründet.
ZEIT: Wir wollen gern wissen, was die Regierung gegen die Rechtsextremisten tut.
Hroisman: Die nationale Polizei ist gerade erst im Entstehen begriffen: neue Leute, neue Waffen, neue Ausbildung, neue Taktik. Wir kämpfen gegen Intoleranz in der Gesellschaft. Auch wenn es unangenehme Vorfälle gibt, heisst das nicht, dass die Regierung nichts tut. Im Verlauf der vergangenen Jahre ist es auf den Strassen schon viel ruhiger und sicherer geworden. Denken Sie an die LGTB-Parade! Sie verlief ruhig. Das hat nicht nur mit der Polizei zu tun, sondern auch mit der Wirtschaft und dem Wohlergehen der Bürger. Dafür reformieren wir das Land.
ZEIT: Sie stammen aus einer jüdisch-ukrainischen Familie. Wie fühlen Sie sich, wenn Sie Rechtsextreme auf den Strassen marschieren sehen?
Hroisman: Das passiert leider in vielen europäischen Ländern, meine Gefühle sind da stets dieselben, ob hier oder jenseits der Grenzen. Es ereignen sich Tragödien, neulich in den USA etwa. Man darf da nicht gleichgültig sein. Deshalb muss absolute Ordnung herrschen, der Bürger muss sich sicher fühlen. Für mich ist die extrem rechte Ideologie inakzeptabel. Sie führt zu Gewalt.»
Kritisch und hartnäckig fragen tönt anders. Aber immerhin: Wenigstens mit ihren Fragen hat die Zeit-Korrespondentin den Leserinnen und Lesern mitteilen können, dass es in der Ukraine mitnichten rund läuft – siehe Paul Simon oben.
* * * * *
Das Aufmacher-Bild ist ein Screenshot aus einem Video, das zeigt, wie Tausende Neofaschisten mit Fackeln unbehelligt durch Kiews Strassen ziehen dürfen, um den 110. Geburtstag des ukrainischen Nationalisten und Kriegsverbrechers Stepan Bandera zu feiern. Siehe vor allem ab Minute 5:
Ergänzende Informationen
Red. Besonders in geopolitischen Auseinandersetzungen versuchen alle Konfliktparteien, ihre eigenen Absichten zu vertuschen, die Gegenseite zu diskreditieren, falsche Fährten zu legen und die Medien zu instrumentalisieren.
Als Zweitmedium gehen wir davon aus, dass unsere Leserschaft die von grossen Medien verbreiteten Informationen bereits kennt. Deshalb fokussiert Infosperber auf vernachlässigte Fakten, Zusammenhänge und Interessenlagen. Das kann als einseitig erscheinen, soll aber die grossen Medien ergänzen.
Immer mehr Bürgerinnen und Bürger schätzen unsere Zusatzinformationen, um sich eine eigene Meinung zu bilden.
* Die Wiedergabe der Zitate des Artikels aus den «Blättern» erfolgt nach Rücksprache mit dem Autor des Artikels.
Kleiner Nachtrag:
Am 24. Januar 2019 haben die Schweiz und die Ukraine in Davos – offensichtlich am WEF – ein revidiertes Doppelbesteuerungsabkommen abgeschlossen. In der Präambel wird festgehalten, dass der Bundesrat der Schweiz und die Regierung der Ukraine «vom Wunsch geleitet» sind, «ihre wirtschaftlichen Beziehungen weiterzuentwickeln». Im Streitfall ist ein Schiedsgericht vorgesehen.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Zum Autor. Es gibt keine Interessenkollisionen.
Bei der Analyse der Situation in der Ukraine stelle ich mir 2 Fragen.
– F-1: Was suchen die USA in der Ukraine? Was mischen sie sich in Europa ein?
– F-2: Wieso akzeptieren wir West-Europäer:Innen nicht, dass die ukrainische Gesellschaft für die Demokratie nicht reif ist? Wäre eine Brücken-Funktion zwischen Russland + West-Europa für Europa in den nächsten 20 Jahren nicht deutlich gesünder, als was derzeit dort abgeht?
Ein grossartiger Artikel! Und das ausgerechnet von zwei Deutschen Journalisten, wovon der Eine, Paul Simon, sogar in Kiew (über)lebt – wie lange noch, stell ich mir die Frage? – und die Andere, zwar im wie bekannt nicht bloss für Journalisten totaL freien Moskau lebend, aber für eine Deutsche Wochenzeitung arbeitend, deren Herausgeber derartige Wahrheiten m.W. bisher nie in seinem Wochenblatt abdrucken liess.
Deshalb gebührt mein ausdrücklicher Dank diesen beiden Deutschen und selbstverständlich auch dem INFOSPERBER, der sich damit der kleinen Elite im Westen noch immer existierenden echter Journalisten zugesellt – weshalb ich ihn ab sofort auch mit einem kleinen monatlichen «Zustupf» unterstützen will.
Anmerken möchte ich aber noch, dass inzwischen nicht nur in der Ukraine «Oligarchen» – oder Super-Reiche – die Berichterstattung der Massenpresse einschliesslich Funk- und Fernsehen dominieren, sowie dass die katastrophale Entwicklung der Ukraine nicht nur am fehlenden Gasreichtum lag, sondern daran, dass mit PUTIN ein besonders kluger und unbestechlicher Russe das Kommando übernehmen konnte, wofür die ganze Welt dem Alkoholiker Jelzin zu Dank verpflichtet ist! Wer DAS bezweifelt empfehle ich, die Beiden soeben erschienen Bücher zu lesen:
VLADIMIR PUTIN von Thomas Röper
Die Putin Interviews von Oliver Stone
Europäer: Volk der Dichter und Denker? Von Denken sehe ich keine Spur. Brzezinski schrieb es im Buch Schachbrett Ukraine; des Tiefenstaates: Project for the New American Century; bereits beim Genozid gegen die Native Americans war dessen Ausdehnung auf ganzen Planet geplant, damals Personalmangel, inzwischen via Technisierung in Griffweite gerückt. Spätestens wenn Ukraine, Georgien (verrückt, wenn man sich das mal überlegt) in der US-Nato sind (US-Truppen stehen heute schon wenige hundert Kilometer vor Moskau) dürfte die False Flag zuschlagen, Schlachtfeld Europa (wir Europäer sind die Dummen, unser Begräbnis sogar selbst bezahlen), mehr als einen Ozean entfernt von der Armageddon-Urheber Insel der Glückseligen, sprich: «Auserwählten Volk» US-Elite. Historisch empirisch verifiziert.
Der Postfaschismus in der Ukraine gedeiht nur deswegen so gut, weil die Medien und die «Demokratien» im Westen dieses Thema totschweigen. Es gibt praktisch keine Partei, keine Regierung und auch keine jüdischen Verbände, welche gegen diese Entwicklung Sturm laufen. Auch werden keine Sanktionen oder Boykotte angeordnet.
Angesprochen auf die Rechtsextremisten und Asow, windet sich der ukr. Jude Grojsman im Interview wie ein Aal. Er verallgemeinert und spielt das ganze herunter, wohl, um keine Probleme mit solchen Gruppen zu bekommen, die ja immer zahlreicher und stärker werden.
Mit anderen Worten: die Ukraine ist nach dem Putsch das geworden, weil der «Wertewesten» eine zu passive Rolle eingenommen hat. Und man bekommt den Eindruck, dass ein andauernder Störefried an der Haustüre Russlands aus geopolitischen Überlegungen so gewollt war.