Erdogan will grünes Licht für schamlosen Flüchtlingsdeal
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan nutzte Ende September das Podium der UN-Generalversammlung, um der Weltöffentlichkeit seine jüngsten aussenpolitischen Pläne zu verkünden: Die Türkei habe zum Ziel, in Nordsyrien einen 30 Kilometer tiefen und 480 Kilometer langen «Friedenskorridor» zu schaffen, sagte er. Dann zeigte er eine grosse Syrien-Karte, auf der mit dicker roter Linie ein Gebiet eingezeichnet war, das sich entlang der gesamten türkisch-syrischen Grenze bis zum Irak hinzog. In diesem Gebiet könnten bis zu zwei Millionen syrische Flüchtlinge aus der Türkei untergebracht werden, erläuterte er. Sollte die Tiefe des Friedenskorridors bis zu den syrischen Städten Deir-ez-Zor und Raqqa ausgeweitet werden, könnten gar bis zu drei Millionen Flüchtlinge zurückgeschafft werden, fügte er begeistert hinzu.
Der türkische Präsident pries in seiner «blumigen» Rede die Türkei, «diesem in Flüchtlingsfragen so grosszügigen Land», und forderte seine Zuhörer nachdrücklich auf, Ankara bei seinen Bemühungen beizustehen. Der türkische Friedenskorridor in Syrien würde das Problem der syrischen Flüchtlinge schliesslich nicht nur für die Türkei radikal lösen, sondern auch für den Nahen Osten und für Europa ohnehin.
Bruch internationalen Rechts
Die Türkei hat zweifelsohne ein ungelöstes Flüchtlingsproblem: Mit über drei Millionen syrischen Flüchtlingen beherbergt sie mehr Schutzsuchende aus dem zerstörten Nachbarland als je ein anderer Staat. Das fordert einen sehr hohen Preis von der Türkei, deren Wirtschaft von Krisen geplagt ist. Seit diesem Frühling rücken zudem die syrischen Truppen offenbar unaufhaltsam in Richtung Idlib, der Hochburg der syrischen Opposition, vor. Ein Fall Idlibs könnte von neuem eine grosse Flüchtlingswelle in Richtung Türkei auslösen. Davor hat Ankara Angst – zu Recht: Dem Internationalen Roten Kreuz zufolge sollen bereits über eine halbe Millionen verzweifelter, aus Idlib vertriebener Menschen vor der syrisch-türkischen Grenze stehen und Einlass in die Türkei fordern.
Was Erdogan vom Podium der UN-Generalversammlung aus aber forderte, war ein unverfrorener Appell an die Weltgemeinschaft, das internationale Recht zu brechen. Zwei oder drei Millionen Flüchtlinge ohne ihre ausdrückliche Zustimmung aus der Türkei nach Syrien zu schaffen, würde grob gegen das Recht auf Non-Refoulement verstossen. [Red. Krass gegen das Völkerrecht verstossen auch die anhaltenden türkischen Bombenangriffe auf syrisches Gebiet und die Besetzung und Annexion von Nordsyrien. Das besetzte Gebiet umfasst bereits 6500 Quadratkilometer.]
Der Nordosten Syriens bis zum südlichen Raqqa, in dem der türkische Präsident die Flüchtlinge anzusiedeln gedenkt, ist zudem kein «No Man’s Land». Dieses Gebiet ist absolut identisch mit der «Demokratischen Föderation Syriens», dem Rojava der Kurden. Bis zu vier Millionen zählt Rojavas einheimische Bevölkerung, die sich aus Kurden und Arabern, aus Assyrern sowie Armeniern zusammensetzt. Zwei bis drei Millionen syrische Flüchtlinge nach Rojava umzusiedeln, würde die Vertreibung eines Grossteils der einheimischen Bevölkerung bedeuten und damit eine drastische ethnische Säuberung voraussetzen. Auch dies wäre ein grober Bruch internationalen Rechts. Und es würde das Ende Rojavas bedeuten.
Worum geht es in Wirklichkeit?
Die Entstehung des selbstverwalteten Rojavas geht, absurderweise, auf den Vormarsch des Islamischen Staats (IS) im Jahr 2014 zurück. Die IS-Dschihadisten, die in Irak sowie in Syrien eine Stadt nach der anderen eroberten und noch als völlig unbesiegbar galten, stiessen damals an den Toren der kleinen Grenzstadt Kobane auf einen erbitterten Widerstand der Kurden. Sie konnten Kobane nie einnehmen und wurden dort 2015 erstmals besiegt. Der Widerstand der syrisch-kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG) überzeugte offenbar die Obama-Administration, im Kampf gegen den IS in Syrien fortan mit den YPG zusammenzuarbeiten. Mit Hilfe der USA und anderer europäischer Staaten wurde der IS aus dem Gebiet östlich des Euphrats vertrieben. Am 23. März dieses Jahres haben die YPG ihre Flagge auch im letzten von der IS kontrollierten Städtchen Baghouz gehisst und die endgültige Niederlage der Dschihadisten in Syrien erklärt. Ihr Sieg war teuer, hat er sie doch rund 12’000 Tote und doppelt so viele Verletzte gekostet.
Das Rojava, das heute unter der Kontrolle der YPG steht, umfasst ein gutes Drittel des syrischen Territoriums. Darin befinden sich die wichtigsten Ölfelder sowie die höchsten Dämme des Landes. Das Gebiet gilt ausserdem als syrische Kornkammer. Wer soll künftig das Sagen in diesem Gebiet haben? Diese Frage treibt seit der Niederlage des IS die internationale Diplomatie um.
Dass die Türkei alles daransetzen würde, damit das jetzt autonome Rojava nach einem Ende des Kriegs in Syrien nicht überlebt, ist nicht neu. Ankara hat mehrmals in allen möglichen Tonlagen erklärt, «keinen Terrorkorridor» in seinem südlichen Grenzgürtel zu dulden. Spätestens nach 2015 deklarierte die türkische Führung die syrischen Kurden wegen ihrer Nähe zur Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) zu Terroristen und zu einer vermeintlichen Bedrohung ihres Landes.
Neu ist hingegen, mit welchem Zynismus die Regierung Erdogan ihre so abwegigen Forderungen auf dem Parkett der internationalen Diplomatie vorbringt.
Androhung einer Invasion
Gleich nach seiner Rückkehr aus New York kündigte Erdogan die rasche Umsetzung seiner Friedenszone an, die nicht kleiner sein dürfe als «30 Kilometer tief und 480 Kilometer breit». Seine Regierung wolle darin grosszügige Unterkünfte für die rückkehrenden Flüchtlinge bauen, und Dörfer sowie Städte, die über Moscheen, Spitäler und Sportanlagen verfügen würden. Die Baukosten schätzte er grob auf rund 26,5 Milliarden Dollar. Die Türkei habe keinen einzigen Tag zu verlieren, sagte Erdogan bei der Eröffnung des türkischen Parlaments, während sein Verteidigungsminister Hulusi Akar nachhakte: «Unsere Mission ist rein humanitärer Natur: Wir wollen, dass die Menschen in ihre syrische Heimat in Frieden und Sicherheit zurückkehren. Dafür müssen wir zunächst die Terroristen ausräumen.»
In Wirklichkeit drohten der türkische Präsident und sein Verteidigungsminister unisono mit einer dritten Invasion in Syrien. Davon versprechen sie sich, mit einem Schlag gleich zwei der wichtigsten Probleme ihres Landes loszuwerden: das Problem der syrischen Flüchtlinge und zugleich die Zerstörung des kurdischen Rojavas.
Wie würden die USA auf eine türkische Invasion in Rojava reagieren? Die amerikanische Zeitung Wall Street Journal zitierte einen Offizier mit den Worten: «Es ist ein perfekter Sturm, wirklich hässlich. Wir hätten aber vermutlich keine andere Wahl, als uns aus dem Gebiet zurückzuziehen». Mit einem Abzug der Amerikaner würde Rojava den Gelüsten der Türkei aber schutzlos ausgeliefert.
Die Schaffung einer türkischen «Friedenszone» in Syrien setzt auch das grüne Licht der EU voraus, die laut den Plänen Ankaras die Hauptkosten des teuren türkischen Bauprojektes tragen sollte. Die Türkei bräuchte die Unterstützung aller regionalen Akteure, um ihre Baupläne in Syrien umzusetzen, insbesondere der EU, sagte der türkische Vizepräsident Fuat Oktay einer hochrangigen EU-Delegation. Diese versprach letzten Freitag Ankara mehr Gelder für die Handhabung des Flüchtlingsproblems, aber die Regierung Erdogan winkte schon ab. Ankara geht es diesmal vor allem um das grüne Licht der Weltgemeinschaft für eine dritte Invasion in Syrien.
Wird die EU tatsächlich grünes Licht geben? Noch ist alles offen. Sicher ist, dass die nach den Worten des türkischen Verteidigungsministers «humanitäre Mission der Türkei» in Syrien nicht friedlich umzusetzen ist. Erdogan gehe es nicht um «Sicherheit, sondern um Besetzung», kommentierte Mazlum Abdi, der Generalkommandant der Truppen in Rojava. Und er prognostizierte, dass eine dritte türkische Invasion in Syrien nicht nur Rojava, sondern das ganze Gebiet unausweichlich in einen sehr langen, sehr blutigen Krieg hineinziehen werde.
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Nachtrag der Redaktion
Seit Samstagnachmittag, 5. Oktober, steht auf der Website der regierungsnahen Zeitung Hürriyet das Folgende:
Turkey ready for operation east of Euphrates in Syria
ANKARA-Anadolu Agency
Turkey is ready for an operation east of the Euphrates River in northern Syria, said President Recep Tayyip Erdoğan on Oct. 5, to clear the region of terrorists.
Addressing the ruling Justice and Development Party’s (AKP) 29th Consultation and Assessment meeting in Kızılcahaman, a retreat town of capital Ankara, Erdoğan said Turkey aims to establish peace east of the Euphrates River by purging the Syrian region from terrorists.
“We have completed our preparations and action plan, the necessary instructions were given.
«It is maybe today or tomorrow the time to clear the way for [our] peace efforts which is set and the process for them was started. We will carry out a ground and air operation,” Erdoğan said.
“Our aim is, I underline it, to shower east of Euphrates with peace,” he added.
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Lesen Sie dazu:
Die Besetzung der Krim ist Vorwand für die Aufrüstung der Nato. Die Türkei tut Schlimmeres Infosperber vom 19.3.2019
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Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
keine
Mit einem Schweizer Freund verfolgten wir die Geschichte der Rojavas von Anbeginn an aus der fernen Schweiz + können die Darstellung von Amalia van Gent nur bestätigen.
Gelingt es Erdogan, diesen grossen Landstreifen unter seine Kontrolle zu bringen, zerstört er die letzte kurdische Hoffnung auf Autonomie.
– Es geht letztlich um über 33 Mio. Kurd:Innen in 4 Staaten (Türkei + Iran + Irak + Syrien), welche daran gehindert werden, ihre Kultur unbehelligt zu leben.
– Die Kurd:Innen in diesen Gebieten allein (darunter eine Gruppe von Frauen, welche einen echten Frauen-Staat gründeten) halfen den USA auf syrischem Boden, zuerst den IS in Schach zu halten + dann den IS (nicht nur aus jener Gegend) zu vertreiben, als Obama entschied, seine Boden-Truppen (bis auf ein kleines Detachement) abzuziehen.
Der Zynismus der USA + der Türkei den Kurd:Innen gegenüber scheint keine Grenzen zu kennen.