Sperberauge
«Sofort ein Flugzeug schicken»
«Wenn die Schweiz sich bewegt, ist das ein starkes Signal, und es werden auch andere folgen», sagt der Berner Stadtpräsident Alec von Graffenried. Bern hat zusammen mit Basel, Zürich und Lausanne dem Bund offeriert, direkt Flüchtlinge aus dem abgebrannten Lager Moria auf der griechischen Insel Lesbos aufzunehmen. Dasselbe Angebot machten deutsche Städte ihrer Regierung. «Dort gibt es ähnliche Blockaden, auch da wollte die Stadt Berlin vorangehen, wurde aber von der Bundesregierung gehindert.» Wenn er freie Hand hätte, würde die Stadt Bern wohl «sofort ein Flugzeug runterschicken und einen ersten Transport von Flüchtlingen empfangen. Danach müsste das Ziel aller Beteiligten sein, das Lager in Moria innert weniger Wochen aufzulösen», so Alec von Graffenried.
Laut dem UN-Hochkommissariat für Flüchtlinge UNHCR (übrigens in Genf domiziliert) sind 11’500 Asylbewerber betroffen, davon 2200 Frauen und 4000 Kinder, die seit dem Brand ohne Obdach, sanitäre Einrichtungen, Wasser und Nahrung sind. Nicht dass es den Menschen aus dem Lager Moria vorher viel besser gegangen wäre: Das Camp war für rund 2000 Menschen konzipiert, seit Jahren leben aber rund zehnmal mehr dort, unter prekärsten Verhältnissen. Bereits 2016 brach ein Brand aus, der den Grossteil des Lagers zerstörte. Die Flüchtlinge sind teilweise seit Jahren auf Lesbos blockiert. Die Europäische Union und ihre Partnerländer haben ein gemeinsames Asylsystem (Dublin-Verfahren). Dieses lässt nur ein Asylverfahren zu und das Gesuch muss in dem Land eingereicht und bearbeitet werden, wo die Flüchtlinge zuerst ihren Fuss in eines dieser Länder hinsetzen. Millionen an Euros fliessen deshalb nach Griechenland und in die Türkei, damit die Asylbewerber ja nicht in die nördlichen Länder weiterreisen. Wenn die Situation mal ganz ausser Kontrolle gerät, wie jetzt in Moria, wird Nothilfe geschickt, also Zelte und Decken. Davon gibt’s dann jeweils Fernsehbilder, von einem Flugzeug, vollgepackt mit Kisten mit den jeweiligen Landeswappen drauf, und dazu ein paar Zitate über humanitäre Soforthilfe. Auch der Aussenminister nimmt die Gelegenheit wahr, stolz einen mit dem Schweizer und dem griechischen Wappen versetzen Tweet über die Lieferung von «Schlafsäcken, Küchenuntensilien und anderem Material» abzusetzen.
Doch den Städten reicht das nicht: Sie wollen zumindest einigen Menschen im Lager zeigen, dass es noch so etwas wie Mitgefühl und Verantwortungsbewusstsein gibt. Zeigen, dass Wegschauen moralisch nicht legitim wird, nur weil alle anderen ebenfalls wegschauen. Doch das Angebot Berns wurde von der zuständigen Bundesrätin Karin Keller-Sutter sofort und bestimmt zurückgewiesen: Der Bund sei für die Asylverfahren zuständig, die Städte könnten das nicht selber. «Das ist uns bekannt», sagt Alec von Graffenried dazu. «Interessanter wäre es nun zu wissen, was der Bundesrat über die bisherigen Massnahmen hinaus zu tun gedenkt.» Möglicherweise sei das Angebot der Städte noch nicht richtig verstanden worden, man werde sich deshalb mit der Bundesrätin an einen Tisch setzen. Von Graffenried: «In den Städten besteht eine grosse Offenheit zur Aufnahme von Flüchtlingen, die Bevölkerung bei uns wünscht dringend, dass wir das Elend auf Moria beenden.» Er anerkenne, dass in anderen Landesgegenden eine andere Stimmung herrsche, ländliche Gebiete trügen bei der Integration oft andere Lasten, beispielsweise bei der Wiedereingliederung von Straftätern oder der Eingliederung psychisch angeschlagener Personen. «Aber die freien Kapazitäten in den Zentren der Städte lassen eine Aufnahme von mehreren Hundert Flüchtlingen sofort zu.»
Vielleicht bauen die Städte genügend Druck auf, den Bund zu einer grosszügigeren Politik zu bringen. Immer wieder wird betont, man helfe dem UNHCR, unbegleitete Minderjährige aus Moria aufzunehmen. Die Zahlen sind aber einigermassen ernüchternd: In diesem Jahr wurden im Mai 18, im Juni 29 Minderjährige in die Schweiz gebracht. Das Bundesamt für Migration hat nun angekündigt, weitere 20 unbegleitete Minderjährige aus Moria aufzunehmen. In einer konzertierten Aktion, zusammen mit EU-Ländern. Mit dieser Aktion ist man dann zwar nicht das Schlusslicht in der Festung Europa, aber ein Vorangehen, wie sich das die Städte wünschen, ist das nicht.
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Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
Schweizer Städte möchten Flüchtlinge aus Lesbos aufnehmen. Bern will das nicht. Viele dieser Menschen sind Kriegsflüchtlinge aus Afghanistan, Syrien, dem Irak und Afrika. In Afghanistan wird seit Jahrzehnten Krieg geführt, zuerst von der Sowjetunion, dann von den USA und auch von der Nato. Die Schweiz ist an diesen Kriegen indirekt auch beteiligt, durch Kriegsmaterialexporte und der Finanzierung von Rüstungskonzernen der EU und USA deren Waffen in all den Kriegen zum Einsatz kommen. Die Aktien von Rüstungskonzernen werfen umso mehr Profite ab, desto mehr Kriege geführt werden.
Im ersten Halbjahr 2020 exportierte die Schweiz Kriegsmaterial im Wert von mehr als 501 Millionen Franken. Dies ist eine Steigerung von fast 184% im Vergleich zum ersten Halbjahr 2019 und fast so viel wie im gesamten Jahr 2018. Die US-Streitkräfte für Afrika in Stuttgart haben 2020 bereits 46 Luftangriffe auf Ziele in Afrika angeordnet. Diese Angriffe sollen sich auf die somalische Terrormiliz Al-Shabab konzentrieren. («46 Drohnenangriffe seit Januar allein in Afrika (sda), TA 8.09,2020)
Die Drohnenangriffe in Somalia fordern hauptsächlich zivile Opfer, genauso so wie bei den aussergerichtlichen Hinrichtungen durch Drohnen der Amerikaner in Afghanistan, Pakistan, dem Jemen und anderen Ländern. Viele Menschen aus diesen Kriegsgebieten versuchen zu flüchten, nur einige wenige gelangen nach Westeuropa. Millionen Flüchtlingen bleiben im Libanon, Jordanien, Syrien, Jemen, der Türkei und Libyen stecken.