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Argentinien: landschaftlich – im Süden – fast wie in der Schweiz, aber mit ganz anderen Problemen © TI

Demokratie bedingt physische Nähe

Romano Paganini /  Wer soll in der Demokratie mitreden? Die Stimmbürger? Oder auch die Betroffenen? Oder nur die Betroffenen? Ein Diskussionsbeitrag.

(Red.) In dem neuen Buch «Migrationsland Schweiz» argumentieren mehrere Autoren dafür, dass die Ausländer in der Schweiz schneller das Recht erhalten sollten, an Wahlen und Abstimmungen teilzunehmen. Und, so wird argumentiert, selbst ausgewanderte Schweizer und Schweizerinnen, die in einem anderen Land bereits das Bürgerrecht erhalten haben, sollten sich zu Hause an Wahlen und Abstimmungen beteiligen können. Sie brächten eine neue Sicht in die Diskussion. (Siehe dazu den Bericht auf Infosperber.)

Eine ähnliche Diskussion über das Recht der Auslandschweizer, in ihrem Heimatland demokratisch mitreden zu dürfen, fand im Vorfeld der Wahlen 2011 in der Aargauer Zeitung statt. Dort schrieb zum Beispiel Elisabeth Michel-Husner, die in Zofingen geboren und aufgewachsen war, aber schon 36 Jahre in Deutschland lebte und Vorstandsmitglied der Auslandschweizerorganisation ist, wörtlich: «Nur durch eine grenzüberschreitende Vernetzung können wir heute noch etwas bewegen. Mit dem Stimm- und Wahlrecht haben wir Auslandschweizerinnen und -schweizer eine Stimme, wir werden gehört, bringen unsere in der Welt gemachten Erfahrungen ein. Auslandschweizer haben das Glück, ihre Heimat auch von aussen zu sehen. Von den weltweit über 700’000 Auslandschweizern tun dies etwa 400’000 als ‹Europaschweizer›. Wir sind durchaus in der Lage, bei Entscheidungen in der Schweiz mitzureden.»

Romano Paganini lebt seit sieben Jahren in Argentinien und berichtet gelegentlich auch für Infosperber über das dortige Geschehen. Er tritt dezidiert dafür ein, dass die hier lebenden Ausländer wählen und abstimmen dürfen – und nimmt aus Überzeugung seine eigenen demokratischen Mitsprache-Rechte in seinem Heimatland Schweiz nicht wahr. Warum nicht, beschreibt er im folgenden Text:

Die Damen und Herren Schweizer nehmen sich bekanntlich ziemlich wichtig. Sei das beim Bankkundengeheimnis, bei Steuerverhandlungen oder bei anderen Anlässen, bei denen es Rosinen zu picken gibt. Der Schweizer will eine Sonderbehandlung. Er will mitbestimmen oder zumindest das Gefühl haben, er könne es. Das ändert sich auch nicht, wenn sie oder er im Ausland lebt – zumindest nicht bei den 135’000 der 700’000 Auslandschweizern, die von ihrem Stimm- und Wahlrecht Gebrauch machen. Oder ihrem Recht, für eines der Gremien zu kandidieren. Bei den nationalen Wahlen vor einem Jahr liessen sich 59 Auslandschweizer aufstellen. Das sind zwar nicht ganz so viele wie noch 2011 (da waren es 80), dafür wurde mit dem in Berlin lebenden Ex-Botschafter Tim Guldimann erstmals ein im Ausland lebender Schweizer ins Parlament gewählt.

Auf den ersten Blick ist es sympathisch, dass die AuslandschweizerInnen ihren Rechten und Pflichten als Demokraten nachgehen wollen. Das zeugt von einem gewissen Interesse, was in der alten Heimat passiert. Doch ist dem wirklich so? Was bringt die Stimme eines Auslandschweizers? Und wäre es nicht sinnvoller, wenn an seiner Stelle ein seit Jahren in der Schweiz wohnhafter Ausländer wählen könnte?

Der deutsche Philosoph und Friedensforscher Carl Friedrich von Weizsäcker (1912-2007) sagte einmal: «Demokratie heisst Entscheidung durch die Betroffenen.» Früher war klar, wer das war: die Bewohner einer Kommune, einer Stadt, eines Landes. Man ging zur Wahl, weil man sich betroffen fühlte oder weil es Tradition war. Die Entscheidungen fällten die Menschen, die die Entscheidungen zu tragen hatten. Das Leben und damit auch das politische System waren überschaubarer.
Das ist heute anders. Durch die Globalisierung leben Menschen an verschiedenen Orten gleichzeitig und ihr Zuhause liegt irgendwo zwischen A und B. Die Betroffenheits-Demokratie, wie sie Weizäcker formulierte, wird globalisiert und damit aufgeweicht. Die Volksentscheide werden von Nomaden (mit)getroffen, die diese Entscheide meist nur bruchstückhaft zu tragen haben.

Ein Geschäftsmann aus Zürich beispielsweise, der seit Jahren in China lebt, kann noch so viel über die Schweiz lesen und hören – den Alltag einer in der Schweiz lebenden Person fühlt er längst nicht mehr. Weder die Situation im öffentlichen Verkehr noch das Gespräch auf dem Markt noch die jauchzenden Kinder auf dem Pausenplatz. Die Betroffenheit des Auslandschweizers reduziert sich auf seine Familienangehörigen und Freunde, sein Bankkonto und seine AHV, und eventuell auf seine Pläne, irgendwann wieder einmal in der Schweiz zu leben. Seine Meinung basiert auf Informationen von Drittpersonen, nicht auf seiner gelebten Realität vor Ort. Wie will er sich da ein Urteil bilden?

Gleiches gilt für die Auslandsschweizer, die für das Parlament kandidieren. Auch sie können noch so lange Artikel über den Zustand der Schweiz lesen, mit Parteikollegen skypen oder über die Abläufe im Politbetrieb Bescheid wissen: Ihr Leben ist nicht in der Schweiz, sondern anderswo. Hinzu kommt, dass sie am Prozess der Meinungsfindung, also dem Herzstück der direkten Demokratie, vorwiegend online teilnehmen müssten. Alles andere wäre im Falle des Geschäftsmannes in China ökologischer Unsinn. Und wenn Kommissionssitzungen, Parteiveranstaltungen und Sessionen bald nur noch online stattfinden, dann findet auch die Demokratie irgendwann nur noch online statt – oder gar nicht mehr. Denn die Menschen spüren, wenn jemand wirklich betroffen ist oder nicht.

Die Argumentation wählender oder kandidierender Auslandschweizer, sie würden eine Aussenansicht auf die Schweiz haben und tendenziell für mehr Weltoffenheit sorgen, klingt ebenfalls gut. Doch was bedeutet Weltoffenheit, wenn eine Schweizerin, ein Schweizer, im Ausland lebt, wo der Lebensunterhalt in der Regel günstiger ist als in der Schweiz, sie oder er aber nicht bereit sind, ihr Frankenkonto aufzulösen? Oder anders gefragt: Wie viele Auslandschweizer verzichten auf die Privilegien der alten Heimat und leben das Leben an ihrem neuen Ort, mit all seinen Vor- und Nachteilen? Schliesslich sind sie aus einem bestimmten Grund ausgewandert.

Das Internet mag uns noch so sehr ein Gefühl von Verbundenheit und Nähe geben: Es ersetzt die reale Nähe zum Alltag am jeweiligen Ort nicht. Denn dieser findet über unsere Sinnesorgane statt, also in drei und nicht wie vor dem Bildschirm in zwei Dimensionen.

Demokratie bedingt Wahrnehmung des Alltags – des Geruchs, der Gespräche in der Strasse oder am Stammtisch, den Konzerten und Festen, den Problemen und Freuden. In volatilen Zeiten wie den heutigen sollte der Bürger die Volksvertreter am jeweiligen Ort anfassen können – und umgekehrt. Nur so lässt sich so etwas wie Vertrauen herstellen. Dies kann ein Auslandschweizer nur schon aus geographischen Gründen nicht. Er sollte sich lieber dort engagieren, wo er ist. Denn dort ist er auch physisch betroffen. Und wenn ihm das Leben in der Schweiz wichtiger ist, dann soll er zurückgehen und dort für Demokratie sorgen.

Eine Justierung der Schweizer Demokratie, wie sie 1971 stattgefunden hat, ist eine Frage der Zeit. Damals erkannten die Schweizer Männer, dass auch Frauen von ihren Entscheidungen betroffen sind und führten als eines der letzten Länder in Europa das Frauenstimmrecht ein. Heute liegt es an beiden Geschlechtern, die Zeichen der Zeit zu erkennen und jenen Menschen die Rechte und Pflichten einzuräumen, die Teil des Volkes sind, die langsam drehenden Mühlen der Einbürgerung aber noch nicht durchlaufen haben. Schliesslich ist ein seit Jahren in der Schweiz lebender Eritreer mit zwei schulpflichtigen Kindern von einem Volksentscheid in seiner neuen Heimat mehr betroffen als der Geschäftsmann in China. Und angesichts der stattfindenden Umbrüche auf dem Planeten mit noch nicht absehbaren Migrationsfolgen liegt es je länger desto mehr ohnehin an den Bewohnerinnen und Bewohnern des jeweiligen Ortes, zu definieren, wie sie leben wollen – egal welche Hautfarbe sie haben und wo sie geboren wurden.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Der Autor lebt seit sieben Jahren in Argentinien und ist nicht im Stimm- und Wahlregister eingetragen.

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Eine Meinung zu

  • am 26.10.2016 um 14:33 Uhr
    Permalink

    Herr Paganini hat absolut recht. Nach der Logik, die beim Ausländerstimmrecht gilt, sollte mir doch auch das Stimmrecht in meiner Bürgergemeinde gewährt werden.

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