Viola Amherd arbeitet an uferlosem Geheimdienst-Ausbau
Der Nachrichtendienst des Bundes (NDB) steht wegen zu wenig Transparenz und Kontrolle, Datensammelwut, unverhältnismässigen Überwachungsmassnahmen sowie lückenhaften oder verweigerten Auskünften bei Einsichtsgesuchen immer wieder in der Kritik. 2019 deckte zum Beispiel die Wochenzeitung (WOZ) auf, dass der NDB nach wie vor politische Parteien, Politikerinnen und Politiker sowie soziale Bewegungen überwacht und fichiert – obwohl sie nicht gegen Gesetze verstossen haben.
Unweigerlich drängten sich Parallelen zum Fichenskandal auf: Aus Angst vor «subversiven Elementen» legten sowohl Bundesbehörden als auch kantonale Polizeibehörden zwischen 1900 und 1990 rund 900’000 Staatsschutz-Fichen an. Der Fichenskandal geschah vor dem Hintergrund des Kalten Krieges – heute hat sich die Angst vor islamistischem Terror in den Köpfen von Bevölkerung und Behörden eingenistet. Nur so ist es zu erklären, dass die Kompetenzen des NDB stetig weiter ausgebaut werden. Ein Ende ist nicht in Sicht.
Kritik von parlamentarischer Oberaufsicht
Als der Fichenskandal ab 1989 aufflog, gelobten Sicherheitsbehörden Besserung, Politikerinnen und Politiker sprachen davon, dass sich derartiges nicht wiederholen dürfe. Trotzdem zeigte die Vergangenheit immer wieder, dass der NDB nach wie vor zu viele Daten sammelt. Massive Kritik kam zuletzt von der Geschäftsprüfungsdelegation der eidgenössischen Räte (GPDel), die dem NDB in ihrem Jahresbericht kein gutes Zeugnis ausstellte.
Die parlamentarische Oberaufsicht kam unter anderem zum Schluss, dass der NDB mehr Informationen sammelt, als ihm das Gesetz erlaubt – in Themengebieten, für die er eigentlich gar nicht zuständig ist. Weitere Probleme ortete die GPDel betreffend nicht durchgeführten Löschungen von alten Daten und bei der lückenhaften Auskunftserteilung. Die parlamentarische Oberaufsicht sprach mehrere Empfehlungen aus: Der NDB solle doch bitte prüfen, welche öffentlich zugänglichen Daten er für die Erfüllung seiner Aufgaben tatsächlich brauche. Und er solle dafür sorgen, dass sich auch kantonale Nachrichtendienste bei der Informationsbeschaffung an die Schranken des Gesetzes halten. Verteidigungsministerin Viola Amherd reagierte und kündigte ein Gutachten an, um umstrittene Fragen zu klären.
Nachrichtendienst bereits deutlich verstärkt
Ungeachtet der Kritik und der nachrichtendienstlichen Verfehlungen in der Vergangenheit, wurden die Kompetenzen und Ressourcen des NDB in den letzten Jahren weiter ausgebaut. Im Juli 2019 beschloss der Bundesrat per Grundsatzentscheid, den Personalbestand in den nächsten fünf Jahren massiv zu erhöhen. Beim NDB werden zusätzlich hundert Stellen geschaffen, eine massive Erhöhung soll es auch bei den Nachrichtendiensten der Kantone geben. Diese erhalten vom NDB bisher jährlich 12,4 Millionen Franken. Nun sollen jedes Jahr noch einmal 5,6 Millionen Franken hinzukommen. In der Schweiz ist das der grösste Geheimdienst-Ausbau aller Zeiten.
Nachdem 65,5 Prozent der Stimmberechtigten im September 2016 das neue Nachrichtendienstgesetz angenommen hatten, erhielt der NDB ein weitreichendes Waffenarsenal: Er darf bei verdächtigen Personen auch ausserhalb von Strafverfahren Telefonate abhören, SMS abfangen, Computer hacken, Wohnungen verwanzen, Peilsender an Fahrzeugen anbringen oder den Datenverkehr im Internet scannen. Mit der systematischen Durchsuchung sämtlicher Internetkommunikation, die über das Ausland geht, steht ihm gar ein Instrument der Massenüberwachung zur Verfügung.
Bisher darf der NDB diese Mittel aber nur gegen Terrorismus, ausländische Spionage, die Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen oder zum Schutz kritischer Infrastrukturen einsetzen.
Präventive Überwachungsmassnahmen gegen Bevölkerung
Die Überwachung von mutmasslichen politischen Extremisten im Inland hatten Bundesrat und Parlament – vor dem Hintergrund des Fichenskandals – im neuen Nachrichtendienstgesetz bewusst ausgeschlossen. Aber selbst diese Schranke könnte schon bald fallen: Verteidigungsministerin Viola Amherd erwägt eine Gesetzesänderung, die es dem NDB erlauben würde, mutmassliche Extremisten im Inland zu überwachen, abzuhören und zu verwanzen. Derzeit prüft Amherd, welche gesetzlichen Anpassungen für ihre Pläne nötig sind. Dann werde sie bei Bundesrat und Parlament die entsprechenden Gesetzesänderungen beantragen.
Im Klartext: Jede in der Schweiz lebende Person, die aus irgendeinem Grund vom NDB verdächtigt wird Extremist oder Extremistin zu sein, könnte dann präventiv – also ausserhalb eines Strafverfahrens – überwacht werden. Präventiv, Überwachung auf Vorrat: Weitreichende Überwachungsmassnahmen, die eingesetzt werden, nur weil der NDB einen entsprechenden Verdacht geäussert hat. Mit präventiver Überwachung sollen Verbrechen verhindert werden, die noch gar nicht stattgefunden haben.
Sogar einfache Statistiken bleiben geheim
Fällt auch diese nächste Schranke, kann der NDB im Inland beinahe schalten und walten, wie er will. Zwar gibt es bereits heute Kontroll- und Bewilligungsmechanismen, die verhindern sollen, dass die Überwacher ihre Kompetenzen überschreiten. Wie wenig diese Mechanismen in der Realität bringen, haben aber die Nachrichtendienst-Skandale der jüngeren Vergangenheit gezeigt.
Setzt sich Amherd mit ihrem Vorhaben durch, wird jeder Schweizer Einwohner und jede Einwohnerin für den NDB zu einem potenziellen Ziel. Auf der Gegenseite ist der NDB aber nicht verpflichtet, öffentliche Transparenz herzustellen: Geheimdienstentscheide werden seit der Inkrafttretung des neuen Nachrichtendienstgesetzes nicht mehr veröffentlicht. Die dazugehörige Statistik wird nicht veröffentlicht. Wie oft das Bundesverwaltungsgericht eine Überwachungsmassnahme genehmigt, ist ebenfalls geheim. Die Anzahl der abgelehnten und erlaubten Überwachungsgesuche bleiben geheim.
Die Zahlen über Gutheissungen und Ablehnungen von Überwachungsmassnahmen werden einzig der parlamentarischen Geschäftsprüfungsdelegation mitgeteilt. Die Aufsichtstätigkeit dieser Delegation ist – Trommelwirbel – ebenfalls geheim. Ebenso geheim ist der Bericht, in dem das Bundesverwaltungsgericht, das Überwachungen genehmigt oder ablehnt, Rechenschaft über seine Tätigkeit ablegt.
Ein Blick nach Frankreich lohnt sich
Wie wenig ausufernde Sicherheitsgesetze gegen Terrorismus und Gewaltextremismus bringen und wie weit dem Missbrauch dadurch Tür und Tor geöffnet werden, zeigt das Beispiel Frankreich. Mit dem Ausrufen des Ausnahmezustands und der Änderung des Notstandgesetzes wurden die Kompetenzen des Sicherheitsapparats massiv ausgeweitet. Nachdem die französische Regierung den Ausnahmezustand sechsmal verlängert hatte, führte sie die Kompetenzerweiterungen in normales Recht über. Der Ausnahmezustand – und damit auch der Eingriff in die Grundrechte der Bürgerinnen und Bürger – wurde normalisiert.
Seither lebt die Bevölkerung von Frankreich in einem Staat, der die innere Sicherheit über fundamentale Menschenrechte, wie zum Beispiel über das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens, das Recht auf Freiheit und Sicherheit, die Meinungsäusserungsfreiheit, die Versammlungsfreiheit, sowie das Diskriminierungsverbot stellt.
Mit sogenannten «notes blanches» liefern französische Geheimdienste Informationen, auf deren Grundlage ein Verwaltungsrichter Durchsuchungen oder Hausarreste anordnen kann. Auf den Zetteln der Geheimdienste fehlen die Quellenangaben, oftmals wurde nicht einmal der Hinweis auf die kriminelle Handlung vermerkt, die die potenzielle Täterschaft in der Zukunft begehen könnte.
Inwieweit die präventiven Massnahmen des französischen Sicherheitsapparats zum Erfolg führen, zeigen Zahlen der Menschenrechtsorganisation «humanrights»: Demnach haben nur 592 von 3‘549 Durchsuchungen zu einer Anklage geführt. Davon wiederum hat das Gericht in nur 67 Fällen eine Strafe ausgesprochen. 56 Personen wurden verhaftet.
Bald nach dem Ausrufen des ersten Ausnahmezustandes häuften sich in Frankreich die Berichte über zahlreiche Missbräuche: Improvisierte, überzogene und schlecht durchgeführte Polizeieinsätze, Aussetzer, brutales Vorgehen von Sicherheitskräften, Racial Profiling und grundlose Überwachungen sind nur einige davon. Immer wieder wurde auch das Versammlungsrecht torpediert. So haben Beamte im Namen des Ausnahmezustandes zwischen November 2015 und Mai 2017 639 Einzelmassnahmen angefordert, um Personen davon abzuhalten, an öffentlichen Versammlungen teilzunehmen.
Die meisten der Massnahmen wurden im Zusammenhang mit Demonstrationen gegen das Arbeitsgesetz ausgesprochen – und damit nicht im «Kampf gegen das organisierte Verbrechen, den Terrorismus und dessen Finanzierung». Vielmehr kommt die eigene Bevölkerung unter die Räder.
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Weiterführende Infosperber-Artikel zur Thematik:
Hallo, Polizeistaat!
Schweiz: Ausbau des Überwachungsstaates – durch die Hintertür
Spionage: Am Gängelband der «Partnerdienste»
Anti-Terrorismus: Gesetzesflut torpediert öffentliche Freiheit
Dossier: NSA, BND, NDB: Totale Überwachung?
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
keine
Schön gemäss den transatlantischen Drehbuch, dabei haben wir ein Parlament, es könnte Gegensteuer geben. Vielen Dank für die Information.
Markus Fischer
Wer die Freiheit aufgibt, um Sicherheit zu gewinnen, wird am Ende beides verlieren. (Benjamin Franklin) – Das wollen 2/3 der Wähler.