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BENVENUTI IN ITALIA: Noch sind die Tessiner in Italien willkommen. © cm

Den Tessinern sei Dank: Wir rücken näher an die EU

Christian Müller /  Das Ja zu «prima i nostri» verärgert die EU – und macht einen baldigen Beitritt der Schweiz zur EU wahrscheinlicher.

Insubria – oder zu deutsch Insubrien – ist ein Paradies: Hier hat es Sonne, Seen und Berge, soweit das Auge reicht. Der Wein wächst vor der Haustüre. Ein wahrhafter Espresso – in Italien ist das ein Caffè – kostet in der stets belebten Bar Inbutega in der Località Poppino genau 1 Euro, wie fast überall in Italien. Für 2 Euro gibt’s in der gleichen Bar bereits ein Glas Wein – sogar ein Arneis aus dem Piemont kostet nicht mehr. Für nicht viel mehr, nämlich für 8 Euro, gibt es in der Genossenschaftsbeiz Il Circolo in Pianazzo (nur einen Kilometer hinten an Sessa) die beste Pizza Capricciosa der Welt. Nocheinmal: ein Paradies – wenn da nicht mittendurch die Grenze Italien/Schweiz wäre. Denn zu Insubria gehören die italienischen Provinzen Como, Varese, Novara, Lecco und Verbano, aber eben auch der Schweizer Kanton Tessin.

Die Tessinerinnen und Tessiner sind, wie die Italiener auf der italienischen Seite Insubriens, liebenswerte und freundliche Leute. Aber auch sie sind halt Latini – haben lateinisches Blut – und freuen sich unbekümmert über verschiedene Privilegien, ohne lange darüber nachzudenken, ob da alles ok ist. So etwa gibt es in Lugano über 100 Banken – im digitalen Telefonbuch der Schweiz werden unter den Suchwörtern «Bank» und «Lugano» deren 77 aufgeführt, unter den Suchwörtern «Banca» und «Lugano» sogar deren 128. Oder, auf den ganzen Ticino bezogen, eine Bank pro 300 Haushalte. Es ist sichtbar: All diese Banken leben nicht von den Sparbatzen der Einheimischen, sie leben nicht zuletzt von den versteckten Geldern vermögender Italiener – und anderer Geldscheffler, legalen und illegalen. Auch 27 internationale Modekonzerne haben ihren Sitz oder eine Tochtergesellschaft im Tessin, darunter Hugo Boss, Armani, Gucci oder auch Puma. Aber auch diese sind nicht hier, weil es hier besonders viele begnadete Fashion-Designer oder fleissige Näherinnen gibt. Nein, nur das Geld fliesst hier vorbei – und lässt den zu versteuernden Gewinn hier liegen. Infosperber hat aufgrund einer Studie von Public Eye (früher «Erklärung von Bern») ausführlich darüber berichtet.

Ob das für den Kanton Tessin noch ein nachhaltiges Business Modell ist?

prima i nostri

Am letzten Wochenende nun haben die Tessiner über eine Initiative der Tessiner SVP abgestimmt, die unter dem ans Herz rührenden Namen «prima i nostri» – «zuerst die Unseren» – lanciert worden war. Und 58 Prozent der Abstimmenden haben dazu Ja gesagt. Danach sollen künftig bei gleicher Qualifikation für einen Job zuerst die Tessiner drankommen. Das tönt ja nicht unvernünftig. Nur: Aus Sicht der nächsten Nachbarn, der Italiener, ist das ein klarer Affront. Das Tessin hat 3,8 Prozent Arbeitslose, in der Lombardei ist die Arbeitslosigkeit doppelt so hoch und unter den Jugendlichen liegt sie da sogar bei 30 Prozent. Und da sollen auf dem Tessiner Arbeitsmarkt noch zusätzlich die Tessiner bevorzugt werden? Ist das mit der von der Schweiz mitunterzeichneten Personenfreizügigkeit der EU noch kompatibel?

Volltreffer oder Eigengoal?

In den italienischen Medien, in den Zeitungen, im Radio und auch im Fernsehen, war Anfang dieser Woche genau diese Tessiner Abstimmung das Thema. Und für einmal sind sich die Italiener einig: So geht es nicht. Bereits haben einzelne Politiker in Brüssel interveniert, andere werden es noch tun. Und eines ist so gut wie sicher: Sollte es wider Erwarten zwischen der EU und der Schweiz im Konflikt um die das Freizügigkeitsabkommen mit der EU verletzende Verfassungsänderung aufgrund der mit 50,3 Prozent angenommenen Masseneinwanderungsinitiative doch noch zu einem Kompromiss kommen: Italien kann und wird mit seinem Veto Konzessionen an die Schweiz verhindern.

Mögliches Szenario also: Die Schweizer Grenze wird demnächst zur EU-Aussengrenze. Die Autowarteschlange vor dem Basler Zoll wird dann schon in Chiasso beginnen und die Warteschlange vor dem Zoll in Chiasso schon in Basel (eine Aussage des mittlerweile abgehalfterten Schweizer Botschafters Yves Rossier). Denn dann wird wieder wie früher jeder Wagen an der Grenze angehalten. Und der freie Marktzugang der Schweizer Wirtschaft – auch der Landwirtschaft! – in die Länder der EU gehört dann der Vergangenheit an. Wohin wir dann mit den jetzt 70’000 Tonnen Käse, den wir zurzeit pro Jahr exportieren, gehen, steht in den Sternen. Oder anders ausgedrückt: Wir dürfen dann unseren Käse selber essen…

Das Chaos ist programmiert – gerade auch im Tessin

Wie sich dann das Tessin organisiert, in dem gegenwärtig 60’000 Italiener arbeiten – sogenannte Frontalieri, die jeden Tag über die Grenze einfahren und am Abend wieder ausfahren –, weiss niemand. Es wird DAS CHAOS werden. Zwar besser als jeder Krieg, aber mit unvorstellbaren wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen. Und mit einem unerwarteten Effekt: es werden dann ganz plötzlich ganz ganz viele Schweizer, auch ganz ganz viele Tessiner SVP-ler, der EU beitreten wollen.

Ob sich die Tessiner dieses Szenario auch schon überlegt haben? Mit ihrem Ja zu «prima i nostri» haben sie – nicht wirklich wohlüberlegt – die Schweiz auf alle Fälle wieder ein gutes Stück näher an die EU gebracht. Zu unserem Glück: In Insubria werden die Leute nach dem Beitritt zur EU, also in nicht allzu ferner Zukunft, wieder fröhlich gemeinsam Caffè trinken und eine Pizza Capricciosa essen können, ohne zu überlegen, auf welcher Seite der Grenze sie dann gerade sind.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine

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2 Meinungen

  • am 30.09.2016 um 17:13 Uhr
    Permalink

    Prognosen sind schwierig. Besonders, wenn sie die EU betreffen…

  • am 3.10.2016 um 15:14 Uhr
    Permalink

    Ein Loblied auf die freie Marktwirtschaft, wo «survival of the fittest» noch gross geschrieben wird. Sehen Sie nicht, was die langfristigen Folgen dieses «freien» Marktes sind? Und was sind die Folgen der PFZ? Ist das nachhaltig, wenn man mehr «günstigere» Arbeitnehmer importiert und deswegen «teurere» inländische Arbeitnehmer arbeitslos sind? Wer profitiert von alle dem?

    Hier werden die Arbeitnehmer gegeneinander ausgespielt und die Profiteure sind einzig und allein die Arbeitgeber (und kurzfristig die italienischen Frontalieri, aber nur kurzfristig, denn über die Jahre werden die Löhne so immer weiter fallen und die Schere zw. Arm und Reich sich noch weiter öffnen).

    Und wird das Italien langfristig weiterhelfen, wenn deren ausgebildeten Leute im niedrig- und hochqualifizierten Bereich abwandern?

    Beim Käse und der Schoggi würd ich mir keine Sorgen machen, solche Gourmet-Luxus-Güter werden immer gekauft. Aber klar, es kann sein, dass die EU uns mit Wirtschaftssanktionen «bestrafen» würde. Nur kann sich die wackelige EU da selbst gar keine grossen Möglichkeiten rausnehmen, denn die Schweiz ist nach der USA und China der 3. wichtigste Handelspartner der EU. Alles halb so wild… Und im worst case verzichten wir Bewohner der Schweiz halt auch mal etwas mehr auf materiellen Wohlstand, das wäre echte selbstlose Fairness. Und allemal noch besser als aus der Ferne von einem totalitären und völlig undemokratischen EU-Regime regiert zu werden.

    Gruss Tom

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