Die türkischen «Eurasiaten» und die NATO
Eine knappe Woche, bevor die Staats- und Regierungschefs der NATO am Dienstag in London zu einem Gipfeltreffen zusammenkommen konnten, machte Bundeskanzlerin Angela Merkel ihre Vorstellung über die Zukunft der Allianz kund: «Stärker noch als im Kalten Krieg ist der Erhalt der NATO heute in unserem ureigensten Interesse, oder mindestens so stark wie im Kalten Krieg», sagte sie vor dem Bundestag. Europa könne sich derzeit nicht allein verteidigen und sei deshalb auf das transatlantische Bündnis angewiesen. Angela Merkel versprach, sich für die Einheit der Nato einzusetzen. Denn die NATO sei in ihrem 70-jährigen Bestehen ein «Bollwerk für Freiheit und Frieden» gewesen. Dann verwies die Bundeskanzlerin auf die Bedeutung der Türkei hin: Die Türkei sei «zwar ein schwieriger Partner», müsse aber aus «geostrategischen Gründen unbedingt in der NATO» gehalten werden.
Demokratische Prinzipien ignoriert?
Immer wenn von einer strategischen Partnerschaft mit der Türkei die Rede sei, werde er «irgend wie traurig», kommentierte der türkische Journalist Can Dündar auf die Äusserungen der Bundeskanzlerin: «Wir waren in der NATO schon immer nur der Soldat, der die Interessen des Westens im Osten verteidigt», bestensfalls auch ein riesiger Markt für den Verkauf von Rüstungsexporten aller Art. Im Gegensatz zu Westeuropa sei die NATO in der Türkei aber selten als «Bollwerk für Freiheit und Frieden» empfunden. Ehemals Chefredakteur der einzigen, noch einflussreichen oppositionellen Tageszeitung Cumhuriyet, wurde Can Dündar in seiner Heimat politisch verfolgt und musste wie unzählige andere türkische Intellektuelle ins europäische Exil fliehen. Dass NATO-Strategen der geopolitischen Lage der Türkei grosses Gewicht beimessen, weniger aber Prinzipien wie Freiheit und Frieden, macht ihn fassungslos.
Seit ihrem NATO-Beitritt 1952 hat die Türkei schon aufgrund ihrer geographischen Lage eines der wichtigsten Bollwerke der westlichen Allianz gegen den «Warschau-Pakt» gebildet. Direkt zwischen der damaligen Sowjetunion und dem ölreichen Nahen Osten gelegen, hatte das Land nach den USA zudem die zweitgrösste Armee der Allianz, im Dienste der Allianz. Türkische Generäle haben nach dem NATO-Beitritt ihres Landes drei Mal gegen die jeweils gewählte Regierung geputscht und den Rechtsstaat abgeschafft. Bei jeder Militärintervention wanderten Abertausende von Menschen grundlos hinter Gitter und wurden in ihrer überwältigenden Mehrheit gefoltert. Die Tatsache, dass die türkischen Generäle ihre Machtkämpfe strikt innerhalb des türkischen Territoriums austrugen, erlaubte den Brüsseler Strategen, Menschenrechtsverletzungen ihres NATO-Mitgliedstaats als «innere Angelegenheiten der Türkei» zu bezeichnen. Nach jedem Eingriff beschwor die türkische Generalität zudem die «westliche Orientierung der Türkei» und schwor zugleich ihre Treue zur NATO. Auch dies war mitunter ein Grund für Brüssel, um allfählige Unzulänglichkeiten seines Mitgliedstaates in Bezug auf Freiheit und Demokratie zu übersehen.
Diese «westliche Orientierung» der Türkei gibt es heute allerdings nicht mehr.
Vormarsch der Euroasiaten
Recep Tayyip Erdogan hatte die Generäle als die grösste Bedrohung seiner teils streng islamistischen Bewegung betrachtet und suchte gleich nach seiner Machtübernahme im Jahr 2002 die Armee von anti-islamistisch eingestellten Offizieren zu «säubern». Den gescheiterten Putschversuch im Juli 2016 nahm er zum Anlass, um auch die Armee fundamental zu verändern. Über 4’000 Offiziere sind laut offiziellen Angaben im Rahmen der Säuberungswellen nach 2016 festgenommen, teils gefoltert und aus den Sicherheitskräften entfernt worden. Es handelte sich um eine Säuberungswelle, die in der bald 100-jährigen Geschichte der Republik beispiellos ist. Aus den Sicherheitskräften entfernt wurden dabei nicht nur die Anhänger des islamistischen Predigers Fethullah Gülen, den Erdogan als Urheber des Putschversuches ausmachte. Die meisten degradierten Offiziere allen Ranges fühlten sich offenbar der NATO und dem Westen verpflichtet.
An ihrer Stelle traten die sogenannten «Eurasiaten». Sie bilden ideologisch eine bunte Mischung, die sich zusammensetzt aus Anhängern der rechtsextremen MHP-Partei, die derzeit in enger Allianz mit der regierenden AKP-Partei steht, und den Verfechtern Erdogans, welche einem autoritären Islamismus nachhängen. An ihnen schliessen sich kurioserweise die Fans des Linksnationalisten Dogu Perincek an. Perincek ist dem Schweizer Publikum bekannt, seitdem er auch in der Schweiz deklarierte, den Genozid an den Armeniern des Osmanischen Reichs habe es nie gegeben und daher jede anderslautende Behauptung eine «Verschwörung des Westens» sei. Perinceks Einfluss auf die Sicherheitskräfte soll heute besonders gross sein.
Den Eurasiaten gemein ist ihr extremer Nationalismus sowie die fast zynische Überzeugung, Recht sei einzig das Recht des Stärkeren. Sie vereint ferner ihre Abneigung für alles, was nach «westlicher Kultur» riecht. Aussenpolitisch befürworten sie eine Annäherung der Türkei an Russland und China oder gar einen «dritten Weg» der Türkei. Dieser sieht vor, dass die Türkei auf gleiche Distanz zu den drei Grossen (China, Russland und dem Westen) geht und je nach «nationalem Interesse» mal die Nähe zur einen oder anderen Grossmacht sucht. Für Präsident Erdogan sei die Ära des Kalten Kriegs, «als die Länder sich für eine Militärallianz entscheiden müssten, unwiderruflich vorbei».
Seitdem die Eurasiaten in Ankara an den Schalthebeln der Macht sitzen, ist das Klima gegenüber Brüssel eindeutig rauer geworden. Sie zögern nicht davor, bei Konflikten mit den NATO-Alliierten ans Äusserste zu gehen: Davon zeugt, dass die türkische Regierung nur wenige Tage vor dem NATO-Gipfel das russische Abwehrraketen-System S-400 in Ankara demonstrativ testen liess. Dabei galt der NATO schon die Anschaffung des Systems als eine rote Linie, die nicht überschritten werden dürfte.
Von einer härteren Gangart zeugte auch die völkerrechtswidrige Invasion der türkischen Armee in Nordsyrien. Die Operation mit dem phantasievollen Namen «Quelle des Friedens» vom 9. Oktober hatte offiziellen Erklärungen zufolge zwei Hauptziele: Sie sollte erstens die nordsyrische Kurden-Miliz YPG zerschlagen. Die YPG wurde im Kampf gegen die Dschihadisten des Islamischen Staates (IS) nach 2014 der engste Alliierte des Westens, weil die Türkei sich bis dahin beharrlich weigerte, gegen die Dschihadisten vorzugehen, diese gar heimlich logistisch unterstütze. Die Operation «Quelle des Friedens» sollte ferner in den traditionell von nordsyrischen Kurden bewohnten Städten über eine Million arabisch-stämmige syrische Flüchtlinge aus der Türkei ansiedeln.
Der Einmarsch der türkischen Truppen hat den bis dahin relativ friedlichen Nordosten Syriens destabilisiert und eine humanitäre Katastrophe ausgelöst. Bis zu 200’000 Menschen wurden in die Flucht getrieben, der Krieg wütet trotz der mit den USA und Russland ausgehandelten Waffenruhe in zahlreichen Gebieten unvermindert weiter. Menschenrechtsorganisationen werfen der Türkei und ihrer alliierten «Syrischen Nationalarmee» (SNA) inzwischen gravierende Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechern vor. «Zivilisten werden auf brutalste Weise ermordet, Eigentümer willkürlich geplündert und die Rückkehr von Flüchtlingen in ihre Heimat gehindert», schrieb in ihrem vor kurzem veröffentlichten Bericht die renommierte Human Rights Watch. Kurz: Der türkische Einmarsch hat die kurdische YPG geschwächt und den Dschihadisten des IS den Rücken gestärkt. Syrische Truppen drangen ins Gebiet vor, das sie bis dahin nicht kontrollierten. Der Einmarsch der Türkei im Alleingang hat die Glaubwürdigkeit des Westens in der ganzen Region des Nahen Ostens auf ein Minimum abstürzen lassen. Der Einfluss Russlands ist grösser als je zuvor. «Ist die Türkei ein Alliierter der NATO oder doch eher ihr Gegner?». Diese Frage geht seither um. Der französische Präsident Emmanuel Macron hat die NATO für «hirntot» erklärt. NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg rief allerdings zur Mässigung: Alle Alliierten hätten die türkische Operation in Syrien zwar kritisiert, die Türkei müsste aber «aus geostrategischen Überlegungen unbedingt in der NATO» behalten werden.
Präsident Erdogan fühlt sich selbstsicher. In London will er von den NATO-Alliierten um «Solidarität» bitten: Demnach soll die NATO der Türkei erstens erlauben, in Nordsyrien die Kurden zu vertreiben und in ihren Städten Flüchtlinge aus der Türkei anzusiedeln. Zweitens soll die NATO ihre bisherigen kurdischen Alliierten der YPG zu Terroristen erklären. Solange dies nicht passiert, will Ankara laut offiziellen Erklärungen ein geplantes Sicherheitsabkommen für Polen und die baltischen Staaten blockieren. Wird die NATO dem Wunsch Ankaras tatsächlich nachkommen?
Trügerische Hoffnung
Die Hoffnung, wonach die Türkei mit Zugeständnissen für die NATO gewonnen werden könnte, halten viele in der Türkei für trügerisch. «Je mehr der Westen versucht, die Türkei zu besänftigen, um so mehr sieht sich die Führung in Ankara ermutigt, die Konflikte mit ihren Nachbarn zu eskalieren», kommentiert Yavuz Baydar. Wie Cem Dündar musste auch Yavuz Baydar aus politischen Gründen sein Land verlassen und leitet seine links-liberale internet Platform Ahval aus dem Exil in Europa.
Ahmet Altan, ein populärer türkischer Autor und ehemals Chefredakteur der links-liberalen Tageszeitung «Taraf» wurde im Rahmen der Säuberungswelle 2016 festgenommen und mit der kafkaesk anmutenden Begründung, er hätte während eines Fernsehgesprächs mit «einer Augenbewegung» den Startschuss für den Putschversuch gegeben, zum Tode verurteilt. Letzten Monat hat ein Gericht unerwartet die Freilassung Ahmet Altans verordnet. Fünf Tage später hat ein zweites Gericht den linken Intellektullen erneut zurück hinter Gitter gesteckt. Während seiner kurzen Zeit ausserhalb der Mauer schrieb er einen Bericht für die französische «Le Monde»: «Es scheint, als würde das Leben in der Türkei lediglich aus einem Gefängnis und einem Irrenhaus bestehen». Ausserhalb der Gefängnismauer würde alles auf eine einzige Frage reduziert: In wie fern liebst Du Deine Heimat?… Freilich habe «nur die politische Führung das letzte Wort darüber, wer wohl seine Heimat am meisten liebt». Hat die NATO weiterhin Anspruch darauf, ein «Bollwerk für Freiheit und Demokratie» zu sein, müssten der Fall von Ahmet Altan oder die Teilung der Gewalten in der Türkei im Londoner Gipfel zur Diskussion stehen.
Werden sie?
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine.
"Hat die NATO weiterhin Anspruch darauf, ein «Bollwerk für Freiheit und Demokratie» zu sein …"[?]
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Persönlich frage ich mich nicht, ob die NATO Anspruch darauf hat, sondern ob sie es ist. Meine Antwort darauf ist ein klares «Nein!», spätestens seit der völkerwiderrechtlichen Bombardierung Serbiens.
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Und mit «Freiheit und Demokratie» ist es so eine Sache. Mir scheint, diese werden nur dann «verteidigt», wenn es den geopolitischen Interessen der NATO, insbesondere denen der NATO Führungsmacht dient.
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Ich kann nachvollziehen, warum Erdogan die YPG als Terrororganisation einstuft. Das NATO Plenum wird dieser Einschätzung aber nicht folgen, glaube ich.
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Und zum «Sachgeschäft», dem sich Erdogan verwehrt: Ich bezweifle, dass ein Ausbau der NATO Präsenz im Baltikum und in Polen «Freiheit und Demokratie» stärken, aber ich befürchte, dass dies das Risiko eines Krieges in Europa erhöhen würde.
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Bemerkenswert finde ich, dass Frau van Gent in vielen ihrer Artikel (hier im Infosperber) zu Recht völkerrechtswidrige Aktionen der Türkei verurteilt, aber konsequent verschweigt, dass die NATO Staaten USA, UK, FR, DE u.a. genauso das Völkerrecht brechen in der Syrisch Arabischen Republik.
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Mal sehen was in London rauskommt …
Die Kooperation mit der Türkei (und Saudi-Arabien) entlarven jegliche westliche Kritik an der Menschenrechtssituation in Ländern wie Iran, Venezuela, China, oder Russland als reine, politisch motivierte Heuchlerei. Zu behaupten die NATO verteidige die «freie Welt» ist blanker Hohn angesichts dessen was in dem NATO-Land Türkei passiert. Die NATO ist eine rein machtpolitische Organisation welche die Kraft der US-Armee multipliziert und den USA hilft, ihre Interessen durchzusetzen. Europa lässt sich dabei naiv oder willfährig instrumentalisieren.
"Seit ihrem NATO-Beitritt 1952 hat die Türkei schon aufgrund ihrer geographischen Lage eines der wichtigsten Bollwerke der westlichen Allianz gegen den «Warschau-Pakt» gebildet."
Dummerweise wurde der Warschauer-Pakt erst 1955 gegründet. Das war also wohl ein Bollwerk gegen einen noch reichlich «virtuellen» Pakt.
Wie hiess es doch so schön: «Die Verteidigung im strategischen Vorfeld muss beginnen, bevor eine Agression schon nur angedacht wird."
Erdogan ist also in guter Gesellschaft.
Immerhin hat die schweizer Bevölkerung auch schon einmal gegen die Beschaffung einer Atombombe gestimmt. Es gibt noch Hoffnung.