Sperberauge
Zehn Jahre «Putin-Rede 2007»
Gut 70 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg und ebenso langem Frieden in Westeuropa ist es aus der Mode gekommen, sich darum zu kümmern, wie alles entstanden ist. Friede scheint zur Selbstverständlichkeit geworden zu sein. Aus der Geschichte lernen? Ach was, es ist ohnehin immer alles anders, als es damals war …
Der politisch und historisch Interessierte allerdings tut gut daran, gelegentlich einen Blick nach hinten zu werfen – nicht einmal unbedingt über Hunderte von Jahren, auch eine Dekade kann eine Welt ganz schön verändern.
Wer etwa hätte es vor zehn Jahren für möglich gehalten, dass in den USA ein Mann zum Präsidenten gewählt wird, der zwar bestens weiss, wie man in New York mit grossem Gewinn Wolkenkratzer kauft und verkauft, aber von den politischen Realitäten und Problemen auf dieser Welt schlicht keine Ahnung hat? Wer hätte es für möglich gehalten, dass in den USA, dem Traumland vieler Nicht-Amerikaner rund um die Welt, ein Mann Präsident wird, der vor allem im auf 140 Zeichen begrenzten Twitter-Format verkündet, was er meint? Und oft auch noch mit hässlichen Schreibfehlern?
Genau vor zehn Jahren, im Februar 2007, hielt der russische Präsident Wladimir Putin eine damals vielbeachtete Rede, in der er den anwesenden Staatsmännern und Politikern klarmachte, dass Russland eine unipolare – sprich: eine nur noch von den USA dominierte und gesteuerte – Welt nicht akzeptiert. Und er machte damals, vor zehn Jahren, darauf aufmerksam, dass Russland das unaufhaltsame Näherrücken der Nato und ihrer Raketenbasen an Russland als klare Provokation versteht.
Man mag zur heutigen russischen Politik stehen wie man will, eines musste damals auch den Russland-feindlichsten Konferenz-Teilnehmern klar werden: Putin ist bestens informiert. Er weiss, wovon er redet. Und Putin spricht eine Sprache, die auf eine angemessene Bildung schliessen lässt – im Gegensatz zur vertwitterten und oft fehlerhaften Sprache und Schreibweisen von Donald Trump heute.
Hier seine vollständige, ins Deutsche übersetzte Rede im Wortlaut. Sie kann unten auch als PDF gelesen und downgeloadet werden. (Die Zwischentitel sind nicht von Putin gesetzt.)
Rede des russischen Präsidenten Wladimir Putin auf der 43. Münchner «Sicherheitskonferenz» im Jahr 2007, in deutscher Übersetzung:
«Sehr geehrte Damen und Herren!
Vielen Dank, verehrte Frau Kanzlerin, für die Einladung, an den Tisch der Konferenz, die Politiker, Militärs, Unternehmer und Experten aus mehr als 40 Ländern der Welt zusammengeführt hat.
Das Format der Konferenz gibt mir die Möglichkeit, der ‹übertriebenen Höflichkeit› zu entgehen, mit geschliffenen, angenehmen, aber leeren diplomatischen Worthülsen sprechen zu müssen. Das Format der Konferenz erlaubt, das zu sagen, was ich wirklich über die Probleme der internationalen Sicherheit denke. Und wenn meine Überlegungen meinen Kollegen allzu polemisch oder ungenau erscheinen, ärgern Sie sich bitte nicht über mich – es ist doch nur eine Konferenz. Und ich hoffe, dass nicht schon nach zwei, drei Minuten meines Auftrittes Herr Teltschik (damaliger Direktor der Sicherheitskonferenz; Red.) das ‹Rotlicht› aufleuchten lässt.
Also. Es ist bekannt, dass die Problematik der internationalen Sicherheit bedeutend breiter ist als die Fragen der militärpolitischen Stabilität. Dazu gehören die Beständigkeit der Weltwirtschaft, die Überwindung der Armut, die ökonomische Sicherheit und die Entwicklung des Dialogs zwischen den Zivilisationen.
Dieser allumfassende, unteilbare Charakter der Sicherheit drückt sich auch in seinem Grundprinzip aus: «Die Sicherheit des Einzelnen – das ist die Sicherheit aller». Wie sagte doch Franklin Roosevelt schon in den ersten Tagen des Zweiten Weltkrieges: ‹Wo auch immer der Frieden gebrochen wird, ist er gleichzeitig überall bedroht und in Gefahr.›
Diese Worte haben bis heute ihre Aktualität behalten. Davon zeugt übrigens auch das Thema unserer Konferenz, so wie es hier geschrieben steht: ‹Globale Krisen – globale Verantwortung›.
Die monopolare Welt
Vor gerade einmal zwei Jahrzehnten war die Welt ideologisch und wirtschaftlich zerbrochen, aber ihre Sicherheit garantierten die gewaltigen strategischen Potenziale zweier Supermächte.
Der globale Gegensatz schob äußerst drängende ökonomische und soziale Fragen an den Rand der internationalen Beziehungen und Tagesordnungen. Und wie jeder Krieg hinterließ uns auch der ‹kalte Krieg› – bildlich ausgedrückt – ‹Blindgänger›. Ich meine damit ideologische Stereotypen, doppelte Standards, irgendwelche Schablonen des Blockdenkens. Die nach dem ‹Kalten Krieg› vorgeschlagene monopolare Welt kam auch nicht zustande.
Die Menschheitsgeschichte kennt natürlich auch Perioden monopolaren Zustandes und des Strebens nach Weltherrschaft. Alles war schon mal da in der Geschichte der Menschheit. Aber was ist eigentlich eine monopolare Welt? Wie man diesen Terminus auch schmückt, am Ende bedeutet er praktisch nur eines: es gibt ein Zentrum der Macht, ein Zentrum der Stärke, ein Entscheidungs-Zentrum. Es ist die Welt eines einzigen Hausherren, eines Souveräns. Und das ist am Ende nicht nur tödlich für alle, die sich innerhalb dieses Systems befinden, sondern auch für den Souverän selbst, weil es ihn von innen zerstört.
Das hat natürlich nichts mit Demokratie gemein. Weil Demokratie bekanntermaßen die Herrschaft der Mehrheit bedeutet, unter Berücksichtigung der Interessen und Meinungen der Minderheit.
Nebenbei gesagt, lehrt man uns – Russland – ständig Demokratie. Nur die, die uns lehren, haben selbst, aus irgendeinem Grund, keine rechte Lust zu lernen.
Ich denke, dass für die heutige Welt das monopolare Modell nicht nur ungeeignet, sondern überhaupt unmöglich ist. Nicht nur, weil für eine Einzel-Führerschaft in der heutigen – gerade in der heutigen – Welt weder die militärpolitischen noch die ökonomischen Ressourcen ausreichen. Was noch wichtiger ist – das Modell selbst erweist sich als nicht praktikabel, weil es selbst keine Basis hat und nicht die sittlich-moralische Basis der modernen Zivilisation sein kann.
Heute beobachten wir eine fast unbegrenzte, hypertrophe Anwendung von Gewalt in den internationalen Beziehungen
Damit ist alles, was heute in der Welt geschieht – und wir fangen jetzt erst an, darüber zu diskutieren – eine Folge der Versuche, solch eine Konzeption der monopolaren Welt, in der Welt einzuführen. Und mit welchem Ergebnis?
Einseitige, oft nicht legitime Handlungen haben nicht ein einziges Problem gelöst. Vielmehr waren sie Ausgangspunkt neuer menschlicher Tragödien und Spannungsherde. Urteilen Sie selbst: Die Kriege, die lokalen und regionalen Konflikte sind nicht weniger geworden. Herr Teltschik hat ganz leicht daran erinnert. Und es sterben nicht weniger Menschen bei diesen Konflikten als früher, sondern sogar mehr. Bedeutend mehr!
Heute beobachten wir eine fast unbegrenzte, hypertrophe Anwendung von Gewalt – militärischer Gewalt – in den internationalen Beziehungen, einer Gewalt, welche eine Sturmflut aufeinander folgender Konflikte in der Welt auslöst. Im Ergebnis reichen dann nicht die Kräfte für eine komplexe Lösung wenigstens eines dieser Konflikte. Eine politische Lösung ist ebenfalls unmöglich.
Wir sehen eine immer stärkere Nichtbeachtung grundlegender Prinzipien des Völkerrechts. Mehr noch – bestimmte Normen, ja eigentlich fast das gesamte Rechtssystem eines Staates, vor allem, natürlich, der Vereinigten Staaten, hat seine Grenzen in allen Sphären überschritten: sowohl in der Wirtschaft, der Politik und im humanitären Bereich wird es anderen Staaten übergestülpt. Nun, wem gefällt das schon?
In den internationalen Angelegenheiten begegnet man immer öfter dem Bestreben, die eine oder andere Frage ausgehend von einer so genannten politischen Zielgerichtetheit auf der Grundlage der gegenwärtigen politischen Konjunktur zu lösen. Das aber ist äußerst gefährlich. Es führt dazu, dass sich schon niemand mehr in Sicherheit fühlt. Ich will das unterstreichen – niemand fühlt sich mehr sicher! Weil sich niemand mehr hinter dem Völkerrecht wie hinter einer schützenden Wand verstecken kann. Eine solche Politik erweist sich als Katalysator für das Wettrüsten.
Die Dominanz des Faktors Gewalt löst in einer Reihe von Ländern den Drang nach dem Besitz von Massenvernichtungswaffen aus. Mehr noch – es erschienen ganz neue Bedrohungen, die zwar früher schon bekannt waren, aber heute globalen Charakter annehmen, wie der Terrorismus.
Ich bin überzeugt, dass wir heute an einem Grenzpunkt angelangt sind, an dem wir ernsthaft über die gesamte Architektur der globalen Sicherheit nachdenken sollten. Man muss ablassen von der Suche nach einer ausgeklügelten Balance der Interessen aller international handelnden Subjekte. Umso mehr, als sich gerade jetzt die ‹internationale Landschaft› so spürbar und so schnell ändert, und zwar auf Grund der wirtschaftlichen Entwicklung einer ganzen Reihe von Staaten und Regionen.
Die Frau Bundeskanzlerin hat schon darauf aufmerksam gemacht. So ist das summierte BIP Indiens und Chinas hinsichtlich der paritätischen Kaufkraft schon größer als das der USA. Das gleichermaßen berechnete BIP der BRIC-Staaten – Brasilien, Russland, Indien und China – übersteigt das BIP der EU. Nach Auffassung der Experten wird diese Entwicklung weiter anhalten.
Es besteht kein Zweifel, dass das wirtschaftliche Potenzial neuer Wachstumszentren auf der Welt unausweichlich auch in politischen Einfluss umschlägt und die Multipolarität stärkt.
In diesem Zusammenhang wächst auch ernsthaft die Rolle der mehrseitigen Diplomatie. Offenheit, Transparenz und Berechenbarkeit sind in der Politik ohne Alternative, aber die Anwendung von Gewalt sollte ebenso ausgeschlossen sein, wie die Anwendung der Todesstrafe in den Rechtssystemen einiger Staaten.
Wir beobachten aber heute, im Gegenteil, dass Länder, in denen die Anwendung der Todesstrafe sogar gegenüber Mördern und anderen gefährlichen Verbrechern verboten ist, ungeachtet dessen an militärischen Aktionen teilnehmen, die schwerlich als legitim zu bezeichnen sind. Doch bei diesen Konflikten sterben Menschen – Hunderte, Tausende friedlicher Menschen!
Gleichzeitig stellt sich die Frage: Sollen wir etwa untätig und willenlos auf die verschiedenen inneren Konflikte in einzelnen Ländern starren, auf das Treiben autoritärer Regimes, von Tyrannen, auf die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen? Genau hierin lag das Wesen der Frage, die der Bundeskanzlerin von unserem verehrten Kollegen Lieberman gestellt wurde. Das ist tatsächlich eine ernsthafte Frage! Können wir unbeteiligt zusehen, was passiert? Natürlich nicht.
»Man darf die UNO nicht durch die NATO oder die EU ersetzen»
Aber haben wir die Mittel, um diesen Bedrohungen zu widerstehen? Natürlich haben wir sie. Wir brauchen uns nur an die jüngste Geschichte zu erinnern. Haben wir nicht in unserem Land einen friedlichen Übergang zur Demokratie vollzogen? Es hat doch eine friedliche Transformation des sowjetischen Regimes stattgefunden. Und was für eines Regimes! Mit welcher Menge an Waffen, darunter Kernwaffen! Warum muss man jetzt, bei jedem beliebigen Vorkommnis, bombardieren und schießen. Es kann doch nicht sein, dass es uns bei einem Verzicht auf die Androhung gegenseitiger Vernichtung an politischer Kultur und Achtung vor den Werten der Demokratie und des Rechts fehlt.
Ich bin überzeugt, dass der einzige Mechanismus zur Entscheidung über die Anwendung von Gewalt als letzte Maßnahme nur die UN-Charta sein darf. In diesem Zusammenhang habe ich auch nicht verstanden, was kürzlich der Verteidigungsminister Italiens gesagt hat, oder er hat sich unklar ausgedrückt. Ich habe jedenfalls verstanden, dass die Anwendung von Gewalt nur dann als legitim gilt, wenn sie auf der Grundlage einer Entscheidung der NATO, der EU oder der UNO basiert. Wenn er das tatsächlich meint, dann haben wir verschiedene Standpunkte. Oder ich habe mich verhört. Legitim ist eine Anwendung von Gewalt nur dann zu nennen, wenn ihr ein UNO-Beschluss zu Grunde liegt. Und man darf die UNO nicht durch die NATO oder die EU ersetzen. Und wenn die UNO wirklich die Kräfte der internationalen Gemeinschaft vereint, die tatsächlich auf Ereignisse in einzelnen Staaten reagieren können, wenn wir uns von der Nichtbeachtung internationalen Rechts abkehren, dann kann sich die Situation ändern. Im anderen Fall gerät die Situation nur in eine Sackgasse und es häufen sich die schweren Fehler. Zugleich muss man erreichen, dass das Völkerrecht universalen Charakter erhält, sowohl im Verständnis wie auch in der Anwendung der Normen.
Man darf nicht vergessen, dass demokratische Handlungen in der Politik unbedingt eine Diskussion und sorgfältige Ausarbeitung von Entscheidungen voraussetzt.
Abrüstungs-Stau
Sehr geehrte Damen und Herren!
Die potenzielle Gefahr einer Destabilisierung der internationalen Beziehungen ist auch mit einem Abrüstungs-Stau verbunden. Russland tritt für die Wiederaufnahme des Dialogs zu dieser wichtigen Frage ein. Es ist wichtig, die Beständigkeit der völkerrechtlichen Basis für die Abrüstung zu sichern, gleichzeitig auch die Fortführung des Prozesses der Reduzierung der Kernwaffen zu gewährleisten.
Wir haben mit den USA den Abbau unserer strategischen Kernwaffenpotenziale auf 1700 – 2200 Sprengköpfe bis Ende 2012 vereinbart. Russland beabsichtigt, die übernommenen Verpflichtungen streng einzuhalten. Wir hoffen, dass unsere Partner genauso transparent handeln und nicht für einen «schwarzen Tag» ein paar Hundert Sprengköpfe zurücklegen. Und wenn uns heute der neue Verteidigungsminister der USA erklärt, dass die Vereinigten Staaten diese überzähligen Sprengköpfe nicht in Lagern, nicht unter dem Kopfkissen und auch nicht unter der Bettdecke verstecken, dann schlage ich vor, dass sich alle erheben und stehend applaudieren. Das wäre eine sehr wichtige Erklärung.
Russland hält sich weiterhin streng, wie auch bisher, an die Verträge über die Nichtweiterverbreitung von Kernwaffen und die vielseitigen Kontrollregimes für Raketentechnologie. Die in diesen Dokumenten festgehaltenen Prinzipien tragen universellen Charakter.
In diesem Zusammenhang möchte ich daran erinnern, dass die UdSSR und die USA in den 80er Jahren einen Vertrag über die Liquidierung einer ganzen Klasse von Raketen geringer und mittlerer Reichweite unterzeichnet haben, aber einen universellen Charakter hat dieses Dokument nicht erhalten.
Heute haben schon eine Reihe Staaten solche Raketen: Die Koreanische Volksdemokratische Republik, die Republik Korea, Indien, Iran, Pakistan, Israel. Viele andere Staaten der Welt projektieren solche Systeme und planen, sie mit Waffen zu bestücken. Nur die USA und Russland haben sich verpflichtet, keine solchen Waffensysteme zu bauen. Klar, dass wir unter solchen Bedingungen über die Gewährleistung unserer eigenen Sicherheit nachdenken müssen.
Die Militarisierung des Weltalls
In Verbindung damit dürfen wir keine neuen destabilisierenden hochtechnologischen Waffenarten zulassen. Nicht zu reden von Maßnahmen zur Erschließung neuer Sphären der Konfrontation, vor allem im Kosmos. «Star Wars» sind bekanntermaßen längst keine Utopie mehr, sondern Realität. Schon Mitte der 80er Jahre (des vergangenen Jahrhunderts) haben unsere amerikanischen Partner in der Praxis einen ihrer eigenen Satelliten gekapert.
Die Militarisierung des Weltraums kann, nach Auffassung Russlands, für die Weltgemeinschaft unvorhersehbare Folgen provozieren – nicht weniger als zu Beginn der Kernwaffenära. Wir haben nicht nur einmal Initiativen vorgelegt, die auf den Verzicht auf Waffen im Kosmos gerichtet waren.
Ich möchte Sie heute darüber informieren, dass wir einen Vertragsentwurf über die Vermeidung einer Stationierung von Waffen im Weltraum vorbereitet haben. In der nächsten Zeit wird er allen Partnern als offizieller Vorschlag zugeleitet werden. Lassen Sie uns gemeinsam daran arbeiten.
Uns beunruhigen auch Pläne zum Aufbau von Elementen eines Raketenabwehrsystems in Europa. Wer braucht eine neue Runde eines in diesem Falle unausweichlichen Wettrüstens? Ich zweifle zutiefst daran, dass es die Europäer selbst sind.
Über Raketenwaffen, die, um tatsächlich Europa gefährden zu können, eine Reichweite von 5000 bis 8000 Kilometern haben müssen, verfügt keines dieser so genannten ‹Problemländer›. Und in der absehbaren Zukunft werden sie auch keine haben, nicht einmal die Aussicht darauf. Selbst der hypothetische Start einer nordkoreanischen Rakete in Richtung des Territoriums der USA über Westeuropa hinweg, widerspricht allen Gesetzen der Ballistik. Wie man bei uns in Russland sagt, ist das so, ‹wie wenn man sich mit der linken Hand am rechten Ohr kratzt›.
Vertrag über die konventionellen Streitkräfte in Europa
Weil ich gerade hier in Deutschland bin, kann ich nicht umhin, an den kritischen Zustand des Vertrages über die konventionellen Streitkräfte in Europa zu erinnern.
Der adaptierte Vertrag über die konventionellen Streitkräfte in Europa wurde 1999 unterzeichnet. Er berücksichtigte die neue geopolitische Realität – die Liquidierung des Warschauer Paktes. Seither sind sieben Jahre vergangen, und nur vier Staaten haben dieses Dokument ratifiziert, darunter die Russische Föderation.
Die NATO-Länder haben offen erklärt, dass sie den Vertrag, einschließlich der Festlegungen über Begrenzungen bei der Stationierung einer bestimmten Stärke von Streitkräften an den Flanken, so lange nicht ratifizieren werden, bis Russland seine Basen in Moldawien und Georgien schließt. Aus Georgien ziehen unsere Truppen ab, sogar im Eiltempo. Diese Probleme haben wir mit unseren georgischen Kollegen geklärt, wie allen bekannt sein dürfte. In Moldawien verbleibt eine Gruppierung von anderthalb Tausend Wehrpflichtigen, die friedensfördernde Aufgaben erfüllen und Munitionslager bewachen, die noch aus Zeiten der UdSSR übrig geblieben sind. Wir sind ständig im Gespräch mit Herrn Javier Solana über diese Probleme und er kennt unsere Position. Wir sind bereit, auch weiterhin in dieser Richtung zu arbeiten.
Die NATO-Erweiterung ist ein ‹provozierender Faktor›
Aber was geschieht zur selben Zeit? In Bulgarien und Rumänien entstehen sogenannte leichte amerikanische Vorposten-Basen mit jeweils 5000 Mann. Das bedeutet, dass die NATO ihre Stoßkräfte immer dichter an unsere Staatsgrenzen heranbringt, und wir, die wir uns streng an den Vertrag halten, in keiner Weise auf dieses Vorgehen reagieren.
Ich denke, es ist offensichtlich, dass der Prozess der NATO-Erweiterung keinerlei Bezug zur Modernisierung der Allianz selbst oder zur Gewährleistung der Sicherheit in Europa hat. Im Gegenteil, das ist ein provozierender Faktor, der das Niveau des gegenseitigen Vertrauens senkt. Nun haben wir das Recht zu fragen: Gegen wen richtet sich diese Erweiterung? Und was ist aus jenen Versicherungen geworden, die uns die westlichen Partner nach dem Zerfall des Warschauer Vertrages gegeben haben? Wo sind jetzt diese Erklärungen? An sie erinnert man sich nicht einmal mehr. Doch ich erlaube mir, vor diesem Auditorium daran zu erinnern, was gesagt wurde. Ich möchte ein Zitat von einem Auftritt des Generalsekretärs der NATO, Herrn Wörner, am 17. Mai 1990 in Brüssel bringen. Damals sagte er: ‹Schon der Fakt, dass wir bereit sind, die NATO-Streitkräfte nicht hinter den Grenzen der BRD zu stationieren, gibt der Sowjetunion feste Sicherheitsgarantien.› Wo sind diese Garantien?
Die Steine und Betonblocks der Berliner Mauer sind schon längst zu Souvenirs geworden. Aber man darf nicht vergessen, dass ihr Fall auch möglich wurde dank der historischen Wahl, auch unseres Volkes, des Volkes Russlands, eine Wahl zugunsten der Demokratie und Freiheit, der Offenheit und echten Partnerschaft mit allen Mitgliedern der großen europäischen Familie.
Jetzt versucht man, uns schon wieder neue Teilungslinien und Mauern aufzudrängen – wenn auch virtuelle, trotzdem trennende, die unseren gesamten Kontinent teilen. Soll es nun etwa wieder viele Jahre und Jahrzehnte dauern und den Wechsel von einigen Politiker-Generationen, um diese neuen Mauern zu «demontieren»?
Sehr geehrte Damen und Herren!
Wir treten eindeutig für die Festigung des Regimes der Nichtweiterverbreitung von Nuklearwaffen ein. Die bestehende völkerrechtliche Basis erlaubt es, eine Technologie zur Herstellung von Kernbrennstoff für friedliche Zwecke auszuarbeiten. Und viele Länder wollen auf dieser Grundlage eigene Kernenergie erzeugen als Basis ihrer energetischen Unabhängigkeit. Aber wir verstehen auch, dass diese Technologien schnell für den Erhalt waffenfähigen Materials transformiert werden können.
Das iranische Nuklearprogramm
Das ruft ernsthafte internationale Spannungen hervor. Das deutlichste Beispiel dafür ist die Situation um das iranische Atomprogramm. Wenn die internationale Gemeinschaft nicht eine kluge Entscheidung zur Lösung dieses Interessenkonflikts ausarbeitet, wird die Welt auch künftig von solchen destabilisierenden Krisen erschüttert werden, weil es mehr Schwellenländer gibt als den Iran, wie wir alle wissen. Wir werden immer wieder mit der Gefahr der Weiterverbreitung von Massenvernichtungsmitteln konfrontiert werden.
Im vergangenen Jahr hat Russland eine Initiative zur Schaffung multinationaler Zentren zur Urananreicherung vorgelegt. Wir sind dafür offen, solche Zentren nicht nur in Russland zu schaffen, sondern auch in anderen Ländern, wo eine legitime friedliche Kernenergiepolitik existiert. Staaten, welche die Erzeugung von Atomenergie entwickeln wollen, könnten garantiert Brennstoff über die unmittelbare Beteiligung an der Arbeit dieser Zentren erhalten, unter strenger Kontrolle der Internationalen Atomenergie-Behörde (IAEO).
Mit dem russischen Vorschlag im Einklang stehen auch die jüngsten Initiativen des USA-Präsidenten George W. Bush. Ich meine, dass Russland und die USA objektiv und in gleichem Maße an einer Verschärfung des Regimes der Nichtweiterverbreitung von Massenvernichtungsmitteln und den Mitteln ihrer Erlangung interessiert sind. Gerade unsere Länder, die mit ihrem Kernwaffen- und Raketenpotenzial an der Spitze stehen, sollten sich auch an die Spitze stellen bei der Ausarbeitung neuer, härterer Maßnahmen bei der Nichtweiterverbreitung. Russland ist dazu bereit. Wir führen Konsultationen mit unseren amerikanischen Freunden.
Internationale Zusammenarbeit im Energie-Sektor
Insgesamt sollten wir über die Schaffung eines ganzen Systems politischer Hebel und ökonomischer Anreize reden, unter denen die Staaten interessiert wären, nicht eigene Möglichkeiten für Kernbrennstoff-Zyklen zu schaffen, aber trotzdem die Gelegenheit hätten, die Kernenergie für die Stärkung ihres Energiepotenzials zu nutzen.
In diesem Zusammenhang verweile ich etwas länger bei der internationalen Zusammenarbeit im Energiebereich. Die Frau Bundeskanzlerin hat ebenfalls kurz zu diesem Thema gesprochen. Im Energiebereich orientiert sich Russland auf die Schaffung von für alle einheitlichen Marktprinzipien und transparenter Bedingungen. Es ist offensichtlich, dass der Preis für Energieträger sich dem Markt anpassen muss und nicht zum Spielball politischer Spekulationen, ökonomischen Drucks oder von Erpressung sein darf.
Wir sind offen für Zusammenarbeit. Ausländische Unternehmen beteiligen sich an unseren größten Projekten zur Energiegewinnung. Nach unterschiedlichen Einschätzungen entfallen bis zu 26 Prozent des in Russland geförderten Erdöls – merken Sie sich bitte diese Zahl! – auf ausländisches Kapital. Versuchen Sie bitte, mir ein Beispiel von einer ähnlich breiten Beteiligung russischer Unternehmen an Schlüsselbereichen der Wirtschaft westlicher Staaten zu nennen. Es gibt keine!
Ich erinnere auch an das Verhältnis von Investitionen, die nach Russland kommen, und jener, die aus Russland in andere Länder auf der Welt gehen. Dieses Verhältnis ist etwa 15:1. Hier haben Sie ein leuchtendes Beispiel für die Offenheit und Stabilität der russischen Wirtschaft.
Russland und die Welthandelsorganisation (WTO)
Wirtschaftliche Sicherheit, das ist die Sphäre, in der sich alle an einheitliche Prinzipien halten müssen. Wir sind bereit, ehrlich zu konkurrieren. Dafür hat die russische Wirtschaft immer mehr Möglichkeiten. Das schätzen auch die Analysten und unsere ausländischen Partner ebenso ein. So wurde erst kürzlich das Rating Russland in der OECD erhöht: aus der vierten Risikogruppe stieg unser Land in die dritte Gruppe auf. Ich möchte hier und heute in München die Gelegenheit nutzen, unseren deutschen Kollegen für die Zusammenarbeit bei der genannten Entscheidung zu danken.
Im Weiteren, wie Sie wissen, ist der Prozess der Einbindung Russlands in die WTO in der Endphase. Ich stelle fest, dass wir im Laufe langer, schwieriger Verhandlungen nicht ein Wort über die Freiheit des Wortes, über Handelsfreiheit, Chancengleichheit gehört haben, sondern ausschließlich zu unserem, dem russischen Markt.
Noch zu einem anderen wichtigen Thema, das unmittelbar die globale Sicherheit beeinflusst. Heute reden viele von dem Kampf gegen die Armut. Aber was passiert denn wirklich? Einerseits werden für die Hilfsprogramme zugunsten der ärmsten Länder Finanzmittel zur Verfügung gestellt, und nicht einmal geringe. Aber ganz ehrlich, auch das wissen viele, ist es so, dass sich Unternehmen der Geber-Länder dieses Geld «aneignen». Zur selben Zeit werden andererseits in den entwickelten Ländern die Subventionen in der Landwirtschaft aufrechterhalten, wodurch für andere der Zugang zur Hochtechnologie begrenzt wird.
Nennen wir die Dinge doch beim Namen: Mit der einen Hand wird «wohltätige Hilfe» geleistet, aber mit der anderen wird nicht nur die wirtschaftliche Rückständigkeit konserviert, sondern auch noch Profit gescheffelt. Die entstehenden sozialen Spannungen in solchen depressiven Regionen führen unausweichlich zum Anwachsen des Radikalismus und Extremismus, nähren den Terrorismus und lokale Konflikte. Aber wenn das zudem noch, sagen wir, im Nahen Osten geschieht, unter den Bedingungen eines zugespitzten Verständnisses der äußeren Welt als einer ungerechten, dann entsteht das Risiko einer globalen Destabilisierung.
Es ist klar, dass die führenden Länder der Erde die Gefahr sehen müssen und dementsprechend ein demokratischeres, gerechteres System der wirtschaftlichen Beziehungen in der Welt schaffen müssen – ein System, das allen die Chance und die Möglichkeit der Entwicklung geben muss.
Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE)
Bei einem Auftritt auf der Sicherheitskonferenz darf man nicht mit Schweigen das Wirken der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa übergehen. Sie wurde bekanntermaßen gegründet, um alle – ich unterstreiche: alle – Aspekte der Sicherheit zu überprüfen: den militärpolitischen, den ökonomischen, den humanitären – und dabei alle in ihrem Zusammenhang.
Was sehen wir heute in der Praxis? Wir sehen, dass dieses Gleichgewicht klar gestört ist. Es wird versucht, die OSZE in ein vulgäres Instrument der Absicherung außenpolitischer Interessen der einen oder anderen Staatengruppe gegenüber anderen Staaten zu verwandeln. Dieser Aufgabe wurde auch der bürokratische Apparat der OSZE untergeordnet, der überhaupt nicht mit den Teilnehmerländern verbunden ist. Dieser Aufgabe untergeordnet wurden auch die Prozeduren für die Annahme von Entscheidungen und die Ausnutzung sogenannter ‹Nicht-Regierungs-Organisationen›. Ja, sie sind formal unabhängig, werden aber zielgerichtet finanziert, das heißt kontrolliert.
Entsprechend den allgemein gültigen Dokumenten ist die OSZE aufgerufen, mit den Mitgliedsländern, auf deren Bitte hin, bei der Überwachung der Einhaltung internationaler Normen auf dem Gebiet der Menschenrechte zusammenzuarbeiten. Das ist eine wichtige Aufgabe, die wir unterstützen. Aber das bedeutet keine Einmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten und erst recht nicht, diesen Staaten aufzudrängen, wie sie zu leben und sich zu entwickeln haben.
Es ist klar, dass eine solche Einmischung nicht dem Reifen von wirklich demokratischen Staaten dient. Im Gegenteil, es macht sie abhängig, und im Ergebnis dessen politisch und wirtschaftlich instabil. Wir erwarten, dass die OSZE sich von ihren unmittelbaren Aufgaben leiten lässt und ihre Beziehungen mit den souveränen Staaten auf der Grundlage der Achtung, des Vertrauens und der Transparenz gestaltet.
Sehr geehrte Damen und Herren!
Zum Abschluss möchte ich Folgendes bemerken. Wir hören sehr oft, auch ich persönlich, von unseren Partnern, auch den europäischen, den Aufruf an Russland, eine noch aktivere Rolle in den Angelegenheiten der Welt zu spielen. In diesem Zusammenhang gestatte ich mir eine kleine Anmerkung. Man muss uns kaum dazu ermuntern oder drängen. Russland ist ein Land mit einer mehr als tausendjährigen Geschichte und fast immer hatte es das Privileg, eine unabhängige Außenpolitik führen zu können.
Wir werden an dieser Tradition auch heute nichts ändern. Dabei sehen wir sehr genau, wie sich die Welt verändert hat, schätzen realistisch unsere eigenen Möglichkeiten und unser Potenzial ein. Und natürlich möchten wir gerne mit verantwortungsvollen und ebenfalls selbständigen Partnern zusammenarbeiten am Aufbau einer gerechten und demokratischen Welt, in der Sicherheit und Aufblühen nicht nur für Auserwählte, sondern für alle gewährleistet ist.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.»
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Aus dem damaligen Kommentar der NZZ
(cm) Natürlich wurden der persönliche Auftritt Putins und seine Rede stark beachtet – und auch kommentiert. Die NZZ, für die der damalige Ausland-Chef Hansrudolf Kamer in München anwesend war, kommentierte so (Auszug):
«Wenn die Erweiterung der Nato erneut angeprangert und die geplante Raketenabwehr in Osteuropa als Bedrohung etikettiert wird, so sind das zwar rhetorische Markierungen, die erkennen lassen, dass Moskau seine europäischen Ambitionen keineswegs abgeschrieben hat und mitreden will. Deswegen wird aber der dritte Weltkrieg nicht ausbrechen – damit hatten Russen vor Putin gegenüber der Nato auch schon gedroht –, und es wird nicht einmal zu einem kalten Krieg kommen.»
Und was sagt die NZZ heute?
Eric Gujer, heute Chefredaktor der NZZ und bekannt für seine engen Beziehungen zur Nato, weilt selber in München. Und er kann, aus seiner Sicht, nur Gutes vermelden: «Pence (der US-amerikanische Vize-Präsident, Red.) sagte alles, was das verunsicherte europäische Publikum hören wollte. Er bekannte sich zu den gemeinsamen Werten; er versicherte, dass sich Freiheit und Wohlstand nur gemeinsam schaffen lassen und er unterstrich, dass sich die USA nicht auf sich selbst zurückzögen, sondern im Gegenteil weiterhin die Führungsrolle in der Welt spielen würden. Was vor einem Jahr noch wie Floskeln aus einem Werbefilm für das transatlantische Bündnis geklungen hätte, ist heute, nach unzähligen Äusserungen Trumps, eine bitter notwendige rhetorische Rückversicherung.»
Ob die US-amerikanische Beanspruchung einer weltweiten Führungsrolle, wie von Pence jetzt wieder bestätigt, ein konstruktiver Beitrag zu weltweitem Frieden ist, bleibe dahingestellt.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
Schade, Herr Müller, gute Ansätze in diesem Artikel, aber viel, viel zu lange!
Danke, lieber Herr Düggelin, für das Kompliment. Aber in dem Fall ging es um die historische Dokumentation. Da konnte nicht beliebig gekürzt werden, ohne dass etwas verloren gegangen wäre. Beachten Sie zum Beispiel, was Putin zur Entwicklungshilfe in Afrika sagt. Es ist doch genau so: Die Staaten zahlen Entwicklungshilfe, zerstören aber mit ihrer eigenen subventionierten Landwirtschaft die Landwirtschaft in Afrika. Und die privaten Firmen machen echt Kohle mit Afrika, Ausbeutung ohne Ende. Es lohnt sich eben, die GANZE Rede Putins zu lesen. Mit Gruss, Christian Müller
Putin blickt durch. Genau dafür hasst ihn die altgediente westliche Polit-Elite: Sie empfindet es als zutiefst beschämend, sich ausgerechnet vom Russen den Spiegel vorhalten lassen zu müssen. Schlimmer noch, dass seine Analyse über die wirtschaftlichen Verflechtungen der so genannten 1. Welt mit jenen der Entwicklungs- und Schwellenländern und den daraus resultierenden desaströsen Folgen für Letztere den Nagel auf den Kopf trifft.