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Die Zeder auf der Flagge eint das Land. Doch die Macht im Staat haben fremde Mächte. © cc

Libanon im Zangengriff der Mächte – Befreiung ist ungewiss

Erich Gysling /  Die Regierung des Libanon ist zurückgetreten, einem Neubeginn ohne korrupte Politiker steht nichts mehr im Wege. Wirklich?

Frankreichs Präsident Macron dekretierte vor einigen Tagen, beim Besuch in Beirut, alle Hilfsgelder müssten an den Regierenden vorbeifliessen, also direkt den Betroffenen zugute kommen. Ähnlich tönte es, wenn auch mit weniger Pathos verziert, aus der Schweiz, die vier Millionen Franken spenden will. Nur: Wie findet man in einem Land, in dem Korruption ja nicht nur auf Regierungsebene grassiert, jene Bauunternehmer, jene Institutionen auf irgendeiner Ebene, die zig-Millionen ohne Eigeninteressen einsetzen können oder wollen? Das sei schon möglich, äussern jetzt die Spendewilligen, Voraussetzung sei allerdings, dass das libanesische System grundlegend verändert würde. Aber wie? Ende mit der Ämterverteilung aufgrund konfessioneller Kriterien, lautet derzeit der internationale Konsens. O.k. – und dann?
Vielleicht ist ein Blick in den so genannten Korruptionswahrnehmungsindex von Transparency International nützlich, bevor wir in die Details gehen. Libanon rangierte zuletzt auf Platz 138. Das ist etwas schlechter als, zum Beispiel, Bolivien – aber weiter hinten in der Rangliste der Unrühmlichen befinden sich noch zusätzliche 39 Länder, darunter auch einige aus dem Nahen und Mittleren Osten (Irak, Libyen, Jemen, Syrien, Afghanistan). Die werden alle mittels anderer politischer Instrumente regiert, als Libanon. Woraus sich die Frage ableitet, ob es im Falle Libanons wirklich nur am System liegt, das die Machtverteilung aufgrund der religiösen Zugehörigkeit impliziert.

Ursprünglich Staat der Maroniten
Libanon wurde durch Frankreich (präziser: durch die «freie Regierung» im nicht von den Deutschen besetzten Teil des Landes) im Jahr 1943 zugunsten der christlichen Maroniten gegründet. Die anderen religiösen Gemeinschaften (Sunniten, Schiiten, Christen anderer Denominationen) sollten zwar auch berücksichtigt werden, aber letzten Endes durften die Maroniten sich darauf verlassen, dass sie bei den wesentlichsten Themen in entscheidenden Momenten ein Vetorecht geltend machen konnten.
Im Prinzip funktionierte das recht gut – nur wurde nicht beachtet, dass die Demografie ihre eigenen Gesetze hat. Der Bevölkerungsanteil der Maroniten (auch jener anderer Christen) schmolz in Relation zu den Sunniten und Schiiten, deren Bevölkerung wuchs. Parallel dazu mehrten sich soziale Ungleichheiten – am krassesten erkennbar bei den Schiiten (die bis in die siebziger Jahre mehrheitlich im Süden des Landes lebten). Grund waren schlechte Schulbildung, Benachteiligung auf dem Arbeitsmarkt und anderes mehr.

Aufstieg der Schiiten
Das änderte sich ab 1979 – da rollte im fernen Iran die Revolution an, angeführt von Ayatollah Khomeini. Sogleich versprach der neue Iran, inspiriert von schiitischer Ideologie, Hilfe für die Schiiten in Libanon. Den Worten folgten wirklich Taten – die schiitische Gemeinschaft in Libanon erhielt – gewiss nicht völlig uneigennützig – Entwicklungshilfe aus Teheran, emanzipierte sich in jeder Hinsicht und expandierte, räumlich auch nach Beirut und in andere Landesteile.


Jede Farbe (jeweils hell und dunkel) steht für eine Religion. Violett=Schiiten, Grün=Sunniten, Rot=Maroniten, Blau=Drusen, Pink=Alawiten, Orange=Griechisch-Katholiken, Gelb=Griechisch Orthodoxe, Braun=Armenisch Orthodoxe und Katholiken. (Grafik: cc / Wikipedia)

Die Einmischung anderer Staaten
Nun wurde Libanon mehr und mehr nicht nur von einer neuen demografischen und sozialen «Landschaft» geprägt, sondern auch von den Interessen regionaler Mächte. Syrien betrachtete das Nachbarland bald als eine Art Provinz, dazu geschaffen, für Syrien wesentliche Importe und Exporte (plus Erleichterung bei Geldwäsche) sicher zu stellen. Die Potentaten in Saudiarabien und den Emiraten verstanden die Existenz Libanons als Garant für die Anlage von Milliarden-Vermögen. Die Palästinenser, das gehört auch noch ins Puzzle, betrachteten Libanon als letztes Refugium – und Israel definierte eben deswegen Libanon, immer wieder, als existenzielle Gefahr.
Kriege im Libanon führten zu Not und Elend, aber parallel dazu zu unermesslichem Reichtum. Das muss man nüchtern so benennen: Viele der «Eliten», die in den letzten Jahrzehnten in diesem Land zu Reichtum gelangten, verdankten das den Kriegen. Was durch Bomben zerstört wurde, konnte wieder aufgebaut werden – noch schöner, besser, teurer als es vorher war. Die Hariris – Vater und Sohn waren beide Ministerpräsidenten – wurden so mächtig, aber sie waren und sind längst nicht die Einzigen. Viele Andere machten es ähnlich, wurden erst finanziell wichtig – und nutzten ihre finanzielle Macht dann politisch. Sie wurden Mitglieder des Parlaments, regionaler Behörden, der Regierung. Und bauten dann auch ihre finanzielle Machtstellung, zusätzlich gestützt, noch weiter aus.

Auf Gedeih und Verderben ausgeliefert
Ein solches «System» kann in einem kleinen Staat in Nahost nur so lange funktionieren, als sich in der Region, bei den wirklich Mächtigen, ein Konsens herausbildet, dass dieser «Zwerg» für sie selbst einen Zweck erfüllt. Für Libanon funktionierte das einigermassen, bis der Zwist zwischen dem schiitischen Iran und dem sunnitisch / wahhabitischen Saudiarabien eskalierte. Genauer: bis 2017 in Saudiarabien Mohammed bin Salman den Rang des Kronprinzen errang. Seither destabilisiert Saudiarabien systematisch das, was in Libanon noch an bis dahin halbwegs funktionierenden Strukturen vorhanden war. Der Grund: MbS, wie der Kronprinz trendig genannt wird, hat sich zum Ziel gesetzt, Libanon vom Einfluss des schiitischen Hizballah zu «reinigen». Unvergessen bleiben sollte in diesem Zusammenhang, im Jahr 2017, die Entführung des damaligen libanesischen Premiers Hariri nach Saudiarabien und die ihm dort abgerungene Demission – die Hariri nach seiner Rückkehr nach Beirut allerdings widerrief. Und weshalb der Husarenstreich des saudischen Kronprinzen? Weil ihn die Zusammenarbeit Hariris mit der iran-hörigen Hizballah in Rage versetzte.

Saudiarabien, Israel und USA gegen die Hizballah
MbS befindet sich bei diesem Thema in Harmonie mit Israel und mit den USA. Alle drei gehen davon aus – oder versuchen zumindest, diesen Eindruck zu erwecken, dass es Möglichkeiten gebe, Hizballah aus dem libanesischen System herauszutrennen. Hizballah sei eine israelfeindliche Miliz, erklären sie (was nicht unzutreffend ist), eine Terrororganisation. Was sie verkennen ist, dass Hizballah ebenso sehr eine politische Partei und eine sozial engagierte Organisation ist, die beispielsweise Schulen oder Ambulanzen betreibt. Und dass gegenwärtig in Beirut keine Regierung diese Hizballah ignorieren kann. Irritierend anderseits ist, dass die Hizballah-Milizen ihren Treue-Eid auf den iranischen Revolutionsführer schwören. Aber Tatsache ist, dass es schlicht nicht möglich ist, in Libanon eine minimale Art von Stabilität ohne diese Hizballah zu erreichen.

Eigeninteresse anderer, entscheidet über Zukunft
Zurück zum Eingangsthema, zum libanesischen Mächte-Verteilungssystem. Ja, viel weist darauf hin, dass das von der französischen Gründungsmacht erschaffene System heute mitverantwortlich ist für die gewaltige Korruption – Maroniten praktizieren Patronage zugunsten von Maroniten, Schiiten zugunsten von Schiiten etc. Die Frage aber bleibt im Raum: Ist, ganz generell, im Nahen oder Mittleren Osten ein anderes Land besser über die Runden gekommen? Die Antwort lautet, leider: Nein. Oder: Welches andere Land hat seine Minderheiten-Probleme besser in den Griff bekommen? Mir fällt wieder keines ein, im Gegenteil. Gerade religiöse Minderheiten werden in fast allen Ländern der Region – einzige Ausnahmen sind Jordanien und Tunesien – schwerwiegend unterdrückt. Den Christen ging es in Irak noch relativ gut unter dem Tyrannen Saddam Hussein (solange sie sich nicht politisch engagierten), und relativ gut geht es ihnen unter dem Diktator Bashar al Assad in Syrien. Am bedrohlichsten ist die Lage für Minderheiten (christliche, jezidische, Bahai etc.) in Staaten, deren System von Islamisten mitgeprägt ist.
Woraus sich die Schlussfolgerung ergibt: Eine neue Verfassung, über die übrigens derzeit niemand ernsthaft diskutiert, würde die Probleme Libanons nicht lösen. Das Land hat oder hätte nur dann eine relativ entspannte Zukunftsperspektive, wenn sich die regionalen Hauptakteure darauf einigen würden, dass ein prosperierender Libanon auch in ihrem eigenen Interesse läge.

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Eine Meinung zu

  • am 12.08.2020 um 14:08 Uhr
    Permalink

    Die Regierenden aus den Nationen ausserhalb des Libanons sollten erstmal selbst keine anderen Interessen verfolgen, als dass nur Libanesen in Not geholfen wird.
    Wie soll das funktionieren, dass die Hilfsgelder an wem auch immer vorbei, ‹direkt› u. dann noch an welche ‹Betroffenen fliessen ?
    Die dominierende Ideologie ist der Libertäre Kapitalismus und der Marktgläubige betrachten Moral als Wachstumsschädigend bei der Kapital- u. Machtvermehrung. Würden es Organisationen wie UNO oder RKI verteilen, würden denen aber auch Interessengesteuerte Auflagen gemacht, sonst «mir gähbeh nix». Diese Organisationen reden lieber nicht darüber, welche Auflagen ihnen gemacht werden, damit die wenigstens etwas von den veröffentlichten Hilfsgeldern an die wirklich Bedürftigen abzweigen dürfen.
    Ach ja, das gehört ja auch zur Ideologie des Libertären Kapitalismus, wenn die wenigen über immer mehr Kapital u. damit Kapitalmacht verfügen, dann geht es den Kapitallosen Bedürftigen immer besser.
    Die mafiösen libanesischen Familienclans und ihre Milliarden werden in ihren neuen Heimaten gehegt u. geschützt, wie andere mafiöse Familienclans. Die zu betreuen bedeutet leicht viel Geld zu machen, das ARTet nicht in Arbeit aus.

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