Erbil

Erbil, die Hauptstadt der autonomen Region Kurdistan im Irak, hat 1,5 Mio Einwohner © GEG

Die Kurden – Geisel ihrer Geographie

Amalia van Gent /  Für viele ein Schock: Die Kurden Nordiraks wollen über ein vom Irak unabhängiges – und erweitertes – Kurdistan abstimmen.

Die Absicht der nordirakischen Kurden, kommenden Herbst über eine Unabhängigkeit ihres heute autonomen Gebiets abstimmen zu wollen, hat in den Nachbarländern eine Welle der Entrüstung ausgelöst. Ankara sprach von einer «Selbstmordaktion» der Kurden.

«Die Kurden im Nordirak wollen am 25. September über ihre Unabhängigkeit abstimmen». Der Präsident der kurdischen Regionalverwaltung im Nordirak KRG Massud Barzani liess am 8. Juni die bevorstehende Abstimmung über Tweet deklarieren. Der Termin war gerade nach einem Treffen hochrangiger kurdischer Politiker in Erbil festgelegt worden. Kurz danach meldete sich, ebenfalls per Tweet, Barzanis engster politischer Berater Hamin Hawrami. Unter der Überschrift «Grosse Neuigkeiten» liess er die kurdische Öffentlichkeit wissen, dass das Referendum nicht nur in den vier kurdischen Provinzen der KRG stattfinden werde, sondern auch in Gebieten «ausserhalb der Regionalverwaltung». Namentlich in der erdölreichen Provinz von Kirkuk sowie in der Region Makhmour, im jesidischen Sindschar und im Khanaqin. Die Wähler hätten nur eine einzige Frage zu beantworten: «Sind Sie für oder gegen ein unabhängiges Kurdistan?».

Ein ungehorsamer Statthalter?

Nach einem ersten Moment der Starre verurteilte am Wochenende Bagdad «jeden einseitigen Schritt der Kurden». Irak sei verfassungsmässig ein «demokratischer, föderativer, souveräner Staat», erklärte der Regierungssprecher Saad al-Haddithi. Keine Partei könne im Alleingang über das Schicksal des ganzen Landes entscheiden. Teheran hat sich bislang zum angekündigten Referendum nicht öffentlich geäussert. Bei unterschiedlichen Anlässen liess es aber ebenfalls keine Zweifel daran, dass der Iran einen unabhängigen kurdischen Staat im Nordirak nicht zu dulden gedenke. Die Iraner sehen sich als die Schutzherren der (schiitischen) irakischen Regierung. Und als solche würden sie eine Teilung des Iraks niemals akzeptieren.

Von einer «irrationalen» Entscheidung der Kurden war die Rede in Ankara. Regierungschef Yildirim Binali nannte sie «verantwortungslos» und das türkische Aussenministerium einen «gravierenden Fehler». Ilnur Cevik, Berater des allmächtigen türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan, sprach gleich von einem kurdischen «Selbstmordakt». Die Kurden wollten «die erdölreiche Provinz Kirkuk am Referendum teilnehmen lassen, um ihren künftigen Staat finanzieren zu können», höhnte er in einem Bericht der regierungsnahen Tageszeitung Sabah letztes Wochenende. Geographisch umringt von Staaten wie Iran, Türkei, Irak und Syrien und ohne direkten Zugang zum Meer «müssten die Kurden wohl zunächst eine Antwort auf die zentrale Frage finden, wie sie einen Staat aufrechterhalten können, der von der Aussenwelt abgeschirm, ohne Geld, ohne Einnahmen und ohne Freunde ist». Erdogan hatte das autonome Kurdengebiet im Nordirak lange als seinen Satellitenstaat betrachtet. Nun war er auf einmal böse überrascht darüber, dass Barzani sich nicht genehm wie ein jeder Statthalter verhält.

Ilnur Cevik kennt die nordirakischen Kurden und ihre Schwächen gut, hatte er doch viele Jahre als Politiker und Geschäftsmann unter ihnen gelebt. Eine Autonomie fürs kurdische Gebiet des Nordiraks hatte als erster der legendäre Vater des heutigen Präsidenten, Mustafa Barzani, 1970 mit Bagdad ausgehandelt. Ihr kleines Gebiet war und ist noch heute aber umringt von Ländern wie der Türkei, Iran und Syrien, die mit Problemen der eigenen kurdischen Minderheiten konfrontiert, niemals einen kurdischen Staat in ihrer Mitte akzeptieren würden. In Wirklichkeit sind die Kurden Geisel ihrer Geographie.

Flucht nach vorne?

Warum haben die nordirakischen Kurdenführer also ausgerechnet jetzt, wo die Katar-Krise sich gefährlich zuspitzt, die Abstimmung zur Unabhängikeit deklariert?

Ein Grund dürfte innenpolitischer Natur sein: Seit der Entstehung der KGR haben zwei Parteien Macht und Einnahmen im Gebiet unter sich geteilt. Die Demokratische Partei Kurdistans (KDP) unter Führung der Barzani-Familie und die Patriotische Union Kurdistans (PUK) von Dschelal Talabani. Beide konnten in den letzten 15 Jahren den nordirakischen Kurden einen gewissen Grad an Sicherheit und Wohlstand garantieren. Ihre Popularität befindet sich aber im freien Fall.

Dies geht hauptsächlich auf die wirtschaftliche Lage zurück. Weil die Regierung der kurdischen Regionalverwaltung KRG 2014 begann, allen Protesten aus Bagdad zum Trotz über eine Pipeline durch die Türkei Erdöl zu verkaufen, stellte Bagdad den Geldhahn für die Kurden ein. Gemäss der Vereinbarung von 2005 müsste Bagdad dem Nordirak jährlich einen Anteil von 17 Prozent der gesamten irakischen Erdöleinnahmen bezahlen. Dieser Anteil bleibt aber aus. Gleichzeitig führte der internationale Einbruch der Erdölpreise zu enormen Einnahmen-Einbussen. Auf einmal musste die Regierung der KGR die Löhne ihrer Beamten empfindlich kürzen. 1.3 Millionen Personen sind im Nordirak als Beamte eingestellt, das macht etwa die Hälfte der aktiven Bevölkerung aus. Abertausende demonstrierten gegen die verordnete Verarmung und brandmarkten die Korruption und den Nepotismus der führenden Parteien.

Dann führte auch der anhaltende Flüchtlingsstrom aus dem übrigen Irak und aus Syrien zu neuen Engpässen. Mit 1.8 Millionen bilden die Flüchtlinge, die versorgt werden müssen, heute fast 30 Prozent der Gesamtbevölkerung der KGR. Mit der Forderung nach mehr Transparenz und demokratischen Reformen machte ihnen schliesslich eine junge Partei, die Gorran (Wechsel), die politische Macht streitig. Der wertkonservative Politiker Massud Barzani ist Sprössling einer respektablen Stammesfamilie und war es gewohnt, auch seinen Teilstaat wie ein patriarchalischer Stammesführer zu führen. Als Gorran 2015 im Parlament sich für neue Präsidentschaftswahlen aussprach, liess Barzani das Parlament einfach schliessen. Ging es bei der verkündeten Abstimmung zur Unabhängigkeit also vor allem um eine Frage des Machterhalts?

Die existenzielle Angst, die gegenwärtig die Bewohner des Iraks im Griff hält, dürfte bei dieser Entscheidung der Kurdenführung eine mindestens so grosse Rolle gespielt haben: Allen Anzeichen zufolge befindet sich der Krieg um Mossul, der letzten Bastion der IS-Dschihadisten im Irak, in seiner Endphase. Die Frage, was nach einer Niederlage des IS passiert, quält Bagdad genauso wie den Hauptsitz der nordirakischen Kurden, Erbil. Noch ist unklar, ob der Irak als Staat überhaupt bestehen bleiben kann oder ob er nicht eher in unterschiedliche Teile zerfällt.
Die irakische Verfassung von 2005 räumt der kurdischen Regionalverwaltung im Nordirak KRG innerhalb der «Föderation Irak» einen legalen autonomen Status ein.
Wird der Irak nach einer Niederlage des IS aber den Kurden weiterhin Autonomie gewähren? Oder sollten die Kurden sich eher um ihren eigenen Kleinstaat kümmern, ohne auf eine Entscheidung aus Bagdad zu warten? Die Kurdenpolitiker des Nordiraks haben sich offenbar für die zweite Möglichkeit entschieden.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine.

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2 Meinungen

  • am 13.06.2017 um 13:40 Uhr
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    Alles «Erfolge» des immer überheblichen Westens insbesondere der verlogenen USA. Mit Lug erfolgte der Einmarsch (massenvernichtungswaffen). Und Europa folgte blindlings. Nun hat es auf uns zurückgeschlagen (Flüchtlinge und Anschläge usw.)

  • am 13.06.2017 um 17:50 Uhr
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    Dieser Konflikt ist die kausale Folgen vom Sykes-Picot-Geheimabkommen, als die Engländer und Franzosen vor 100 Jahren den nahen Osten untereinander aufteilten.

    Ich bin für das Selbstbestimmungsrecht der Völker (vgl. Art. 1 UNO Pakt II aka IPBPR). Bei der Trennung der Tschechoslowakei ging es anstandslos und beide sind heute souveräne Staaten. Bei gutem Willen geht es auch in Kurdistan.

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