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Kreml-Chef Gorbatschow und US-Präsident Reagan unterzeichnen den INF-Vertrag, 8. Dezember 1987 © White House Photographic Office/cc

Angst vor einem neuen Wettrüsten

Andreas Zumach /  Vor 30 Jahren einigten sich die USA und die Sowjetunion, atomare Mittelstreckenwaffen zu vernichten. Doch der INF-Vertrag wackelt.

Am 8. Dezember 1987 unterzeichneten der damalige US-Präsident Ronald Reagan und der Generalsekretär der sowjetischen KPdSU, Michail Gorbatschow, im Weissen Haus in Washington die so genannte «doppelte Nulllösung» für die «Intermediate-range nuclear forces» (INF, atomare Mittelstreckenwaffen) der beiden Grossmächte. Der Vertrag regelte den Abzug und die Verschrottung aller landgestützten atomaren Raketen kürzerer (500–1500 Kilometer) und mittlerer (1500–5500 Kilometer) Reichweite sowie ihrer Abschussrampen und sonstigen Infrastruktur – nicht nur in Europa, sondern weltweit, innerhalb von drei Jahren. Das vor 30 Jahren vereinbarte INF-Abkommen ist bis heute ein Kernelement der Rüstungskontrolle zwischen den USA und Russland, gerät aber zunehmend unter Druck.
Mit dem historischen Abkommen wurden erstmals in der Rüstungskontrollgeschichte seit dem Zweiten Weltkrieg nicht nur numerische Obergrenzen oder andere Einschränkungen für bestimmte Waffensysteme vereinbart, sondern ihre vollständige Abrüstung. Zudem vereinbarten die beiden Grossmächte weitreichende gegenseitige Inspektionsmassnahmen während der Umsetzung des Vertrages sowie das Verbot der Neuentwicklung und Produktion dieser Waffensysteme. Nicht unter das INF-Abkommen fallen atomare Artillerie und Kurzstreckenraketen mit einer Reichweite von unter 500 Kilometern.
Am 1. Juni 1988 trat der INF-Vertrag in Kraft. Damit ging eine zehnjährige Eskalationsphase der atomaren Aufrüstung in Europa zu Ende, die nicht nur im damaligen Nato-Frontstaat Bundesrepublik Deutschland (BRD) und anderen Mitgliedsländern der westlichen Militärallianz, sondern auch in blockungebundenen Staaten wie der Schweiz und Schweden die grösste Friedensbewegung seit Ende des Zweiten Weltkrieges ausgelöst hatte. Auch in der DDR und anderen Mitgliedsländern der östlichen Warschauer Vertragsorganisation (WVO) regte sich erstmals deutlicher Widerstand gegen die Anhäufung von immer mehr atomaren Massenvernichtungswaffen der Sowjetunion und der USA in Europa.

Schmidts «Raketenlücke» und der «Doppelbeschluss»

Am 28. Oktober 1977 hatte der damalige deutsche Bundeskanzler Helmut Schmidt in einer Rede vor dem International Institute for Strategic Studies (IISS) in London Sorgen geäussert über eine angebliche «Raketenlücke» auf Nato-Seite. Das westliche Bündnis habe keine ausreichenden Mittel gegen die auf Westeuropa gerichteten atomaren Mittelstreckenraketen vom Typ SS-20, die die Sowjetunion damals stationierte. US-Präsident Jimmy Carter schlug daraufhin Anfang 1979 bei einem Treffen mit Schmidt sowie den Regierungschefs Frankreichs und Grossbritanniens vor, 108 atomare Pershing-II-Raketen und 464 Marschflugkörper (Cruise Missiles) des Typs Tomahawk in Deutschland, Grossbritannien, den Niederlanden, Belgien und Italien zu stationieren.
Am 12. Dezember 1979 übernahm ein Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs aus den damals 16 Nato-Staaten offiziell den Aufrüstungsvorschlag des US-Präsidenten. Der Nato-Gipfel kleidete seine Entscheidung allerdings in einen «Doppelbeschluss»: Von Moskau forderte die Nato den Abbau der bereits stationierten SS-20-Raketen. Sollte Moskau diese Forderung nicht erfüllen, werde es zur westlichen «Nachrüstung» mit Pershing II und Cruise Missiles kommen.

Sowjetische SS-20 auf mobiler Abschussrampe
Dieser «Doppelbeschluss» und das darin enthaltene «Verhandlungsangebot» an die Sowjetunion waren vor allem eine Konzession an die zunehmend aufrüstungskritische Stimmung nicht nur in der Öffentlichkeit, sondern auch in den Regierungsparteien einiger Nato-Staaten. Bereits 1977/78 hatte das Vorhaben der USA, in Europa eine «Neutronenwaffe» zu stationieren, deren «Vorteil» es sei, dass sie nur gegnerische Soldaten töte, aber keine Gebäude zerstöre, vor allem in der BRD für grosse Unruhe gesorgt. Egon Bahr, der führende Sicherheitspolitiker von Helmut Schmidts Regierungspartei SPD, bezeichnete die Neutronenbombe damals als eine «Perversion des Denkens». In der Schweiz sammelte die Friedensbewegung in kurzer Zeit über 25’000 Unterschriften gegen diese Perversion. Die Neutronenwaffe wurde nie in Europa stationiert.
Plötzlich denkbar: Europa als Zentrum eines Atomkriegs
In der BRD löste auch der Nato-Beschluss zur Stationierung neuer Atomwaffen die grössten Sorgen und die intensivste sicherheitspolitische Debatte aus. Der damalige Frontstaat der Nato mit Grenzen zu drei Mitgliedsstaaten (DDR, Polen, Tschechoslowakei) der gegnerischen östlichen Militärallianz WVO wäre bei einem Krieg zwischen Nato und WVO das Hauptschlachtfeld gewesen. Hier befanden sich die meisten Streitkräfte und Militärbasen von Nato und USA, und hier waren bereits vor 1979 weit mehr amerikanische Atomwaffen stationiert als in irgendeinem anderen westeuropäischen Nato-Mitgliedsland. Das waren alles potenzielle Ziele für sowjetische Raketen. Und in der BRD sollten nach den Nato-Plänen auch die meisten (204) der 572 im Nato-Doppelbeschluss vorgesehenen zusätzlichen Atomwaffen stationiert werden, darunter sämtliche 108 Raketen vom Typ Pershing II. Für die Umsetzung dieser Pläne waren die Zustimmung der deutschen Regierung und die Unterstützung in der bundesdeutschen Öffentlichkeit von zentraler Bedeutung.
Auf dem Berliner Bundesparteitag der SPD eine Woche bevor die Nato am 12. Dezember 1979 auf ihrem Gipfeltreffen den «Doppelbeschluss zur Nachrüstung» offiziell fasste, erhielt Kanzler Schmidt nur noch 60 Prozent Zustimmung für dieses Vorhaben. Bereits im März 1979 hatte der damalige Kommandeur der 12. Panzerdivision der Bundeswehr, Generalmajor Gert Bastian, in einem Zeitungsinterview mit dem Autor dieses Artikels den Doppelbeschluss kritisiert. Das war ein erster Riss in der bis dato völlig geschlossenen Front der Befürworter des Doppelbeschlusses aus Militärs und Sicherheitspolitikern der etablierten Parteien in der BRD und den Mitgliedsländern der Nato.
Nach Bastians öffentlicher Kritik äusserten sich auch aktive wie pensionierte Generäle in anderen Ländern kritisch. Zunächst nur in Westeuropa, ab 1982 dann auch in den USA. Dort schaffte die «Nuclear-Freeze»-Bewegung, die für ein Einfrieren und den nachfolgenden schrittweisen Abbau der atomaren Arsenale beider Grossmächte plädierte, ihren Durchbruch in der Öffentlichkeit, als sich im März 1982 der demokratische Senator Edward Kennedy und sein republikanischer Kollege Mark Hatfield hinter dieses Anliegen stellten.
In der BRD gründeten Bundeswehrsoldaten, die den Doppelbeschluss ablehnten, die Vereinigung «Darmstädter Signal». Sie beschäftigt sich bis heute kritisch mit der Sicherheits- und Militärpolitik Deutschlands und der Nato.
Die Sorgen und Bedenken nicht nur in der Friedensbewegung richteten sich vor allem auf eine damals ganz neue US-amerikanische Waffenentwicklung, die Pershing-II-Rakete, die an drei süddeutschen Standorten (Mutlangen, Heilbronn, Neu-Ulm) stationiert werden sollte. Grund der Besorgnis: Mit ihrer Schnelligkeit, Zielgenauigkeit und Zerstörungskraft machte die Pershing II erstmals seit Beginn der Ost-West-Konfrontation einen atomaren «Enthauptungsschlag» der Nato gegen die Sowjetunion zumindest vorstellbar. Ein «Enthauptungsschlag», der der UdSSR ihre gesicherte Zweitschlagskapazität genommen und damit die Grundlage des atomaren Abschreckungspatts zerstört hätte.

Startbereite Pershing-II-Raketen in Fort Bliss, Texas
Verstärkt wurden diese Sorgen noch, als nach der Wahl Ronald Reagans zum neuen US-Präsidenten im November 1980 im Pentagon tatsächlich Konzeptpapiere verfasst wurden, die nicht nur die Option eines solchen «Enthauptungsschlages» enthielten, sondern auch das Szenario eines auf Europa begrenzten Atomkrieges mit den beiden deutschen Staaten als Kerngebiet dieses Krieges. Auch Reagans Pläne für ein weltraumgestütztes Abwehrsystem gegen sowjetische Raketen (Strategic Defense Initiative, SDI) trugen zu diesen Sorgen bei. Sie herrschten nicht nur in der Friedensbewegung vor, sondern auch in der Bundeswehrführung, wie damals noch aktive Generäle Jahre später, nach ihrer Pensionierung, bestätigten.
Denn die Lage ähnelte der Situation in den Jahren 1966/67. Damals verordneten die USA innerhalb der Nato den Strategiewechsel von der «massiven Vergeltung» (massiv retaliation) hin zur «abgestuften Antwort» (flexible reponse). Die «massive Vergeltung» sah bei einem konventionellen Angriff des Warschauer Paktes nicht nur den sofortigen Einsatz aller konventionellen Streitkräfte und Waffen der Nato vor, sondern auch den der in Westeuropa stationierten taktischen Atomwaffen der Nato sowie der strategischen Atomwaffenarsenale (Interkontinentalraketen, U-Boote, Langstreckenbomber) der USA.
Die neue Strategie der «abgestuften Antwort» hingegen sah vor, auf einen Angriff der Warschauer Vertragsorganisation zunächst nur mit konventionellen Waffen zu reagieren, dann bei Bedarf taktische Atomwaffen einzusetzen und erst in einer dritten Eskalationsstufe die strategischen Arsenale der USA. Dieser Strategiewechsel der USA führte vor 50 Jahren in der Führung der Bundeswehr und der Streitkräfte anderer westeuropäischer Nato-Staaten zu der Sorge, die USA könnten sich aus dem «Risikoverbund» der Nato abkoppeln und eine militärische Auseinandersetzung mit der Warschauer Vertragsorganisation auf Europa begrenzen wollen.

Die Friedensbewegung mobilisiert zum Protest

Am 10. Oktober 1981 demonstrierten in Bonn über 300’000 Menschen friedlich gegen die geplante Aufrüstung mit Pershing II und Cruise Missiles, aber auch gegen die SS-20 in der Sowjetunion. «Überwindung von Geist, Logik und Politik der Abschreckung» lautete das zentrale Motto dieser bis dahin grössten Demonstration und Friedenskundgebung in der Geschichte der Bundesrepublik. Bundeskanzler Schmidt versuchte vergeblich, den Redeauftritt des führenden SPD-Politikers Erhard Eppler zu verhindern und Bundestagsabgeordneten seiner Partei die Teilnahme an der Demonstration zu verbieten.

Über 300’000 Menschen demonstrierten am 10. Oktober 1981 in Bonn gegen die atomare Aufrüstung. (Quelle: WDR)
Zwei Wochen vor dem 10. Oktober waren in Amsterdam bereits 450’000 Menschen gegen die atomare Rüstung auf die Strasse gegangen. In den folgenden Wochen demonstrierten Hunderttausende in den Hauptstädten der anderen drei vorgesehenen Stationierungsländer für die atomaren Cruise Missiles, London, Rom und Brüssel, wie auch in den Hauptstädten anderer Nato-Staaten. In der DDR wagten sich unter dem Motto «Schwerter zu Pflugscharen» kirchliche Friedensgruppen nun stärker in die Öffentlichkeit und forderten den Abzug der in der DDR und anderen Ostblockstaaten stationierten sowjetischen Kurzstreckenraketen vom Typ SS-21 und SS-23. Auch in der Schweiz demonstrierten in der ersten Hälfte der 1980er Jahre Zehntausende gegen die atomare Aufrüstung – allein am 5. Dezember 1983 in Bern über 40’000 Menschen.
In der deutschen Regierungspartei SPD setzten sich unter dem Einfluss der Friedensbewegung immer mehr Teilgliederungen, wie die Jungsozialisten, Ortsvereine, Unterbezirke und ganze Landesverbände, von der Linie ihres Kanzlers ab und forderten ein «Nein» der Partei zur Stationierung der neuen Atomraketen. Dieser Prozess verstärkte sich noch, nachdem im Frühjahr 1982 infolge des Seitenwechsels der FDP und dem daraus folgenden Ende der SPD/FDP-Koalition Helmut Kohl (CDU) Kanzler wurde und die SPD in die Opposition ging. Kurz nach Kohls Amtsantritt demonstrierten im Juni 1982 beim Nato-Gipfel in Bonn knapp eine halbe Million Menschen gegen die geplante atomare Aufrüstung. Scheinbar unbeirrt hielt Kohl an den Plänen fest und versicherte, er werde den von der Nato für Ende 1983 vorgesehenen Beginn der Stationierung der Pershing II und Cruise Missiles in der BRD durchsetzen.
Wie gross die Ablehnung in der Bevölkerung war, zeigte im August 1982 eine vom ZDF-Politbarometer in Auftrag gegebene repräsentative Umfrage: 75 Prozent der Befragten sprachen sich gegen die Stationierung der neuen Atomwaffen aus, mit Mehrheiten unter den Wähler*innen aller Parteien und in allen Altersgruppen. Das Kanzleramt drängte das ZDF, diese Umfrageergebnisse nicht zu veröffentlichen, doch sie wurden dem Autor zugespielt und vom Bonner Koordinationskreis der Friedensbewegung veröffentlicht.
Am 22. Oktober 1983 kam es mit grossen Demonstrationen in Bonn, Hamburg und Berlin sowie der 108 Kilometer langen Menschenkette zwischen Stuttgart und Neu-Ulm zu einem letzten Höhepunkt der Friedensbewegung. Auf der Bonner Kundgebung bekräftigte der SPD-Vorsitzende, Friedensnobelpreisträger und Ex-Bundeskanzler Willy Brandt das «Nein» seiner Partei zur Stationierung, das die SPD inzwischen auf einem Bundesparteitag beschlossen hatte.
Vier Wochen später stimmte der Bundestag dennoch mit der Mehrheit der CDU/CSU/FDP-Regierungskoalition für die Stationierung der neuen Atomraketen, die wenig später begann. An den Stationierungsorten Mutlangen, Neu-Ulm und Heilbronn demonstrierten in den folgenden Jahren Zehntausende Friedensbewegte und blockierten gewaltfrei die Eingänge der US-amerikanischen Militärgelände. Viele Hunderte wurden angeklagt und von den zuständigen Amtsgerichten gemäss §240 des Strafgesetzbuches wegen Nötigung verurteilt. Jahre später urteilte das Bundesverfassungsgericht, dass gewaltfreie Blockaden nicht den Straftatbestand der Nötigung erfüllen.
In Grossbritannien demonstrierten und protestierten Frauengrupen der Friedensbewegung jahrelang an dem für die Stationierung der Cruise Missiles vorgesehenen Luftwaffenstützpunkt in Greenham Common.
INF-Verhandlungen in Genf
Die Sowjetunion war anfangs nur nach einer Rücknahme des «Doppelbeschlusses» zu Verhandlungen mit der Nato bereit, liess sich im Oktober/November 1980 aber doch auf «Vorgespräche» mit den USA in Genf ein. Ab November 1981 verhandelten dann beide Seiten offiziell in Genf. Zunächst unterbreiteten sie nur Vorschläge, die auf eine Reduzierung und zahlenmässige Obergrenze von Atomwaffen kürzerer und mittlerer Reichweite in Europa zielten. Einer der Hauptstreitpunkte war Moskaus Forderung, bei einem künftigen Gleichgewicht auf niederem Niveau auch die britischen und französischen Atomwaffen dieser Kategorie mit anzurechnen. Diese Forderung lehnten die USA und die Nato stets kategorisch ab.

Reagan und Gorbatschow während der Gipfelkonferenz in Genf 1985

Im November 1982 wurden die Genfer Verhandlungen ergebnislos unterbrochen. Und nach Beginn der Stationierung der Pershing II und der Cruise Missiles ab Ende 1983 gab es zunächst keine Aussicht auf eine Wiederaufnahme der Verhandlungen. Doch nach der Wahl von Michail Gorbatschow zum Generalsekretär der KPdSU im Frühjahr 1985 kehrte die Sowjetunion an den Verhandlungstisch zurück und zeigte sich bereit zu einem vollständigen Verbot von atomaren Raketen kürzerer und mittlerer Reichweite. Eine entsprechende Verständigung wurde zwischen Washington und Moskau nach zwei Gipfeltreffen mit Gorbatschow und Reagan bereits im Frühjahr 1987 erreicht. Doch dann gab es Widerstand aus Deutschland: Die Sowjetunion verlangte, dass auch die bei Einheiten der Bundeswehr stationierten 72 atomaren Pershing-1A-Raketen der USA mit einer Reichweite von gut 700 Kilometer unter die geplante «doppelte Nulllösung» fallen müssten. Doch Teile von CDU/CSU sprachen sich gegen die Einbeziehung dieser Raketen in den Vertrag aus. FDP, Grüne und SPD waren für ihre Abrüstung. Im Sommer 1987 beendete Bundeskanzler Helmut Kohl unter deutlichem Druck aus Washington den Streit und stimmte dem Abzug der Pershing-1A-Raketen zu. Die Zustimmung erfolgte einseitig durch die Bundesrepublik und wurde nicht in den INF-Vertrag aufgenommen. So war der Weg frei für die Vertragsunterzeichnung am 8. Dezember 1987.
Die USA zerstörten vertragsgemäss 846, die Sowjetunion insgesamt 1846 Raketen. Die letzte Rakete wurde im Mai 1991 demontiert. Die Inspektionsrechte aus dem INF-Vertrag endeten am 31. Mai 2001. An diesem Datum galt der Vertrag auch als vollständig umgesetzt.

Sowjetische Inspektoren überwachen die Zerstörung von Pershing-II-Raketen, wie im INF-Vertrag vereinbart
Der Vertrag hat zwar eine unbegrenzte Laufzeit, aber jede Vertragspartei hat das Recht, ihn mit sechs Monaten Frist aufzukündigen, wenn «ausserordentliche Ereignisse im Zusammenhang mit dem Gegenstand dieses Vertrages ihre übergeordneten Interessen beinträchtigen». Eine Kündigung ist bislang zwar nicht erfolgt, doch ist der INF-Vertrag zunehmend gefährdet.
Der INF-Vertrag ist in Gefahr
Bereits im Februar 2007 erklärte Russlands Präsident Wladimir Putin in seiner Rede vor der Münchner Sicherheitskonferenz, der Vertrag diene angesichts der von den USA beabsichtigten Aufstellung von Komponenten eines bodengestützten Raketenabwehrsystems in Tschechien und Polen den russischen Sicherheitsinteressen nicht mehr. Die amerikanischen Pläne gefährdeten die strategische Stabilität, was, wie der Chef des Generalstabs der russischen Streitkräfte wenige Tage später ausführte, «geeignete Gegenmassnahmen» erforderlich mache.
Im Juli 2014 erhob das Aussenministerium der USA öffentlich den Vorwurf, Russland habe mehrfach Mittelstreckenraketen getestet und damit gegen den Vertrag verstossen. Um welchen Typ eines bodengestützten Marschflugkörpers es sich gehandelt habe – nur diese sind unter dem INF-Vertrag verboten, nicht aber see- oder flugzeuggestützte –, wurde offiziell nicht bekanntgegeben. Medienberichten zufolge handelt es sich um den Typ Iskander-K R500. Er wurde erstmals 2007 getestet, seine maximale Reichweite ist nicht bekannt, und in den vergangenen Jahren wurde von den USA auch keine Vertragsverletzung geltend gemacht.
Bei Gesprächen einer US-Delegation in Moskau Anfang September 2014 wies Russland die Vorwürfe Washingtons zurück. Dagegen hätten die USA in drei Punkten gegen den INF-Vertrag verstossen: Für Raketenabwehrtests würden die USA Raketen benutzen, die Mittelstreckenraketen ähnelten. Auch die Verwendung von Angriffsdrohnen sei ein Verstoss gegen den INF-Vertrag, weil sie «zu 100 Prozent mit bodengestützten Marschflugkörpern» übereinstimmten. Darüber hinaus ist Moskau beunruhigt über die Entwicklung der landgestützten Variante des US-Raketenabwehrsystems Aegis Ashore mit der Senkrechtstartanlage «MK 41 Vertical Launching System», die 2015 in Rumänien stationiert wurde und 2018 in Polen eingeführt werden soll. Von diesen Anlagen könnten ausser Abwehrraketen auch Cruise Missiles des Typs Tomahawk und damit vom INF-Vertrag verbotene Waffen gestartet werden.
Amerikanische Regierungsvertreter äusserten im Februar 2017 die Überzeugung, Russland habe den Vertrag gebrochen, indem es Mittelstreckenraketen nicht nur testete und produzierte, sondern bereits zwei aktive Bataillone seiner Streitkräfte damit ausgerüstet habe. Die Waffe, von den USA als SSC-8 bezeichnet, soll von Startvorrichtungen auf Lastwagen eingesetzt werden können, die sehr den Fahrzeugen ähneln, die von russischen Truppen für die SS-26-Iskander-Atomrakete benutzt werden. Eine der Einheiten mit dem neuen Raketentyp stehe nach US-Angaben noch beim Raketenerprobungszentrum Kapustin Jar, während die andere bereits abgerückt sei.
In Washington und auch in der Nato wird als Antwort auf die behauptete Verletzung des INF-Vertrages durch Moskau inzwischen über eine westliche «Nachrüstung» mit dieser verbotenen Waffenkategorie diskutiert. Ob sich die Geschichte des Mittelstrecken-Wettrüstens an dieser Stelle einfach wiederholt?

Siehe dazu auf Infosperber:


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Andreas Zumach ist seit 1988 Korrespondent am Genfer Sitz der Vereinten Nationen für die Berliner «tageszeitung» (taz) und andere Zeitungen, Radio- und Fernsehstationen im deutschsprachigen Raum sowie Autor mehrerer Bücher zur UNO und internationalen Konflikten. Zur Zeit der «Nachrüstung» war er friedenspolitischer Mitarbeiter der Aktion Sühnezeichen/Friedensdienste in Westberlin, in deren Auftrag er die Bonner Demonstration vom 10. Oktober 1981 organisierte, und danach bis 1987 einer der Sprecher des in Folge dieser Demonstration gegründeten Bonner Koodinationsausschusses der Friedensbewegung.

Zum Infosperber-Dossier:

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