Kommentar
Jünger, grüner, weiblicher: Wahltrend setzt sich in Biel fort
Erstmals seit dem Vollausbruch der Corona-Krise in der Schweiz wurde in zwei der zehn grössten Städte gewählt: in Biel und St. Gallen. Der nationale Trend zugunsten umweltfreundlicher Jungpolitikerinnen hält an – auch in Biel, einer langjährigen Hochburg der Genossen aus dem Gewerkschaftsmilieu. Die neuen Mehrheiten in Regierung und Parlament dürften überholten Grossprojekten des langjährigen Stadtpräsidenten Hans Stöckli den Todesstoss versetzen.
Ein Dreifach-Stadion für 250 Millionen Franken («les Stades de Bienne»), eine Überbauung mit 200 teuren Wohnungen und einem 300 Meter langen Betonplatz («Esplanade»), ein neues Quartier für 3000 BewohnerInnen («Kleinvenedig») und zwei Autobahnanschlüsse mitten in der Stadt, welchen 74 Häuser und 745 Bäume zum Opfer fallen sollten: In den letzten Jahren seiner 20-jährigen Amtszeit als Stadtpräsident richtete Hans Stöckli (SP) mit der grossen Kelle an. Einige sagten ihm nach, er wolle sich wie sein Vorbild Guido Müller dank Grossprojekten für die Nachwelt verewigen.
Heute, zehn Jahre nach seinem Rücktritt, muss sich eine jüngere Generation von Politikerinnen und Politikern mit Bauvorhaben des Bieler Stapis herumschlagen – und dürfte, so ein erstes Fazit der Wahlen vom Wochenende, alles versenken, was nicht bereits gebaut ist. In Biel wie in St. Gallen haben nämlich die Grünen und Grünliberalen wie schon bei den Nationalratswahlen vom letzten Oktober zusätzliche Parlamentssitze gewonnen, derweil SVP und teils auch FDP erneut zu den Verlierern zählen. Nach einem Patt in den letzten vier Jahren und einer bürgerlichen Mehrheit von 2012 bis 2016 haben in Biel die Rotgrünen neu die absolute Mehrheit im Stadtparlament. In der fünfköpfigen Stadtregierung sind die Frauen erstmals überhaupt in der Mehrheit. Sie mussten das Stadtpräsidium allerdings wie schon in den letzten 44 Jahren einem SP-Mann überlassen.
Die erstarkte weibliche Linke dürfte – zusammen mit der Corona-Krise – in Biel für einen kritischeren Umgang mit öffentlichen Grossinvestitionen sorgen, wie er sich am Abstimmungswochenende auf nationaler Ebene bei der Beschaffung der neuen Kampfflugzeuge zeigte. Denn in Biel stehen zwei der eingangs erwähnten, bereits erstellten Bauten ohnehin in der Kritik. Für die Mantelnutzung der multifunktionalen Eishockey-, Fussball- und Curlingstadien fehlt es seit Beginn an Mietern. Und die überdimensionierte, seelenlose Beton- und Teerfläche samt Wasserpfützen auf der «Esplanade» würde «heute bestimmt nicht mehr so gebaut», wie der zuvor stets loyale Stöckli-Nachfolger Erich Fehr vor sechs Wochen in Wahlkampflaune öffentlich erklärte: Der Klimawandel zwingt die Städte, über mehr Grünflächen und Stadtbelüftung nachzudenken.
Bei den anderen beiden grossen Bauprojekten sieht es nach den Wahlen im ergrünten, verjüngten und weiblicheren Stadtparlament schlecht aus. Gemäss einer Smartvote-Auswertung von Stop-Agglolac-Kampagnenführer Manuel Schüpbach sind neu 37 von 60 Parlamentsmitgliedern (62 Prozent der Gewählten – deutlich mehr als bisher) ganz oder «eher» gegen die Grossüberbauung am Bielerseeufer. Zwar wurde das neue Quartier aufgrund des öffentlichen Widerstands von 3000 auf 2500 Bewohner reduziert, und das geplante Hochhaus wurde wegen dem Widerstand des Berner Heimatschutzes redimensioniert; auch die vom heutigen Ständeratspräsidenten Stöckli geplanten Kanäle mit Gondolieri und Brücken mussten gestrichen werden, weil diese mangels Strömung und Frischwasserzufuhr zu stinkenden Kloaken verkommen wären. Doch die Angst bleibt, dass während der teuren Bauten und darüberhinaus der freie Zugang zum See verunmöglicht würde – ebenso wie beliebte Festivals wie der «Big Bäng» oder das «Lake Live Festival».
Ähnlich präsentiert sich die Lage beim umstrittenen Autobahn-Westast, den neu 39 von 60 Gewählten, also fast zwei Drittel, ablehnen. Mit zwei Anschlüssen direkt beim Bahnhof und 600 Meter weiter beim Naherholungsgebiet am See hatte Finanzpolitiker Stöckli seine Stadt vom innerstädtischen Verkehr entlasten wollen. Die beiden offenen Betonschneisen von über 270 Metern Länge stiessen auf soviel Gegenwehr der Bevölkerung, dass sich der Berner Baudirektor Christoph Neuhaus (SVP) gezwungen sah, einen Dialogprozess einzuleiten, der bis Ende Jahr eine «breit abgestützte Lösung» vorschlagen soll. Sechs Wochen vor den Wahlen schliesslich hat Erich Fehr dann dem offiziellen Projekt seines Vorgängers den Todesstoss versetzt: Dieses sei «so gut wie tot», erklärte er an einer Medienkonferenz. Die Bevölkerung belohnte ihn mit einer überdeutlichen Wiederwahl: Fehr machte rund 50 Prozent mehr Stimmen als vier Jahre zuvor. Neben ihm wurden zwei jüngere Frauen der Grünen und der Welsch-Sozialisten gewählt, die sich beide seit Jahren aktiv in der Westast-Opposition engagieren. Damit ist auch die Stadtregierung gekippt, in der die Befürworter bis vor kurzem in der Mehrheit waren.
Regierung und Parlament werden also in der nächsten Legislatur damit beschäftigt sein, grosse Altlasten aus der Ära Stöckli schicklich zu beseitigen und neue, nachhaltigere Projekte aufzugleisen. Die Corona-Krise scheint, ein halbes Jahr nach dem Lockdown, noch keine besonderen Auswirkungen zu haben. Allerdings steht Biel die Bewährungsprobe noch bevor: Die stark exportlastige Uhrenindustrie ist vom weltweiten Konjunktureinbruch besonders hart betroffen, die Arbeitslosigkeit ist bereits auf über 5 Prozent angestiegen.
Wer nun mit grossen Bauprojekten die regionale Konjunktur ankurbeln möchte, liegt falsch.
Milliardenprojekte wie der Westast sind viel zu gross fürs lokale Gewerbe, dazu fehlen Ressourcen und Knowhow – und sie müssen international ausgeschrieben werden. Im besten Fall kommen die grössten Schweizer Baukonzerne wie Implenia, Marti oder Frutiger zum Zug. Beim Bau des Bözbergtunnels wurden vor gut zwei Jahren die Beton-Tübbinge für die Tunnelwände mit Aberhunderten von Bahn- und Lastwagenfahrten sogar aus Russland in die Schweiz transportiert – weil es billiger kam. Die Regionen brauchen kleinere und nachhaltige Projekte, die sie selber stemmen können.
Kein Wunder, dass inzwischen mit Ausnahme von Rolex alle grösseren Bieler Unternehmen erklären, dass sie auch ohne weitere Autobahnanschlüsse gut wirtschaften und leben könnten. Damit zerschlägt sich auch das letzte Argument der verbliebenen Befürworter – die Autobahn als Retterin von Arbeitsplätzen. Der erstarkten rotgrünen Mehrheit – in Biel haben die Grünen gemessen am Wähleranteil die SVP als zuvor stärkste Partei überholt – solls recht sein. Die vielen neu gewählten Jungpolitikerinnen, die regionale Lebensqualität traditionell höher gewichten als ihre männlichen Kollegen, werden ihre Chance zu nutzen wissen.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Catherine Duttweiler war von 2004-2011 Chefredaktorin des Bieler Tagblatts. Im Dialogprozess um den Bieler Westast ist sie Mitglied der Kerngruppe, welche bis Mitte Dezember eine breit abgestützte Lösung vorschlagen soll.
Der Wind hat gedreht! Grosse Bauprojekte – bei denen es fast ausschliesslich nur um Kapitalanlagen und den Rendite-Hunger der Finanzwirtschaft geht – haben je länger je mehr einen schweren Stand, was ich sehr begrüsse. Und wenn Frauen Politik machen, wird es noch schwieriger. Denn Frauen sind in erster Linie an Lebensqualität interessiert und nicht an Profitgier.