Ostermarsch1966Sozialarchiv

Plakat zum Ostermarsch 1966 © Schweizerisches Sozialarchiv

Vor-«68»: Aus dem alten Kalten Krieg

Hans Steiger /  «Nein zur Bombe – Ja zur Demokratie» – Erinnerungen an die Anfänge der Friedens- und Antiatombewegung «in den langen Sechzigern»

Es war ein seltsames Gefühl, im 182. Neujahrsblatt der Antiquarischen Gesellschaft in Zürich das Foto eines Zuges mit schwarzen Fahnen und vielen weissen Transparenten zu sehen, von denen auch ich eines getragen habe. 1966, vor gut einem halben Jahrhundert: «Der Ostermarsch unterwegs durch die ländliche Schweiz.» Antiquarisch … Ja, die Personen, teils mit Krawatte, sehen schon ein wenig so aus.

«Njet! – Lieber tot als rot»

Die andere abgebildete Gruppe – animiert wirkende Jugendliche, darunter zwei Trommler, einer mit Megaphon, wild gemalte Plakate – entspricht fast eher dem Bild, welches heute erwartet, wer an eine linke Demonstration denkt. Doch diese Parolen?! Eine davon, jetzt wohl total irritierend, ist mir sogar über all die Jahrzehnte hinweg im Kopf geblieben: «Njet! – Lieber tot als rot». Das spielte auf eine konträre Devise an, die uns gern unterschoben wurde, obwohl ich ihr nie begegnet bin. Friedensbewegte sollten als Agenten der Russen, als Kommunisten oder zumindest als deren naive Mitläufer gebrandmarkt werden. Allerdings hätte ich das Rot im Zweifelsfall tatsächlich vorgezogen, schliesslich war ich auch bei den damaligen Jusos aktiv.

Ah, es war schon beim Start in Andelfingen, wo die Gegenkundgebung mit Trommelwirbel stattfand, konnte ich nachlesen. Ich hätte auf Bassersdorf getippt. Also nach der zweiten Übernachtung auf dem weiten Weg aus dem Schaffhausischen nach Zürich. Dort, wo die Schulbehörde gerügt wurde, weil sie für uns Räumlichkeiten freigab, ohne davor auch den Gemeinderat zu konsultieren. «Leider können die bereits erteilten Bewilligungen bezüglich Durchmarsch und Unterkunft nicht mehr rückgängig gemacht werden», wurde in einem Bericht des Schweizerischen Aufklärungsdienstes bedauert. Offenbar hatten die im Café Boy bei Sitzungen anwesenden Spitzel die Routenplanung zu spät mitbekommen.

Es gab «eine Leitung zuviel»

Umso mehr wurde dann an den drei Marschtagen für beobachtende Begleitung gesorgt. Wir hatten zwar geahnt, dass beim Sekretariat der Schweizerischen Bewegung gegen atomare Aufrüstung das Telefon abgehört wurde, weil uns ein aufmerksamer linker PTT-Mitarbeiter diskret wissen liess, dass es für uns in der Zentrale «eine Leitung zuviel» gebe. Die lächerlich akribischen Gesprächs-Protokolle in meinen Staatsschutz-Akten haben das nachträglich bestätigt. Aber dass es «eine geradezu generalstabsmässig vorbereitete und breit aufgefächerte Gegenkampagne gegen den Ostermarsch gab», trat für mich wirklich erst in diesem Buch «post festum deutlich hervor». Jakob Tanner konnte sich als Historiker auf Archivmaterial stützen, das unter anderem aus den Hinterlassenschaften des Vereins zur Förderung des Wehrwillens und der Wehrwissenschaft stammte, den die berüchtigte Werbeagentur Rudolf Farner betreut hatte. Dort wurde beispielsweise «das Schreiben von Leserbriefen, die Organisation eines Fotodienstes, die Zählung der Marschteilnehmer, die Abklärung ausländischer Beteiligung» vorbereitet. Auch das «Einschleusen von Vertrauenspersonen» gehörte zum Auftrag.
Ein achtseitiger «Einsatz- und Arbeitsplan» vermerkte zu einzelnen Streckenabschnitten, welche der beteiligten Organisationen das Personal für die Observation zu stellen hatten. Es sollte möglichst «lückenloses Beweismaterial geschaffen» werden, «damit gegen einen allfälligen späteren Ostermarsch zeitiger und wirkungsvoller eingeschritten werden kann». Dumm nur, dass nach den stärker auf den Vietnam-Krieg konzentrierten Demonstrationen in Biel und Bern anno 1967 bald schon die Turbulenzen von 1968 begannen, bei denen unseren Betreuern in der wehrwilligen Zürcher Zentrale die Kontrolle wohl vollends entglitt. Ausserdem war die Ausrüstung der Schweizer Armee mit Atomwaffen, die ein Hauptziel der Vereinigung war, inzwischen kaum noch ein Thema. Irgendwie kippte die Stimmung, obwohl es nicht zum per Volksbegehren geforderten Verbot in der Verfassung kam.

Zuerst in leichterem Terrain

Tanner bezeichnet das Wagnis, vom 9. bis 11. April 1966 durchs Weinland nach Zürich zu wandern, als «Ausbruch aus dem Offside». Mir allerdings blieb der erste in der Schweiz durchgeführte Ostermarsch stärker in Erinnerung, 1963, von Lausanne nach Genf. Bei dem hatte ich das Sekretariat für die Deutschschweiz betreut und mich notabene, jung, stolz und eitel, als ersten Teilnehmer auf die Liste gesetzt. Einen mich sehr berührenden Briefwechsel gab es mit Max Daetwyler aus Zumikon, dem schon seit dem Generalstreik landesweit, ja weltweit bekannten Streiter für Frieden. Er teilte uns «in Liebe» mit, dass er mit seiner auch nach Moskau und wer weiss wohin getragenen weissen Fahne gern vorab marschieren möchte. Doch für die Spitze war ein Pulk mit dem heute als Peace-Zeichen bekannten Symbol der Anti-Atom-Bewegung auf schwarzem Leinenstoff vorgesehen. Aber der alte Mann kam trotzdem. Ich habe mich in einem von einer Gemeinde offiziell zur Verfügung gestellten Massenlager vor dem Einschlafen lange mit ihm unterhalten.

Dort waren wir quasi in Freundesland unterwegs. Beim eidgenössischen Entscheid über die Initiative für ein Atomwaffenverbot, die 1962 fast mit Zweidrittelmehrheit abgelehnt wurde, hatten Genf, Neuenburg und die Waadt zugestimmt. Trotzdem wurden wir meist fern der Dörfer durch Weinberge geleitet. Kurz vor Schluss kam es an einer Hauptstrasse zu einem einsamen Gegenprotest. Aus einem Fenster, unter dem eine Schweizerfahne hing, zielte einer symbolisch mit seinem Gewehr. Angst kam keine auf. Zwar war Kalter Krieg, doch Gewalt nicht im Sortiment. Wahrscheinlich sähen wir so etwas heute weniger locker. Vor dem UN-Gebäude überkamen mich starke Gefühle. War hier nicht der Weltfriede nah? Zudem war ich davor nie so weit weg von zu Hause.

1964 marschierten wir noch einmal in der Romandie, 1965 nach Basel. Auch das war von den Abstimmungsresultaten her relativ gutes Terrain. Aus dem Flugblatt von 1966 werden dann im Buch eigenartig pathetische Formulierungen zitiert. Zürich sei «ein lohnendes und schönes» Ziel. Und: «Möge es uns gelingen, hier, im Herzen der deutschen Schweiz, einen breiten Eingang und nachwirkendes Gehör zu finden.» Doch der Tages-Anzeiger schlug danach per Schlagzeile zu: «Wenig überzeugende Ostermarsch-Kundgebung». Unter sein Bild vom Münsterplatz setzte er die von Tanner zu Recht als xenophob taxierte Legende: «Viele Plakate, viele fremde Gesichter, wenig Zürcher». Es war die Zeit überschäumender Überfremdungsdiskussionen.

Eine demokratische Bewegung

Speziell erfreut hat mich der Titel dieser nachträglich einordnenden Analyse: «Nein zur Bombe – Ja zur Demokratie». Zumal ich in meiner Fotoschachtel dann noch mich als einen Mitträger des von mir immer bevorzugten Transparentes fand. Auch für die Zeitschrift der Arbeitsgemeinschaft der Jugend gegen atomare Aufrüstung hatten wir 1962 opposition / lebendige demokratie als Titel gewählt. Wir wollten uns aus militärfixierter Disziplinierung lösen, weg von der politischen Erstarrung. Von kompetenter Seite bestätigt zu bekommen, dass dies sogar «nachhaltige Effekte» hatte, tut natürlich gut. Zürich sei «Brennpunkt» der hiesigen Antiatombewegung gewesen. «Zu Beginn der 1960er Jahre, als die Stimmung besonders verstockt war, sorgten friedenspolitische Aktivisten mit Protestkundgebungen gegen französische und russische Atomversuche sowie mit Mahnwachen zum Hiroshima-Tag am 6. August für Aufsehen.» Vor allem die Ostermärsche hätten «als ungewohnte öffentliche Manifestationen» wie das «Coming-out einer ausserparlamentarischen Opposition» gewirkt.

Ideologisch sei der Konflikt nicht nur an der klassischen «Demarkationslinie» ausgetragen worden. Es standen nicht proamerikanische gegen prosowjetische Positionen, «sondern antikommunistisch orientierte Kräfte, die sich der Blockkonfrontation verschrieben hatten, attackierten eine pazifistische Strömung, die aus diesem Schematismus auszubrechen versuchte». Zwar habe die Bewegung in der Atomfrage ein «Anti» ins Zentrum gesetzt. «Doch sie nutzte ihre oppositionelle Rolle auf kreativ-subversive Weise. Sie pflegte Vorstellungen einer friedlichen Welt, die sich als Absage an die Lebensform und das Wissensregime des Kalten Krieges verstanden.» Mein lieber «emeritierter Professor für Allgemeine und Schweizer Geschichte der Neuzeit», wir hätten unsere Kernanliegen nie so formulieren können. Uns war höchstens halb klar, was wir wollten. Doch es war ungefähr dies.

Vorhut eines rotgrünen Zürich

Im übrigen enthält der Sammelband der Antiquarischen viele weitere Beiträge, die nicht nur höchst interessant, sondern für andere sicher auch ähnlich erinnerungsträchtig sind. Sebastian Brändli und Anne Bosché etwa haben den universitären und pädagogischen Bereich im Blick. Elisabeth Joris ruft «Pionierinnen der feministischen Selbstermächtigung» ins Gedächtnis – von Berta Rahm bis Emilie Lieberherr. Nicht minder spannend das in seiner Vielfalt gespiegelte Spektrum des wachsenden Widerstands gegen die nicht nur freisinnigen, sondern politisch rundum irrsinnigen Pläne für eine perfekt autogerechte Stadt. Da werden bereits Ansätze jener Umweltbewegung erkennbar, die heute das rotgrüne Zürich zumindest mitprägt.

Ausgiebig werden im zweiten Teil alternative Kulturszenen gewürdigt. Zwar seien die Ideen der Neuen Linken etwa in der hiesigen Rockmusik «auf keinen fruchtbaren Boden gefallen», steht im letzten Absatz, aber es hätten «viele Musiker in ihrer eigenen Revolte gegen die überkommenen Verhältnisse in der Musikwirtschaft» gefochten. Schön, dass in diesem Zusammenhang auch Roland Gretler ein kleines Denkmal bekommt. Ob er die zwei Seiten mit dem von ihm gestalteten «Ersten Flugblatt der antiautoritären Menschen» vor dem Tod noch gedruckt sah? «Rebellion ist berechtigt.» Ich bin Roland vor ein paar Jahren bei einer Osterwanderung der Friedensbewegung in der Ostschweiz letztmals begegnet. Wir freuten uns fast wie Kinder, dass von den alten und schweren schwarzen Fahnen aus den Sechzigern noch eine mit dabei war.

Reformen jenseits der Revolte. Zürich in den langen Sechzigern. Hrsg. von Regula Schmid, Gisela Hürlimann und Erika Hebeisen. Mitteilungen der Antiquarischen Gesellschaft in Zürich, Band 85. Chronos-Verlag, Zürich 2018, 164 grossformatige Seiten mit 80 Abbildungen, 48 Franken

Dieser Text erschien erstmals im P.S.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

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Eine Meinung zu

  • am 1.04.2018 um 20:54 Uhr
    Permalink

    Schade dass der mutige Hans Steiger nicht mehr im Nationalrat ist. Er könnte dort mithelfen, dass die Nationalbank, Banken, Versicherungen und Pensionskassen (unter anderem die SBB-Pensionskasse) ihre Gelder nicht mehr in US-Unternehmen anlegen die Nuklearwaffen produzieren. Wie in der NZZ am Sonntag 20. August 2017 berichtet wurde, hat heute allein die Schweizerische Nationalbank 1,2 Milliarden Franken in solche Konzerne angelegt die Atombomben herstellen. Ich könnte mir vorstellen, dass Steiger lautstark im Bundeshaus auch die Kriegsmaterialexporte an kriegführende Nato Staaten kritisieren würde, an Staaten die auf dem Balkan, in Afghanistan, im Irak, in Syrien, in Lybien, in Somalia, im Jemen, in Mali usw. im Krieg stehen oder militärisch intervenierten.

    Heute akzeptiert der Bundesrat in corpore, dass die Nationalbank, Banken, Versicherungen und Pensionskassen ihre Gelder in Firmen anlegen die verbotene Waffen wie Atombomben, Streubomben, Antipersonenminen produzieren. Die Bundesrätinnen und Bundesräte haben auch nichts dagegen einzuwenden wenn die Nationalbank, Banken, Versicherungen und Pensionskassen (auch meine SBB Pensionskasse) ihre Mittel in Konzerne angelegt haben die so genannt nicht verbotenes Kriegsmaterial produzieren wie Panzer, Kampfflugzeuge, Kanonen, Kriegsschiffe, Drohnen, Granaten, Landminen, Sturmgewehre, Munition usw.

    Siehe auch: http://ifor-mir.ch/finanziere-keine-atombomben-streubomben-anti-personenminen-und-ueberhaupt-kein-kriegsmaterial/

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