Endlich: Ein Buch zu Europa, das Hoffnung schafft!
«Utopisch»: ein oft missverstandenes, ein oft missbrauchtes Wort. Für viele, auch gebildete Leute, ist utopisch einfach gleichbedeutend mit unrealistisch, völlig abwegig, ja geradezu absurd. Sich mit Utopischem abzugeben sei, so meinen auch vermeintlich kluge Köpfe, Zeitverschwendung. Selbst der Chefredaktor der NZZ, Eric Gujer, ist stolz darauf, dass die Liberalen, zu denen er sich und sein Intelligenzblatt selbstverständlich zählt, «pragmatisch» sind. Doch was heisst eigentlich pragmatisch? Pragmatisch vorgehen heisst: die im Moment nächstliegende, die machbare und meist billigste Lösung wählen. Der Mann von der Strasse würde vielleicht sagen: einfach «praktisch» vorgehen. Utopisches sei also zu meiden.
Doch was ist eine Utopie?
Vor genau 500 Jahren veröffentlichte Thomas Morus in London seinen Roman «Utopia» (oder genauer, nämlich lateinisch, wie Thomas Morus seinen Roman tatsächlich betitelte: De optimo rei publicae statu deque nova insula Utopia, Vom besten Zustand der Republik und der neuen Insel Utopia). Morus hatte darin den Mut, selber etwas auszudenken, vorauszudenken, sich Gedanken darüber zu machen, wie etwas sein sollte, damit es «am besten» ist. Inhaltlich entwarf er dabei einen Staat, bei dem die Interessen des Einzelnen dem Gesamtinteresse untergeordnet werden. – Utopisch heisst also: noch ist es nicht real, aber so könnte es sein, oder sogar: so sollte es sein!
Die heutige Politik geht – wie eben Eric Gujers Liberale es vormachen – meist pragmatisch vor: man wagt nicht mehr vorauszudenken, sich etwas schon mal gedanklich zurechtzulegen. Vor allem natürlich, wenn es um «das System» geht: man korrigiert hier ein bisschen, repariert da ein wenig, schraubt dort leicht an einer Schraube und – vor allem – man verschiebt alles gerne auf später. Man wurstelt sich halt einfach so durch. Pragmatisch eben. An grosse Würfe, wie etwa die Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten von Amerika im Jahr 1776 einer war, glaubt man eh nicht mehr. Ausserdem hat pragmatisches Vorgehen den Vorteil, dass die gegebenen Machtverhältnisse nicht angerührt werden, dass «das System» also bleibt, wie es ist: die Reichen werden Reicher, die Armen ärmer. Daran darf natürlich nicht gerüttelt werden.
Aber es gibt sie glücklicherweise noch, die Leute, die sich dagegen wehren, dass wir nur noch vor uns her wursteln, «pragmatisch», systemerhaltend. Der deutsche Sozialphilosoph Oskar Negt etwa gab einem seiner lesenswerten Bücher sogar den bemerkenswerten Titel: Nur noch Utopien sind realistisch. Und er hat damit in jeder Hinsicht recht!
Jetzt – endlich! – liegt wieder eine Utopie vor
Endlich! Endlich ist ein Buch erschienen, in dem eine Utopie gewagt wird. Endlich hat eine Frau – wohl nicht ganz zufällig eine Frau – eine politische Utopie geschrieben: Warum Europa eine Republik werden muss!
Ulrike Guérot, die Autorin, ist 52 Jahre alt und von Beruf studierte Politikwissenschaftlerin. Aber sie kennt nicht nur die verschiedenen politischen Systeme dieser Welt, mit Vor- und Nachteilen, sie kennt auch die Geschichte, die politische Ideen- und Geistesgeschichte, und sie kennt sich im Staatrecht aus. Und – Chapeau! – sie versteht sehr viel auch von Wirtschaft. Ulrike Guérot entwickelt in ihrem in diesem Frühling erschienen Buch «Warum Europa eine Republik werden muss» nicht ein Gedankengebäude, das wie ein Kartenhaus bei Berührung auch nur schon mit Fingerspitzen in sich zusammenfällt. Sie baut eine Utopie, die es wert ist, als politische Zielvorstellung genommen zu werden, als Leuchtturm im Meer der gegenwärtigen Probleme, Krisen und Konflikte.
Auch EU-Kritiker werden Freude haben
Die ersten 80 Seiten des Buches sind die perfekte Sammlung der Fehler und Fehlleistungen der EU. Nicht einfach eine Anhäufung von Schelte, nein, eine höchst differenzierte Kritik. EU-Kritiker dürften sich darüber freuen und sich bestätigt fühlen. In Brüssel umgekehrt dürfte es bei der Lektüre dieses Buches etliche rote Köpfe geben…
Erst dann, nach der Analyse der nicht mehr funktionsfähigen EU, folgt das Gedankengebäude, die politische Utopie.
Res publica statt Nationalstaat
Guérot investiert viele Seiten und eine akribische Argumentation in die Darstellung, was eigentlich die Republik – die res publica, das Gemeinwohl – ist. Sie beginnt nicht bei Adam und Eva, aber bei Aristoteles und natürlich bei Cicero, den Vordenkern der res publica, des auf das Gemeinwohl ausgerichteten Staatswesens. Und sie zeigt, wie die Republik in der italienischen Renaissance etwas anders verstanden wurde. Ideen- und Geistesgeschichte eben. Und natürlich kommt auch Jean-Jacques Rousseau angemessen zu Wort, einer der Vordenker der Französischen Revolution.
Ein immer wiederkehrendes Thema in ihrem Buch ist, wie der territorial definierte Nationalstaat das Gemeinwohl eben nicht optimal zu realisieren vermag, weil es bei den Nationalstaaten um Macht geht – um Macht gegenüber den Nachbar-Nationalstaaten. Der Bürger aber, der Citoyen, ist souverän und muss souverän sein, nicht der Nationalstaat.
Und was ist in der res publica die Freiheit?
Ja, die Freiheit! Ulrike Guérot erinnert an das französische Liberté, Egalité et Fraternité und zeigt, dass Freiheit eben nicht einfach die Abwesenheit von «Einmischung» ist, wie es die heutigen Liberalen, die Neoliberalen, verstanden haben wollen.
«Die Freiheit hat im modernen Liberalismus einen minimalistischen Charakter. Es geht im Kern um die Abwesenheit von Auflagen, Zwängen, Regulierung und Steuern, immer begründet mit dem Prinzip der ‚Nichteinmischung’, ganz egal ob im wirtschaftlichen oder im politischen Raum. Hier geht es uns aber darum, das liberale Dogma der Nichteinmischung als Beschädigung der Freiheit zu entlarven. Die republikanische Freiheit ist fordernd, denn sie fordert eine gewisse soziale Gleichheit als Grundlage zur Herstellung von Freiheit,» so Guérot wörtlich, und etwas weiter unten: Nur «formelle Freiheit ist keine Freiheit, das ist auch in der heutigen EU so. () Am unteren Ende der Gesellschaft sind die Menschen heute eigentlich nur noch frei zu scheitern, weil sie von der Gesellschaft keine soziale Einbettung mehr erfahren, dann aber selbst dafür verantwortlich sind, denn sie hätten ja im Sinn formaler Freiheit prinzipiell alles machen, erreichen und tun können.»
Ein hoffnungsvolles und ein lehrreiches Buch
Die kurze Buchbesprechung verbietet, jede Menge Zitate zu bringen. Den Inhalt des Buches, der 260 Seiten, kann eine Buchbesprechung eh nicht wiedergeben. Das Buch aber zur sorgfältigen Lektüre zu empfehlen, ist im Sinne der res publica ein Muss. Selten hat ein Autor oder eine Autorin so viele Fakten und Gedanken zusammengetragen, um aufzeigen zu können, wo gegenwärtig in der Politik was schief läuft und wie es eben anders sein könnte, sein müsste. Das Buch ist eine geballte Ladung an Geschichte, an Staatsrecht und an Wirtschaftskunde – in Form von, wie erwähnt, konkreter Kritik, aber auch in Form von konkreten Vorschlägen. Selbst wer nicht in allen Punkten mit Ulrike Guérot einig geht, kann das Buch nur mit Gewinn lesen.
Und wie soll es nun mit der EU konkret weitergehen?
Ulrike Guérot macht keine Vorschläge, was nächste Woche und was in einem Monat beschlossen werden sollte. Sie terminiert die Realisierung ihrer Utopie auf 2045 – also auf 30 Jahre hinaus, auf die Zeit der nächsten Generation. Das ist, so denkt sich der Leser, ja viel zu spät. Aber nein, es geht eben nicht mehr darum, einfach da und dort etwas zu ändern, es geht darum, ein neues Europa zu denken und sich diesem neu erdachten Europa dann real zu nähern. Das ist der Sinn einer Utopie.
«Utopien», schreibt Guérot, «sind ein Kompass für gesellschaftliche Entwicklungen, denn ohne eine Idee davon, wie die Dinge sein könnten oder eigentlich sein sollten, ist keine Politik zu machen. Politik ist gesellschaftliches Design, Streit um eine immer bessere, immer gerechtere Form des gesellschaftlichen Zusammenlebens. ‹Alternativlos’ ist nichts, ausser man gibt den Anspruch auf, die Dinge immer besser machen zu wollen. Das Wort gehört endgültig entsorgt.»
Auf den hintersten Seiten schreibt Ulrike Guérot dann noch spezifisch zum Thema Frauen und zum Thema Jugend. Und sie wünscht sich, dass Europa wieder zur Avantgarde wird, zum Vorbild, wie dereinst die ganze Welt zu einer – gemeinwohlorientierten – res publica werden könnte und sollte.
Aber die Autorin des faszinierenden Buches bleibt am Boden: «Wenn diese Utopie einen kleinen Effekt haben sollte, dann vielleicht den, dass sie eine Debatte über ein anderes Europa befördert.» Bei der NZZ hat das Buch diesen Effekt allerdings noch nicht gehabt, selbst auf eine Besprechung des Buches von Ulrike Guérot im Zürcher Weltblatt wartet man bisher vergebens.
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Ein Hinweis:
Aussenpolitische Aula der Schweizerischen Gesellschaft für Aussenpolitik SGA-ASPE in Zürich: Am Dienstag, 1. November 2016, findet die «Aussenpolitische Aula» erstmals in Zürich statt: 18.15 Uhr in der «Kleinen Aula» der Universität im Gebäude RAA an der Rämistrasse 59 (RAA-G-01). Titel der Veranstaltung: Europa am Abgrund – Europa neu denken? Die Berliner Publizistin Ulrike Guérot wird Brexit und europaweiten Aufstieg des Rechtspopulismus, Migrations- und Eurokrise ansprechen. Nicht der Populismus bedrohe die Europäische Union, sondern die EU produziere selber den europäischen Populismus, meint die Autorin von «Warum Europa eine Republik werden muss!». Die von Markus Mugglin moderierte Veranstaltung wird weitere Fachleute zu diesen Themen einbeziehen.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine.
Die Polemik gegen den liberalen ode «formellen» Freiheitsbegriff ist mir zu diffus und erinnert unangenehm an die altbolschewistische Polemik. Freiheit lässt sich durchaus so definieren, dass sie den liberalen Kernbegriff (Freiheit vom Zwang durch andere) voll einschließt, ohne deshalb die materiellen Voraussetzungen (Freiheit von der Beschränkung durch Lebensbedingungen) zu missachten.
Ja, ich habe das Buch gelesen. Es ist das beste kulturpolitische Buch, das ich bisher gelesen habe! Sollte sich diese Utopie verwirklichen lassen, dann wäre dann auch die Schweiz bei Europa dabei, die EU wäre dann überlebt.
Der Termin 2045 lässt der heute jungen Generation Zeit, die Utopie Realität werden zu lassen, welche Faszination. An die Arbeit!
Aber eben: Frau Guérot weiss, dass es politischer Umsetzung bedarf. Sonst landet das gescheite Buch im Gestell, wie so viele andere auch. Wer will, wer kann, wer muss handeln?, das wäre meine Frage.
Hallo Herr Möller,
dringliche Empfehlung: lesen Sie Frau Guérots Buch sorgfältig. Für die Ihnen zusagende Definition des Freiheitsbegriffs hat Europa nun Zeit bis 2045. Die momentan praktizierten Freiheitsbegriffe überzeugen uns wohl beide nicht.
Mein Interesse am Buch ist geweckt, ich habe es allerdings noch nicht gelesen. Mein Kommentar bezieht sich deshalb nur auf den Text von Christian Müller.
Es ist wird nicht so ganz klar, wodurch sich eine «res publica» denn konkret vom Nationalstaat unterscheiden soll. Nationalstaat ist ja nicht von der Art und Weise her definiert, wie er seine gesellschaftlichen Belange regelt. Ein Nationalstaat muss weder sprachlich noch Ethnisch noch sonstwie homogen sein. Der Nationalstaat ist nur dadurch definiert, dass er von der internationalen Staatengemeinschaft als legitime Vertretung für ein bestimmtes Gebiet der Erdoberfläche anerkannt wird. In der Praxis zeigt sich ausserdem, dass ein Nationalstaat viel besser funktioniert, wenn unter seinen Einwohnern ein gewisses Zusammengehörigkeitsgefühl vorhanden ist.
Daneben gibt es bekanntlich schon heute haufenweise Organisationen, die nicht territorial definiert sind, z.B. Konzerne, Vereine, Genossenschaften, Religionsgemeinschaften, und so weiter. Diese agieren aber ergänzend zum Nationalstaat, nicht als Ersatz für diesen.
Lieber Herr Heierle
Mit Bezug zu Ihrem Beitrag: lesen Sie das Buch von Frau Guérot aufmerksam und mit Genuss. Sie werden vermutlich nachher anders denken, wie ich auch. Ich wurde schon früher durch das Buch der amerikanischen Wissenschaftlerin Saskia Sassen «Das Paradox des Nationalen» (Suhrkamp 2008) nachdenklich. Nationalstaaten haben ja bis vor kurzem gegeneinander Kriege geführt und tun es heute noch, wenn sie keine Demokratien sind und das sind lange nicht alle.