Die letzte Freiheit
Für die Freiheit lohnt es sich zu sterben. Für die Freiheit, auf deutschen Autobahnen so schnell zu fahren, wie man will, sterben jedes Jahr ungefähr 100 bis 150 Menschen. Ohne Zweifel: Freiheit gehört zu den bedeutendsten Gütern einer Gesellschaft. In Deutschland wird sie durch den zweiten Artikel des Grundgesetzes geschützt. Mit gewissen Einschränkungen gilt: Jeder darf sein Glück dort suchen, wo es ihm beliebt – und sei es in der faszinierenden Wirkung der körpereigenen Drogen, die bei hohen Geschwindigkeiten ausgeschüttet werden.
Die Anatomie eines Glaubenskriegs
In Deutschland wird seit den 1970ern impulsiv über ein Tempolimit auf Autobahnen gestritten. Jetzt haben die Grünen angekündigt, eine Geschwindigkeitsbeschränkung auf Autobahnen durchzusetzen, sollten sie es in die Regierung schaffen. Und inzwischen mehren sich die Anzeichen, dass der Widerstand gegen die Vernunft zusammenbricht. Diese Debatte reflektiert letztlich auch unser eigenes Verhältnis zum Auto, das viel mehr von Emotionen als durch die Vernunft gesteuert ist. Deshalb gehen wir dem Glaubenskrieg ums Gaspedal in drei Teilen auf den Grund.
Teil I: Die Anatomie eines Glaubenskriegs
Wir zeigten, mit welchen Strategien die Gegner eines Autolimits die Vernunft besiegten und wie gross der Einfluss eines strengeren Gesetzes auf die Verkehrssicherheit und das Klima wäre.
Teil II: Die letzte Freiheit
Ein Tempolimit wäre ein unangemessener Eingriff in die persönliche Freiheit, sagen die Gegner. In diesem Teil fragen wir uns: Was würde John Stuart Mill, der Begründer des modernen Liberalismus, dazu sagen? Ausserdem unternehmen wir einen kleinen Exkurs in die Geschichte des Schweizer Tempolimits.
Teil III: Die unheimliche Macht der Autoindustrie
Im letzten Teil gehen wir der Frage nach, warum Deutschland in dieser Frage so anders tickt als der Rest der Welt – und warum das Recht auf Rasen in absehbarer Zukunft trotzdem fallen könnte.
Für viele Deutsche ist Autofahren ein Lebensgefühl, ein Ausdruck ihrer Persönlichkeit. Diese Freiheit ist zwar durch hunderte Verkehrsgesetze so streng reglementiert wie vermutlich keine zweite: Der Fahrer selbst ist in seinem Sitz festgezurrt, Leitplanken bestimmen seine Fahrtrichtung, andere Autos die Geschwindigkeit. Viel Freiheit bleibt da nicht mehr übrig. Umso grösser ist der Stellenwert der deutschen Autobahn, auf der jeder so schnell fahren kann, wie er kann und will. Wer das als Rasen bezeichnet, riskiert einen gehässigen Streit – lieber spricht man vom freien Fahren. Man könnte sagen: Es ist die letzte Freiheit deutscher Autofahrer.
185 km/h oder schneller
Die grosse Mehrheit der Deutschen geht mit dieser Freiheit verantwortungsbewusst um. Mehr als die Hälfte aller Autofahrer fährt auch auf Autobahnen ohne Geschwindigkeitsbeschränkung nicht schneller als 130 km/h. Dies ergab eine Untersuchung der Bundesanstalt für Strassenwesen. Nur: Die Hambuger Wochenzeitung «Zeit» wertete Daten des Navigationsherstellers Tomtom aus und stellte fest, dass die schnellsten zehn Prozent auf Strecken ohne Tempolimit 185 km/h und mehr fahren. Das Internet ist voll mit Videos, die zeigen, dass diese Freiheit auch als Recht ausgelegt wird, mit einem Sportwagen mit 300 km/h andere Verkehrsteilnehmer zu überholen. Eine Freiheit übrigens, die ausschliesslich Männer in Anspruch zu nehmen scheinen – einen Clip mit einer Frau am Steuer konnten wir nirgends finden.
Spätestens beim Betrachten solcher Szenen wird klar: Freiheit hat Grenzen. Der britische Philosoph und Politiker John Stuart Mill gilt als Begründer des modernen Liberalismus und lieferte 1859 mit «On Liberty» eines der wichtigsten Werke über politischen Liberalismus. Für Mill war klar: Der Staat ist verpflichtet, die Freiheit des Individuums zu verteidigen.
Mill legte aber auch eine bis heute anerkannte Definition vor, wo die Freiheit endet: «Der einzige Zweck, um dessentwillen man Zwang gegen den Willen eines Mitglieds einer zivilisierten Gesellschaft rechtmäßig ausüben darf: die Schädigung anderer zu verhüten.»
Etwas einfacher: «Die Freiheit des Einzelnen endet dort, wo die Freiheit des Anderen beginnt.» Dieses Zitat wird häufig Immanuel Kant zugeschrieben, allerdings gibt es berechtigte Zweifel daran.* Und plakativer bringt es die folgende, amerikanische Redewendung auf den Punkt: «Your Liberty To Swing Your Fist Ends Just Where My Nose Begins.» Und so hält es auch das deutsche Grundgesetz: Niemand darf die Rechte anderer verletzen und jeder hat das Recht auf körperliche Unversehrtheit [Grundgesetz].
Kleine Geschichte des Tempolimits in der Schweiz
Innerorts 10 km/h, ausserorts 30 km/h: So schnell durften Autos ab 1903 in der Schweiz noch fahren, nachdem das erste Tempolimit erlassen wurde. Der Historiker Christoph Maria Merki untersuchte den Siegeszug des Autos in der Schweiz, Deutschland und Frankreich und publizierte mehrere Standardwerke über die Geschichte der Mobilität. «Damals», sagt Merki, «waren Autos Spielzeuge von vermögenden Herrenfahrern». Deren Ideal war der Rennsport, ihr Auto repräsentierte Status und Sportlichkeit. «Vom sogenannten Publikum hingegen wurden Autos rasch als Gefahr angesehen, die es zu zügeln galt.» Zügeln war durchaus im Wortsinn gemeint, denn man passte den motorisierten Verkehr dem vormodernen Verkehr – dem Pferd – an.
Geschwindigkeitsbeschränkungen waren dafür das zentrale Element, obwohl diese kaum zu kontrollieren oder durchzusetzen waren. «Es ging nicht nur darum, die Menschen zu schützen, sondern auch um Haftpflicht. Zuvor war es kaum möglich, Autofahrer für Unfälle verantwortlich zu machen», sagt Merki. 1914 wurden die Limiten leicht erhöht – in den folgenden 18 Jahren aber übernahm das Automobil den Platz, der zuvor den Fussgängern, Kutschern und Radfahrern gehörte. Diese wichen zur Seite, die Akzeptanz des Autofahrens nahm zu und 1932 strich man die Tempolimiten aus dem Gesetz. 27 Jahre lang durften Autofahrer in der Schweiz so schnell fahren, wie es dem Verkehr angemessen war – und diese Beurteilung lag selbstverständlich in ihrem Ermessen.
Insbesondere stark steigende Unfallzahlen führten ab 1959 zu neuen Tempolimiten auf Innerortsstrassen. Ab 1974 war auf Autobahnen die Geschwindigkeit 130 km/h erlaubt, 1984 wurde als Sofortmassnahme gegen das Waldsterben die Höchstgeschwindigkeit auf 120 km/h gesenkt. Zum ersten und einzigen Mal stimmte die Bevölkerung 1989 über Tempolimiten ab: Eine Initiative verlangte die Erhöhung der erlaubten Höchstgeschwindigkeit von 120 auf 130 km/h – und scheiterte mit 62 Prozent Nein-Stimmen an der Urne. Bis heute wäre eine Erhöhung absolut chancenlos. 2015 sammelte ein Komitee Unterschriften für Tempo 130 auf Autobahnen und Tempo 100 ausserorts (unter dem Titel «Ja zu vernünftigen Tempolimiten»), doch die Frist verstrich, bevor 100’000 Personen den Vorstoss unterzeichnen wollten. Selbst die SVP verweigerte den Initianten die Unterstützung.
Mill lieferte auch Kriterien, die für eine Einschränkung der Freiheit des Individuums erfüllt werden müssen. Wenn die Folgen des Ausübens einer Freiheit:
- für andere mehr als nur lästig sind,
- mit einer ausreichenden Wahrscheinlichkeit einem Dritten Schaden zufügen
- und es dafür keine überwiegenden rechtfertigenden Gründe gibt,
dann sind die Grenzen der individuellen Freiheit erreicht.
Ist das auf deutschen Autobahnen der Fall? Tod und Klimaerwärmung sind mehr als nur lästig – und der Schaden tritt seit Jahren zuverlässig ein. Die einzige Rechtfertigung für Autobahnen ohne Tempolimit ist die faszinierende Wirkung der körpereigenen Drogen, die bei hohen Geschwindigkeiten ausgeschüttet werden.
Man muss annehmen: John Stuart Mill hätte ein Tempolimit unterstützt.
* Korrekturhinweis: In einer ersten Fassung dieses Textes haben auch wir das Zitat Kant zugeschrieben. Aufgrund des Kommentars eines Infosperber-Lesers stellten wir fest, dass sich die Herkunft nicht ohne Weiteres belegen lässt und änderten die Passage.
Themenbezogene Interessen (-bindung) der Autorin/des Autors
Keine.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
keine
Interessanter Artikel, aber das Zitat ist nicht von Kant. Am nächstem kommt ihm aus der Metaphysik der Sitten. Erster Theil. Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre. Einleitung in die Rechtslehre, § C. Allgemeines Prinzip des Rechts:
Also ist das allgemeine Rechtsgesetz: handle äußerlich so, daß der freie Gebrauch deiner Willkür mit der Freiheit von jedermann nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen könne.
Das ist also um einiges komplexer und komplizierter als im Vulgärzitat, vor allem muss noch ein «allgemeines Gesetz» eingeführt werden.
Und – um auch noch dieser möglichen Fehlattribution vorzugreifen -: Das «Your Liberty…»-Zitat wird allgemein dem Supreme Court Richter Oliver Wendell Holmes zugeschrieben, bei dem auch dieses sich nicht findet. Ihm am nächsten kommt der amerikanische Jurist und civil rights-Verfechter Zechariah Chafee, Jr. in: «Freedom of Speech in Wartime», 32 Harvard Law Review 932, hier 957 (1919): “Your right to swing your arms ends just where the other man’s nose begins.” – wobei die Pointe darin besteht, dass Chafee gerade keinen Rechte-Diskurs, sondern eine Interessenbegründung und -abwägung für den wohl viel bedeutenderen (Freiheits)Issue der Meinungsäusserungsfreiheit empfiehlt.
Die Auswahl eines Autos gibt schon mal eine wichtige Grösse beim Treibstoffverbrauch vor. Dabei helfen seriöse Tests, Fahrzeuge mit geringem Verbrauch zu finden. Motoren mit weit über 100 PS, Allradantrieb und hohes Gewicht treiben den Verbrauch hoch. Was aber offenbar zu wenig bekannt zu sein scheint, ist der Einfluss der Geschwindigkeit. Bis etwa Tempo 60 spielt der Luftwiderstand eine untergeordnete Rolle, mit zunehmendem Tempo aber wird er immer wichtiger: Er (und damit die benötigte Kraft) wächst im Quadrat der Geschwindigkeit. Somit wäre es sinnvoll, auch bei uns das Autobahntempo auf 100 km/h zu beschränken (wie es seit kurzem Holland macht !). Vorteile: Bedeutende Treibstoffeinsparung mit entsprechend niedrigerem CO2-Ausstoss, ebenso weniger Stickoxide und Feinstaub, und nicht zuletzt geringerer Lärm. Wenn sich auf 100 km 1 Liter einsparen lässt (was mit der Fahrzeug-Auswahl wie beschrieben und dem Fahrverhalten eigentlich leicht zu erreichen wäre), würde man hochgerechnet beim schweizerischen Auto-Bestand von 4.6 Mio und einer durchschnittlichen jährlichen Fahrleistung von 12’000 km 552 Mio Liter einsparen, mit entsprechender Reduktion der Schadstoffe. Die Menge entspricht einem Würfel von 82 Meter Seitenlänge ! Nutzen: hoch, Kosten: eigentlich keine, im Gegenteil.
Die Frage darf schon gestellt werden: Finden sich die Deutschen erst richtig männlich oder fraulich, wenn sie mit überhöhter Geschwindigkeit über die Autobahnen rasen können? Das brauchen Schweizer, Franzosen, Italiener, Spanier etc. schon längst nicht mehr. Und fühlen sich ja auch nicht in ihrer Freiheit beraubt. Hat das eventuell mit der IQ zu tun? Nachdenken darf man ja.
Was habe ich da letzthin auf dem Heck eines Boliden gelesen: «Sollte mich eines Tages die Geschwindigkeit töten, dann weint nicht um mich, denn ich fühlte mich glücklich dabei.» Welch ein Schwachsinn!
Ihrem Artikel kann ich absolut zustimmen. Aber was ist mit dem Kant-Zitat passiert? Da sind die Wörter wohl durcheinander gepurzelt.
Leider sind wir Germanen, was Autos angeht, noch in einer Zeit, als das Recht des Stärkeren galt, aber das wird schon noch…
In Wirklichkeit ist es mit DER Freiheit (welcher konkret ?) gar nicht so weit her, wie von den PR-Agenturen u. libertären Medien Glauben gemacht wird.
Für mich ist «sich Zeit lassen können›, ein Mass-Stab oder Indikator, wie frei ich lebe. Zumindest wurde lat. ‹libertatem› mit ‹Zeit lassen› u. hatte diese Bedeutung.
In der Schweiz steigt die durchschnittliche Leistung der PKW bei Neukauf von Jahr zu Jahr. Wozu ? – Für Geltung ?
Wenn ich am Sonntag den Rasen mähe, ist das für die Nachbarn allerhöchstens lästig. Das ist aber offenbar genug, um das Rasenmähen am Sonntag zu verbieten.
Rasen auf der Autobahn ist klar mehr als nur lästig. Es ist lebensgefährlich für andere Benützer der Autobahn.
John Stuart Mill hätte ein Tempolimit sicherlich unterstützt. Ausser er wäre selbst ein fanatischer Raser gewesen 😉
Dürfte man es wagen, den Blick nicht nur auf das Tempolimit in DE zu begrenzen, sondern das Gesamtsystem des automobilen Verkehrs betrachten, würde das absurde Panoptikum dieser Entwicklung noch so manche Frage aufwerfen.
Dies fängt schon beim Begriff „Auto“ an, bewegt es sich doch eben gerade nicht „Selbst“, sondern mittels Erdöl oder Akkus, die bereits bei der Förderung und Verarbeitung unübersehbare Zerstörungen und Verschmutzungen generieren.
Weiter geht dies beim Strassenbau, für den gewaltige Landflächen zerschnitten und zubetoniert werden, auch dies mit enormem Energieaufwand, der kaum einberechnet wird.
Siedlungsgebiete werden bedenkenlos Lärm- und Luftverschmutzung preisgegeben, wobei sich auch Kinder und sonstige Autolose dem Verkehr bei Gefahr für Leib und Leben unterzuordnen haben.
Dass die Tendenz zu immer grösseren, stärkeren, schwereren und so auch gefährlicheren Autos geht, ist rational kaum erklärbar, wenn ich richtig erinnere, steigt nämlich auch der Energieverbrauch für die Beschleunigung im Quadrat zum Gewicht.
Hauptursache dieser Entwicklungen dürfte sein, dass es der Industrie gelungen ist, im Interesse grösstmöglicher Profite, das Auto als Kult- und Statusobjekt zu vermarkten. So wird unsichtbar, wieviel Arbeitszeit und Lebensqualität für banale Transportaufgaben verschwendet wird.
Sollten unserer Kulturepoche noch andere folgen können, werden sie bei ihren Ausgrabungen sicher fragen, welchem Moloch all diese Bauten und Fetische wohl geopfert wurden.
Im Kasten «Geschichte des Tempolimits in der Schweiz» fehlt die Information, dass in der Schweiz während der Ölkrise von November 1973 bis März 1974 die Geschwindigkeit auf den Autobahnen auf 100 km/h beschränkt war und Übertretungen hohe Bussen zur Folge hatten. Nach der Freigabe auf 120 km/h bildete sich ein Verein «Tempo 100», der sich zum Ziel gesetzt hatte, diese Höchstgeschwindigkeit auf den Autobahnen zum gesetzlichen Standard zu machen. Erst als nach Jahren politischer Einflussnahmen die Initianten einsehen mussten, dass eine Volksabstimmung zum Tempo 100 chancenlos ist, hat sich der Verein aufgelöst.