Die Ukraine und ihr Bankenskandal
Wolodymyr Selenskyi könnte vom Oligarchen Ihor Kolomoyskyi abhängig, oder zumindest von ihm beeinflusst sein. So mutmassen die Gegner des neuen Staatsoberhaupts, und sie haben gute Argumente:
Verbindungen zwischen Selenskyi und Kolomoyskyi
- Selenskyis Serien laufen seit Jahren im Fernsehkanal «1+1», der darüber hinaus seinen Wahlkampf überaus wohlwollend begleitet hat. «1+1» gehört Kolomoyskyi.
- Selenskyi ernannte Andrij Bohdan zum Leiter der Präsidialadministration. Bohdan ist Hauptanwalt Kolomoyskyis.
- Einen Tag nach dem Wahlsieg Selenskyis (!) bestellte Generalstaatsanwalt Juriy Lutsenko die frühere Zentralbankchefin Valeria Gontarewa als Beklagte in einem Korruptionsfall ein. Der Generalstaatsanwalt steht in der Ukraine grundsätzlich in besonderer Abhängigkeit vom Präsidenten. Die Anschuldigungen dürften eine Intrige des Oligarchen-Lagers sein, um die Glaubwürdigkeit der Reformer zu beschädigen. Lutsenko kann als Verbündeter Kolomoyskyis gelten. So trafen sich beide heimlich in Amsterdam, was lediglich durch Zufall von einem ukrainischen Studenten entdeckt und gefilmt wurde.
- Der Initiator einer gross angelegten Diffamierungskampagne gegen Gontarewa steht nicht nur auf der Gehaltsliste des Oligarchen, sondern auch auf einem der vorderen Listenplätze von Selenskyis Partei «Diener des Volkes».
- Kolomoyskyi kehrte nach dem Wahlsieg Selenskyis nach über einjähriger Abwesenheit wieder in die Ukraine zurück. Er fürchtete offensichtlich nicht, belangt zu werden, obgleich er nach Angaben der Zentralbank Milliarden veruntreut hat.
Kolomoyskyi galt bereits Mitte 2018, während seines selbstgewählten Exils, als der fünftmächtigste Ukrainer, noch vor Ministerpräsident Wolodymyr Hrojsman. Er dürfte weiter nach oben gerückt sein.
Die Verbindungen zwischen Selenskyi und Kolomoyskyi wecken zu Recht Argwohn.
Andererseits hat der neue Präsident bereits erfolglos versucht, Generalstaatsanwalt Lutsenko abzulösen. Das Parlament legte sich jedoch quer. Selenskyi betont, keineswegs Kolomoyskyi, sondern die Interessen der Steuerzahler zu verteidigen. Es gibt keine Indizien, die dem widersprechen. Gleichwohl: Die Amtsübernahme Selenskyis ermutigt den Oligarchen zu einer Offensive. Gontarewa wagt es nicht mehr, in ihr Heimatland zurückzukehren. Kolomoyskyis Attacken haben vor allem die «PrivatBank» im Visier, das mit weitem Abstand grösste Kreditinstitut des Landes.
Die Pleite der PrivatBank
Im Dezember 2016 gab die ukrainische Zentralbank an, die «PrivatBank» habe über 90 Prozent ihrer Unternehmenskredite an Gesellschaften vergeben, die in enger Verbindung zu den Bankeignern standen. Auf diesem Weg seien Milliarden veruntreut worden. Die Bank wurde nationalisiert. Ein Kreditinstitut zu gründen, um Spareinlagen an Firmen der Bankeigner weiterzuleiten: Dies entsprach seit den 1990er Jahren einem im postsowjetischen Raum weit verbreiteten Muster.
Kolomoyskyi war neben Hennadij Boholjubow Gründer und Haupteigner der «PrivatBank».
«Moody’s» hatte bereits im April 2014 vor einem vermutlich besorgniserregend hohen Anteil von Insiderkrediten bei der «PrivatBank» gewarnt – die aber über ausgezeichnete Kontakte verfügte. Der Ende Februar 2014 neu ernannte Finanzminister Alexander Shlapak hatte dort lange Jahre führende Positionen bekleidet. 2015 stellten lettische Behörden fest, die Rigaer Filiale habe eine wichtige Rolle bei dem «Verschwinden» von über einer Mrd. US-Dollar aus Banken der Republik Moldau gespielt. Gleichwohl billigte PricewaterhouseCoopers die von ihr seit 2007 geprüften Bücher des Kreditinstituts.
Von der Nationalisierung bis 2019
Zwischen Dezember 2016 und Mai 2017 musste die Öffentliche Hand die «PrivatBank» mit 4,5 Milliarden US-Dollar rekapitalisieren, etwas später erhöhte sich die Summe auf 5,6 Milliarden US-Dollar. Die Bilanzsumme aller ukrainischen Kreditinstitute betrug 2016 47 Mrd. US-Dollar. Der IWF stellte dem Land zwischen März 2014 und Mai 2017 insgesamt 8,3 Mrd. US-Dollar bereit. Die Stützung der «PrivatBank» durch den ukrainischen Staat entsprach knapp fünf Prozent der Wirtschaftsleistung des Landes. Auf die Schweiz umgerechnet wären dies über 30 Milliarden Franken. Daneben mussten die Käufer von drei Dollar-Anleihen der Bank Verluste tragen.
Boholjubow und Kolomoyskyi sicherten Ende 2016 zwar schriftlich zu, die Insiderkredite bis zum 1. Juli 2017 zu restrukturieren. Aber dafür gab es keine Anzeichen. Den Oligarchen verbundene Unternehmen beschritten vielmehr den Rechtsweg. Kolomoyskyi erklärte, aus politischen Gründen widerrechtlich enteignet worden zu sein, was nicht undenkbar schien: Aus der ursprünglichen Allianz des damaligen Präsidenten Poroschenko mit Kolomoyskyi war im Jahr vor der Nationalisierung eine erbitterte Feindschaft geworden.
Zum Bild: Während die Ukraine neben Moldawien zum ärmsten Land Europas abgesunken ist und grosse Bevölkerungskreise kaum genug zu essen haben, streiten die Oligarchen und der (ebenfalls von Oligarchen beherrschte) Staat um Millionen und Milliarden von US-Dollars. Im Bild: Ein hungernder Mann durchsucht in Ushgorod Müllcontainer nach Essbarem. (Foto Christian Müller).
Ukrainische Stellen schalteten Mitte 2017 die britische Justiz ein. Der Londoner High Court fror daraufhin Vermögenswerte der beiden Oligarchen in Höhe von 2,5 Mrd. US-Dollar ein. Ende 2018 erklärte er jedoch, für den Rechtsstreit nicht zuständig zu sein. Hierauf hatte Kolomoyskyi hingearbeitet. Der Fall sollte ausschliesslich in der Ukraine verhandelt werden, da er sich dort bessere Erfolgschancen ausrechnete.
Seine Anwälte argumentierten, es sei überhaupt kein Schaden entstanden, es gebe keine faulen Insiderkredite: Die ursprünglichen Kreditnehmer hätten die an sie ausgegebenen Gelder an andere Parteien weiterverliehen. Diese wiederum hätten die von der «PrivatBank» bereitgestellten ursprünglichen Darlehen zurückgezahlt, von einem geringen Prozentsatz abgesehen.
Der gesamte Fall war nicht nur sehr verwickelt, sondern nahezu undurchschaubar. Kolomoyskyis zahlreiche Briefkastenfirmen hatten unzählige, vielleicht Millionen kaum nachvollziehbare finanzielle Transaktionen getätigt. So soll allein am 6. Februar 2014 die Firma Ribotto 20,5 Millionen US-Dollar in 68 Transaktionen zwischen 50 verschiedenen Unternehmen transferiert haben.
Die Zentralbank gab zwar an, dass Insiderkredite in Milliardenhöhe ausgereicht worden seien. Sie unterliess jedoch, die Insider zu benennen. Hätte sie hierzu aufgrund der unübersichtlichen Lage überhaupt in der Lage sein können? Oder handelt es sich um ein unverzeihliches Versäumnis?
Da es keine «Insiderliste» gab, erlitt die Nationalbank zahlreiche Niederlagen vor Gericht. So sprach das oberste ukrainische Gericht den Eigentümern des Fussballvereins «Dynamo Kiew» im Juni 2018 fast 40 Millionen US-Dollar zu Lasten der Zentralbank zu. 440 ähnliche Fälle waren zu dieser Zeit noch anhängig.
Zum Bild: Ein aufgebrochener Geldautomat der ukrainischen «PrivatBank»: eine sichere Bank? Und hat es Kriminelle nur ausserhalb der Bankmauern? (Bild Wikipedia)
Mitte 2018 gab die «PrivatBank» an, 85 Prozent ihrer Darlehen seien notleidend, ihre Höhe belaufe sich trotz vorhergehender Abschreibungen auf 7,06 Milliarden US-Dollar. Das sind etwa sechs Prozent des ukrainischen Bruttoinlandsprodukts.
Entwicklungen seit der Präsidentschaftswahl
Für Kolomoyskyi positive Nachrichten schienen sich zu häufen: Am 18. April urteilte das Kiewer Verwaltungsgericht, die Nationalisierung von Ende 2016 sei unrechtmässig. Ein anderes Gericht beschied, die zeitgleiche Selbstverpflichtung der Oligarchen zur Restrukturierung der Insiderkredite sei rechtlich nicht bindend. Daraufhin zogen Kunden der «PrivatBank» innerhalb kürzester Zeit aus Sorge um ihre Guthaben fünf Prozent ihrer Gelder von ihren Konten ab.
PricewaterhouseCoopers hatte den Bilanzen von Kolomoyskyis «PrivatBank» bekanntlich über Jahre hinweg ihr Gütesiegel verliehen. Daraufhin hatte die Zentralbank der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft 2017 die Lizenz zum Audit von Banken entzogen. Am 13. Mai 2019 hob das Kiewer Verwaltungsgericht diese Entscheidung jedoch auf. Dies stärkte die Position der Oligarchen, dass die Bilanz der «PrivatBank» 2016 in Ordnung, die Nationalisierung also politisch motiviert gewesen sei.
Ende Mai bzw. Anfang Juni verpflichteten Gerichte die «PrivatBank», umgerechnet knapp 1,2 Mio. Euro an Kolomoyskyi verbundene Firmen zu zahlen.
Aber auch die Gegner der Oligarchen verstärkten ihren Druck. Das oberste Gericht der Ukraine hob den Beschluss der unteren Instanz auf und erklärte die Nationalisierung der «PrivatBank» für gesetzeskonform. Diese strengte am 21. Mai darüber hinaus in den USA eine Klage an: Die Filiale auf Zypern habe in den zehn Jahren vor der Nationalisierung des Kreditinstituts 470 Milliarden US-Dollar gewaschen. Falls dies der Fall sein sollte, würde es sich um den grössten Fall von Geldwäsche in der Geschichte handeln. Am 14. Juni strengte die Nationalbank eine Klage gegen vier Richter an, die für Kolomoyskyi günstige Entscheide gefällt hatten. Gegner des Oligarchen gehen davon aus, dass sie gekauft wurden.
Kolomoyskyi erklärte am 27. Mai, zu einem «freundschaftlichen Übereinkommen» bereit zu sein. Hierfür forderte er 25 Prozent der Aktien der «PrivatBank» sowie eine Zahlung in Höhe von zwei Mrd. US-Dollar.
Die Aussichten
Weder die früheren «PrivatBank»-Eigentümer oder Manager noch die Verantwortlichen der ukrainischen Aufsichtsbehörden oder Wirtschaftsprüfer wurden bislang strafrechtlich zur Verantwortung gezogen. Daran wird sich aller Voraussicht nach nichts ändern.
Das Oligarchenlager wird vermutlich vielmehr eine ganze Reihe der zahlreichen anhängigen Insiderkredit-Prozesse für sich entscheiden. Dies wird zu Zahlungen von insgesamt bis zu dreistelliger US-Dollar-Millionen-Höhe führen. Zudem dürfte die «PrivatBank» weitere Milliarden-Abschreibungen tätigen müssen, letztlich zu Lasten des Steuerzahlers. Die «PrivatBank» gibt mittlerweile an, von den früheren Eigentümern sogar um 7,6 Milliarden US-Dollar erleichtert worden zu sein.
Eine teilweise Rückübertragung der Bank sowie milliardenschwere «Entschädigungen» für Kolomoyskyi & Co. dürften ausgeschlossen sein: Die Ukraine muss in diesem und den folgenden Jahren beispiellos hohe Kredite aufnehmen. Es handelt sich um Summen zwischen 12 und 15 Milliarden US-Dollar jährlich. Der IWF hat unmissverständlich deutlich gemacht, den Geldhahn im Falle eines Sieges der Oligarchen zuzudrehen.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine. Der Autor ist seit 2005 als Publizist tätig. Schwerpunkte sind die aktuelle russische Aussenpolitik, die deutsch/europäisch-russischen Energiebeziehungen und die russisch-chinesischen Beziehungen. Von 2001 bis 2004 hatte Christian Wipperfürth als Assistant Professor für Internationale Beziehungen an der Universität St. Petersburg/Russland gearbeitet. Er ist Mitglied der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik und der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde.Zu seinem Blog.