Fluechtlinge_Mittelmeer

Flüchtlinge auf gekentertem Boot im Mittelmeer © Die Presse

Die «Schuld» der EU am Massensterben im Mittelmeer

Christian Müller /  Am Tod von Tausenden von Flüchtlingen sei die EU schuld, kommentierten fast alle Medien. Falsch, sagt Robert Menasse.

Es sind ein paar Wochen her. Im Mittelmeer ertranken Tausende von Flüchtlingen und Arbeitsmigranten, weil ihre Boote kenterten. Niemand war da, um zu retten, und niemand fühlte sich verantwortlich. Die Medien schrien auf. Das sei inakzeptabel, sagten sie, die EU müsse endlich ihre Verantwortung wahrnehmen und handeln!

Das allerdings wollte und konnte Robert Menasse, der vielgelesene Romancier und Essayist, Kämpfer für ein geeintes Europa und Max-Frisch-Preisträger der Stadt Zürich 2014, nicht länger hören und lesen. Vor einem Monat veröffentlichte er in der Wiener Tageszeitung «Die Presse» einen Appell, der unter die Haut ging:

«Wir wissen seit Langem, was sich an menschlichem Leid, Elend und Verzweiflung an den Außengrenzen Schengen-Europas abspielt, vor allem im Mittelmeer, wo wir angesichts der vielen hundert oder gar tausend Toten gar nicht mehr anders können, als von Massenmord zu sprechen – Mord, der dadurch begangen wird, dass das Sterben akzeptiert und einkalkuliert wird.

Endlich wird dieses Verbrechen zum Politikum, ‹Betroffenheit› auch zur Pflicht der politisch Verantwortlichen, und die Diskussion erfasst auch jene, die geglaubt hatten, durch Wegschauen Ruhe als oberste Bürgerpflicht gewährleisten zu können. Jedes denkende Gemüt kann nur Entsetzen und Mitleid empfinden – und Wut.»

Es sind die Nationalstaaten, die blockieren

Robert Menasse weiter: «Aber die größte Wut bekomme ich wegen der Berichterstattung über diese humanitären Katastrophen und über die oftmals verrückten, völlig irregeleiteten Proteste dagegen: Immer wieder heißt es, dass es ein Skandal sei, wie die EU hier agiere… wie zynisch und menschenverachtend sich die EU abschotte… wie verantwortungslos das reiche Europa sich zur Festung ausbaue… Und unausgesetzt wird zum Protest gegen die EU aufgerufen, gegen die eurokratischen Zyniker, die von Menschenrechten reden und an ihren Grenzen Menschen verrecken lassen…
Die ‹Süddeutsche Zeitung› verstieg sich sogar zu der Forderung, die EU solle den Friedensnobelpreis zurückgeben – ach ja, die böse EU!!! Ich will endlich die Wahrheit hören und lesen: dass «die EU», dass die europäischen Institutionen in Wahrheit schuldlos sind, weil die EU nur regeln und politisch entscheiden kann, wofür ihr die Mitgliedstaaten die Kompetenz einräumen. Und in Fragen der Asyl- und Migrationspolitik hat die EU keine Kompetenzen, weil die Nationalstaaten ihr keine geben wollen.»

Menasse hat recht!

Mittlerweile ist der Flüchtlingsstrom über das Mittelmeer Richtung Norden in Brüssel tatsächlich ein Thema. Das Problem der Flüchtlinge könne nicht einfach den Mittelmeer-Anrainerstaaten überlassen werden, es müssten sich alle EU-Mitglieder beteiligen und Flüchtlinge aufnehmen, ist in der EU-Kommission Konsens.

Und wie sind die Reaktionen? London bzw. das Vereinigte Königreich (UK) erklärte schon fast Minuten später, dass man nicht bereit sei, da mitzumachen. Und zwischenzeitlich haben auch Frankreich und einige osteuropäische Staaten abgewinkt.

Robert Menasse hat recht: Wo immer ein Problem auftaucht, wird die Schuld bald einmal «Brüssel» zugeschoben. In Wirklichkeit aber sind es die einzelnen Mitglied-Länder, die blockieren. Sie weigern sich, in dieser Frage Brüssel Kompetenzen abzugeben – aus Eigeninteresse, aus Egoismus. Und aus Opportunismus der Politiker. Sie werden zu Hause eher wiedergewählt, wenn sie in Brüssel Nein sagen, als wenn sie für eine gemeinsame, gerechtere Lösung eintreten.

Robert Menasse, seinen Appell abschliessend: «Die Kompetenz für Asyl- und Migrationspolitik (wie vieles andere auch) und die Verantwortung für europäische Gesetze muss den Nationalstaaten entzogen und der Europäischen Kommission und dem Parlament übertragen werden. Daran wird kein Weg vorbeiführen, nicht auf dem Land- und nicht auf dem Seeweg.»


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine

Zum Infosperber-Dossier:

Grenzenlos

Wo Grenzen töten

Weltweit kommt es zu Tausenden von Toten, weil anderswo Geborene als Fremde abgewiesen werden.

War dieser Artikel nützlich?
Ja:
Nein:


Infosperber gibt es nur dank unbezahlter Arbeit und Spenden.
Spenden kann man bei den Steuern in Abzug bringen.

Direkt mit Twint oder Bank-App



Spenden


Die Redaktion schliesst den Meinungsaustausch automatisch nach drei Tagen oder hat ihn für diesen Artikel gar nicht ermöglicht.

8 Meinungen

  • am 21.05.2015 um 10:01 Uhr
    Permalink

    Bei allem Respekt aber mit Verlaub: Dass an der Uneinigkeit der EU der gerade wieder einmal Urständ feiernde Nationalismus schuld und die EU immer und überall der Sündenbock für alles ist, ist trivial.
    Weniger trivial und mindestens ebenso bedenklich finde ich die Tatsache, dass uns das unglaubliche Flüchtlingselend derart lange auf Trab halten soll, dass wir vom Tun der globalen Finanz(macht)oligarchen, global operierenden Grosskonzernen und Privatpersonen, von Undingen wie TTIP abgelenkt werden, mit welchen sie ihre globale plutokratische Oligolibidolobbykratie weiter zementieren möchten.
    Wir müssen die EU stärken, auch weil grosse Staatenbünde die einzigen Organe sind, welche sie vielleicht wieder einmal regulieren und unsere freiheitlichen Demokratien retten können.

  • am 21.05.2015 um 12:18 Uhr
    Permalink

    Jeder, der schweigend zuschaut, ist am Unglück der Ertrinkenden beteiligt. Es ist müssig, es der EU oder einzelnen Staaten ztuzuschieben.
    Was ich bei Herrn Menasse vermisse: Er blendet komplett aus, wie es überhaupt dazu kommt, dass Afrikaner ihr Land verlassen.
    Wer ist es, der Grund und Boden und seine Wurzeln verlässt? Es sind die, deren Länder in grausames Chaos gestürzt worden sind. Und wer hat die Menschen dieser Länder in Not und Verzweiflung getrieben?
    Klar doch, die Staaten mit ihren Kriegen – das ist die erste Antwort.
    Die zweite Antwort aber ist eine Frage: Welches europäische Land ist aufgestanden und hat interveniert? Wer hat interveniert bei Lybien? Wer beim Irak? Wer bei Syrien? Nicht zu reden vom seit 100 Jahren dauernden Genozid an den Palästinensern.
    Dass tausende nun ertrinken, das ist schrecklich.
    Dass Hunderttausende schon massakriert worden sind – oft mit schöner Hilfe braver Europäer, das ist Nebensache.
    Die Empörung der Chorsänger (TV komplett, FAZ SD NZZ TA Spiegel Bild Blick usw.) ist Ablenkung vom eigentlichen Problem.

  • am 21.05.2015 um 12:43 Uhr
    Permalink

    Robert Menasse mag recht haben, aber seine Kritik zielt an der Lösung vorbei. Die EU ist gar nicht in der Lage und auch nicht Willens, aufgrund der heutigen Strukturen und des gegenwärtigen Integrationsstandes, das Problem zu lösen! Da bräuchte es nuicht nur eine Europäische Union, da bräuchte es echte «Vereinigte Staaten von Europa» wie dies Winston Chruchill damals 1946 vor Augen hatte, als Europa in den Trümmern lag. All die verschiedenen EU-Ländern sind doch gar nicht bereit, ihre Souveränität abzugeben!
    Und darin liegt doch der Trugschluss eines «Gemeinsamen Hauses Europa». Man kann natürlich zuversichtlich sein und darauf hinarbeiten, aber dies dürfte noch Jahrzehnte dauern, wenn überhaupt. Leider wird dies auch Robert Menasse nicht mehr erleben, obwohl ich auch ihm ein langes Leben wünsche!

  • am 21.05.2015 um 13:40 Uhr
    Permalink

    Guten Tag, Herr Düggelin
    Sie bezeichnen das «Haus Europa» von Sir Winston Churchill implizit als erstrebenswert?
    Dieser Mann war federführend für das Massaker von Hamburg, Dresden und so weiter. Nachzusehen zum Beispiel hier:

    XXX

    Er fand es ganz in Ordnung, dass Herr Eisenhower NACH Waffenstillstand über eine Million Deutsche umbringen liess. Er fand es ganz in Ordnung, dass hunderttausende Deutsche für falsche Geständnisse gefoltert wurden. Er fand es ganz in Ordnung, dass Russland Millionen Deutscher in Sibirien vegetieren liess.
    Ich würde verzichten wollen, in Herrn Winston Churchills Haus zu wohnen.

    XXX Anmerkung von Christian Müller:
    Der von Thomas Ramdas Voegeli empfohlene Film ist reine Nazi-Verherrlichung. Infosperber ist nicht bereit, Nazi-Propaganda zu verbreiten helfen. Wir haben uns deshalb erlaubt, den Link zu löschen.

  • am 21.05.2015 um 15:40 Uhr
    Permalink

    @Thomas Voegeli: Wenn ich Churchill zitiere glaube ich, auf der sicheren Seite zu liegen, obwohl auch bei ihm galt: «nobody is perfect». Es steht auch in der Bibel: «Wer unschuldig ist, werfe den ersten Stein!»
    Überdies sprach ich ja von der Idee Churchills, was nicht unbedingt heisst, dass ich an dieses sehr ambitiöse Projekt glaube, ich fühle mich also von Ihren Gedanken, welche einer Anschuldigung gleichkommen, überhaupt nicht betroffen! Trotzdem, der Gedanke Churchills war einleuchtend, als ganz Europa, mit Ausnahme der Schweiz, in Trümmern lag.

  • am 21.05.2015 um 16:36 Uhr
    Permalink

    An Herrn Christian Müller.
    So Sie sich den Film angesehen haben sollten, müssten Sie wissen, dass mit keiner einzigen Silbe, mit keinem einzigen Bild der Nationalsozialismus verherrlicht wird. Der Film zeigt einzig allein, was AUCH noch geschehen ist, was von der offiziellen Geschichtsschreibung, welche Sie und ich genossen, VERSCHWIEGEN wird.
    Infosperber scheint wenig Wert auf Wahrheit zu legen. Einmal mehr lasse ich mich ent-täuschen.
    Infosperber. Der Titel ist irreführend.
    Allerseits guten Tag wünsche ich.

    Sehr geehrter Herr Voegeli
    Ich habe sechs Jahre meines Lebens ins Studium der Geschichte investiert, aufgrund von Originaldokumenten, darunter auch viele handschriftliche, eine Dissertation geschrieben und promoviert. Ich weiss mit geschichtlichen Dokumenten umzugehen. Was Thomas Goodrich erzählt, ist historisch nicht haltbar, und das von Ihnen verlinkte Video verherrlicht Hitler und die Nationalsozialisten in unerträglicher Form. Wenn Sie solche Videos verlinken wollen, dann tun Sie das auf Plattformen, die dafür geeignet sind; es gibt solche.
    Und: Niemand zwingt Sie, Infosperber zu lesen.Wir publizieren nach bestem Wissen und Gewissen. Das ist unsere Haltung.
    Mit freundlichem Gruss
    Christian Müller

  • am 30.05.2015 um 23:09 Uhr
    Permalink

    Robert Menasse hat nur teilweise recht.
    Wenn es «Vereinigte Staaten von Europa» gäbe, dann, wäre dies einfach ein neuer, viel grösserer Nationalstaat. Der würde in Flüchtlingsfragen wohl ähnlich handeln, wie es die einzelnen Mitgliedsstaaten heute tun. Die Vereinigten Staaten von Amerika sind in Flüchtlingsfragen ja auch nicht grosszügiger.
    Dass «Brüssel» grosszügigeres Handeln als die einzelnen Nationalstaaten fordert, hat viel damit zu tun, dass «Brüssel» genau weiss, dass seine Vorschläge wenig Chance auf Realisierung haben. Weiter hat es damit zu tun, dass die entsprechenden Akteure in Brüssel sich nicht direkt wählen lassen müssen.
    Das unselige Schwarzpeterspiel darum, wer schuld sei am Drama im Mittelmeer, ist wohl auch Ausdruck davon, dass niemand einen wirklich praktikablen Lösungsvorschlag auf Lager hat. Keine demokratisch gewählte Regierung könnte sich die Einrichtung einer sicheren Flugverbindung direkt aus den Herkunftsländern nach Europa leisten. Sie würde bei nächster Gelegenheit weggefegt. Diktatoren kommen von sich aus gar nicht auf solche Ideen.
    Sehr zynisch finde ich jedoch, wenn man an der Grenze mauert, gleichzeitig aber beide Augen zudrückt, wenn die eigene Industrie (z.B. Landwirtschaft in Süditalien) in grossem Stile illegal arbeitende Migranten ausbeutet.

  • am 1.06.2015 um 01:43 Uhr
    Permalink

    Und wenn die EU doch Schuld daran wäre ?
    Ist es nicht so dass diese horrend grosse Anzahl Migranten aus Afrika (2014 waren es – offiziell erfasst – mehr als 170’000, 2015 werden es bestimmt über 200’000 werden), erst in den letzten Jahrzehnte sich über den Seeweg Richtung Europa in Bewegung gesetzt haben ?
    Afrika ist doch seit mehr als 50 Jahre ein „Problem Kontinent“ nicht erst seit „Heute“, also haben diese gewaltige Menschen Ströme andere Beweggründe.
    Nur Kriege sind es nicht, die gab es schon immer, nein es sind die attraktive Bedingungen die diese Menschen bei uns vorfinden die sie auf die Reise treiben.
    Wir können uns als „Verursacher des Problems“ bezeichnen. Auch Tote sind leider „unsere Schuld“ weil wir diese Menschen mit unsere grosszügige Sozialsysteme anziehen. Sie haben unsere Schwierigkeiten beim unterscheiden zwischen „berechtigte und unberechtigte“ entdeckt, und Klevere Unternehmer (Schlepper), nutzen dies schamlos aus.

    Wir haben ein grosses Problem und stecken damit tief in ein unlösbares Dilemma !

Comments are closed.

Ihre Meinung

Lade Eingabefeld...