China packt seine Waffen aus
Westliche Medien waren mit ihrem Urteil über die grosse Militärparade auf der Strasse des Ewigen Friedens Chang’an schnell zur Hand: «Machtdemonstration», «militärische Muskelspiele» – so oder ähnlich tönten die meisten Kommentare und Schlagzeilen. Ein Schweizer Kommentator ging kühn noch ein Schrittchen weiter: «Peking protzt mit Militärparade». Ein Radio-Korrespondent berichtete aus Peking, China präsentiere sich «als Friedensstifter» und fügte mit Verweis auf die ungelösten Territorial-Konflikte mit Vietnam, den Philippinen und mit Japan hinzu: «Die Tatsachen sprechen eine andere Sprache». China als Bedrohung also.
Die Wahrheit in den Tatsachen suchen
Sucht man allerdings – gemäss Diktum des grossen Reformers und Revolutionärs Deng Xiaoping – «die Wahrheit in den Tatsachen», sieht es historisch doch ein wenig anders aus. Gewiss, die aktuellen Konflikte um Riffe und Felseninseln im Süd- und Ostchinesischen Meer sind nicht ohne Brisanz. Doch Vietnam und Japan treten nicht weniger fordernd und aggressiv auf als China. Es geht vor allem um steinige Territorien, Nationalismus und Bodenschätze.
Das Reich der Mitte war in den letzten 250 Jahren seit Beginn der industriellen Revolution in England Opfer der westlichen Kolonialisten und Imperialisten – Japan eingeschlossen – und kaum Aggressor. Im Koreakrieg griff die Volksbefreiungsarmee 1950 mit Freiwilligen ins Kampfgeschehen ein, als UNO-Truppen unter der Führung der USA bis an den Yalu-Fluss, also die Grenze zu China, vorstiessen. Danach führte China 1969 einen kurzen Grenzkrieg mit der Sowjetunion am Ussuri und 1979 eine «Straf»-Expedition gegen Vietnam. Deng Xiaoping wollte Vietnam «eine Lektion» erteilen für den Einfall in Kambodscha und die Verdrängung der Khmer Rouges von der Macht. Summa summarum: In der neuesten und neueren Geschichte ist China im Vergleich mit dem Hegemonen des 19. Jahrhunderts – Grossbritannien – und jenem des 20. Jahrhunderts – den USA – vergleichsweise friedlich.
China will Armee verkleinern
Staats-, Partei- und Militärchef Xi Jinping zeigte sich in seiner Rede friedfertig: «Wir werden nie Hegemonie suchen und werden den Frieden für das Land und die Welt schützen», rief Xi den 12‘000 für die Parade bereitstehenden Männern und Frauen der Volksbefreiungsarmee und Zehntausenden Zuschauern zu. Unter den Staatsgästen waren UNO-Generalsekretär Ban Ki-moon, Russlands Präsident Putin sowie Südkoreas Präsidentin Park Geun-hye. Andere grosse Staatsführer fehlten aber. Als einziger europäischer Spitzenpolitiker nahm Tschechiens Präsident Milos Zeman an der Parade teil. Deutschland und die USA waren nur durch ihre Botschafter vertreten.
Xi kündigte in seiner Rede an, dass China die Zahl seiner rund 2,3 Millionen Soldaten um 300’000 verringern werde. Dies ist ein Schritt im Rahmen der recht schwierigen Wirtschaftsreform. Dabei soll auch eine moderne, schlagkräftige Armee, Marine und Luftwaffe entstehen. Kritiker im Westen weisen auf das stetig wachsende Budget der Streitkräfte hin. Doch mit 130 Milliarden Dollar pro Jahr liegt China immer noch weit hinter dem US-Verteidigungsbudget von 585 Milliarden zurück. Und mit Verlaub: Hätte die aufstrebende Wirtschafts-Grossmacht China an ihrer Bauernarmee mit über vier Millionen Mann und Frau festhalten sollen? Bereits vor 30 Jahren reduzierte Deng Xiaoping die Volksbefreiungsarmee um eine ganze Million Soldaten. Xi Jinpings Vorvorgänger Jiang Zemin – bei der Parade rüstig an der Seite von Xi – reduzierte nochmals um eine halbe Million und Xis Vorgänger Hu Jintao noch einmal um 200‘000.
«Wir dienen dem Volke!»
«Genossen zum Gruss!» – mit diesen Worten nahm Militärchef Xi Jinping in einer Limousine der heimischen Luxusmarke «Hongqi» (Rote Fahne) stehend die Ehrenformationen der Truppenteile ab. «Sei gegrüsst, Vorsitzender!» gaben die Soldaten und Soldatinnen zackig zurück. Xi darauf: «Genossen, ihr habt hart gearbeitet!». Hundertfach schallte es zurück: «Wir dienen dem Volke!!». Mit eurozentristischem Blick fällt es natürlich leicht, einen solchen Lautsprecher-Dialog ins Lächerliche zu ziehen. Eingebettet in den für China massgeblichen konfuzianischen, sino-marxistischen und maoistischen Hintergrund ergibt sich jedoch ein ganz anderer, glaubwürdiger Sinn.
Den Militärbeobachtern aus Ost und West jedenfalls gingen bei der Parade die Augen über. So viel Neues haben sie schon lange nicht mehr gesehen. 500 gepanzerte Fahrzeuge, 200 Flugzeuge, Drohnen, neueste Raketensysteme, darunter die Rakete «Ostwind 21», unter Experten auch als Flugzeugträger-Killer bekannt. «Machtdemonstration» eben. Dazu in Perfektion paradierende Soldaten und Soldatinnen. Besser als in Nordkorea oder am Tatoo in Edinburgh…
Beziehung zu Japan bleibt getrübt
Als Gegengewicht zu China sind freilich die USA in Asien willkommen, zumal in Vietnam, Singapur, den Philippinen und natürlich auf der «abtrünnigen» Provinz-Insel Taiwan. Doch China misstraut nicht ganz ohne Grund dem engsten US-Verbündeten Japan. Japan hat im Krieg unsägliches Leid über China gebracht und sich dafür nie richtig entschuldigt. Japans Premierminister Shinzo Abe hat zum 70. Jahrestag der Kapitulation Japans lediglich die von Vorgängern formulierten lauwarmen Entschuldigungen wiederholt, nicht aber eine eigene hinzugefügt. Zu Recht hat man in China dieses Verhalten als verschwommen und ausweichend kritisiert. Anlässlich der Parade in Peking hätte Shinzo Abe jetzt Gelegenheit gehabt für eine historische Geste. Doch die Einladung hat er abgelehnt.
Seit über zwei Jahren betreibt Abe eine nationalistisch geprägte Reform der pazifistischen Nachkriegsordnung. Kein Wunder, denn der rehabilitierte Kriegsverbrecher und ehemalige Premierminister Nobusuke Kishi ist Abes Grossvater und Vorbild. Abe will nun für Japan bei internationalen Sicherheitsfragen gemeinsam mit dem amerikanischen Bündnispartner eine militärische Führungsrolle spielen unter dem Motto «proaktiver Pazifismus». Japan hat mit den «Selbstverteidigungskäften» mittlerweile eine der modernsten Armeen der Welt mit einem Etat von über 40 Milliarden Dollar.
Alles unter Kontrolle – sogar das Wetter
Die grosse Pekinger Militärparade ist natürlich auch ein Signal nach Innen. Die Botschaft: Wir haben alles unter Kontrolle. Bei den derzeitigen wirtschaftlichen Turbulenzen und an einem wichtigen Reform-Wendepunkt angelangt, will Staats- und Parteichef Xi der «Wiederbelebung der grossen chinesischen Nation» zum Durchbruch verhelfen. Weil viele Interessen von Partei, Regierung und Staatsbetrieben im Spiel sind, ist das schwieriger als erwartet. Doch Xi und das Politbüro scheinen zuversichtlich. Das jedenfalls vermittelte das Bild auf der Ehrentribüne am Tor des Himmlischen Friedens, wo Xi, das Politbüro und die ehemaligen Staats- und Parteichefs Jiang Zemin und Hu Jintao zusammen stolz die Parade abnahmen.
Unter fester Kontrolle der Partei jedenfalls war das Wetter. Wochen zuvor wurden Fabriken entweder stillgelegt oder deren Produktion heruntergefahren. Pro Tag durfte nur noch die Hälfte der Autos fahren. Zur Parade schwebte deshalb kaum Feinstaub in der Luft. Eine Seltenheit. Auch das Volk war zufrieden. Millionen folgten dem Aufruf, zu Hause zu bleiben und die Parade am Bildschirm zu verfolgen. Die meisten Chinesinnen und Chinesen sind heute – bei aller Kritik, die sie auch anbringen – dankbar und waren an diesem Gedenktag tatsächlich stolz auf ihr Land. Damit muss sich der Rest der Welt abfinden. Die Parade war nicht, wie ein amerikanischer Kommentator überheblich meinte, eine «Nebelwand» und ein «Manöver», um von wirtschaftlichen Schwierigkeiten und der Chemie-Katastrophe von Tianjing abzulenken.
Ein kleiner Widerspruch
Der anti-japanische Reflex ist selbst bei der jungen Generation präsent. Das mag mit der patriotischen, teilweise fast chauvinistischen Propaganda der chinesischen Staatsmedien zusammenhängen. Aber nicht nur. Denn Japan versucht, die eigene Geschichte ständig zu revidieren, die Grausamkeiten zu kaschieren oder gar zu verleugnen und sich aus der Verantwortung zu stehlen. Chinesische Kommentatoren loben denn nicht von ungefähr Deutschlands Verhalten nach dem Zweiten Weltkrieg.
Einen kleinen Widerspruch allerdings gibt es. Peking erteilt Japan zu Recht Geschichts-Lektionen. Allerdings ist auch China mit seiner jüngeren Geschichte noch lange nicht im Reinen. Das trifft auf Tiananmen 1989 zu oder auf die «Grosse Proletarische Kulturrevolution» 1966–76, aber noch viel mehr auf den «Grossen Sprung nach Vorn» 1958–61. Maos Utopie löste eine verheerende Hungersnot aus, schätzungsweise 25 bis 40 Millionen Menschen kamen damals ums Leben. Mehr als während des 14-jährigen Aggressionskriegs der japanischen Faschisten gegen China.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine. Peter Achten arbeitet seit Jahrzehnten als Journalist in China.