Bombenkrieg gegen Kurden und Jesiden
Die jüngste Operation der türkischen Armee im Nordirak unter dem phantasievollen Namen «Adlerkralle» begann mitternachts am 15. Juni 2020: Dutzende Kampfjets F-16 und unbemannte Drohnen starteten in Diyarbakir, der heimlichen Hauptstadt der Kurden in der Türkei, und bombardierten im benachbarten Nordirak flächendeckend ein Gebiet, das von der syrischen Grenze im Westen bis hin zum Iran im Osten reicht. Es handelte sich um die grösste Operation der Türkei im Nachbarland seit 2015. Zeitgleich übermittelte das türkische Verteidigungsministerium medienwirksam Bilder vom Verteidigungsminister Hulusi Akar, der vor einem Bildschirm die Operation beobachtete und ähnlich wie ein Fussballfan bei einem Tor seiner Mannschaft bei jeder Explosion die Arme in die Luft hob und laut jubelte. «Adlerkralle» und die Bodenoffensive türkischer Sonderkommandos, welche zwei Tage später unter dem ebenso geistreichen Namen «Tigerkralle» eingesetzt hatte, waren Chefsache, so lautete die Botschaft an die türkische Öffentlichkeit.
Das Flüchtlingslager Mahmur
Beide Offensiven gelten offiziellen Angaben aus Ankara zufolge dem schonungslosen Kampf gegen die «Terroristen der kurdischen Arbeiterpartei (PKK), die unser Land, unsere Menschen, unsere Polizeistationen und Militärstützpunkte angreifen». Die türkische Armee würde im Nordirak auch diesmal «ein goldenes Kapitel ihrer Geschichte schreiben», versprach Verteidigungsminister Akar.
Der Einmarsch türkischer Soldaten im Nordirak auf der Jagd nach PKK-Rebellen ist eigentlich nichts Neues. Seitdem die PKK Anfang der 1990er Jahre in den unwirtlichen Gebirgsketten des kurdischen Nordiraks ihr Hauptquartier sowie ihre Lager untergebracht hat, führt die Türkei regelmässig Boden- und Luftoffensiven im Nachbarland durch. Neu hingegen ist Ankaras jüngstes Strategiedogma, das jeden zur «legitimen Zielscheibe» der türkischen Kriegsführung erklärt, dem vermeintliche Nähe zur PKK auch nur ansatzweise zugeschrieben wird. Es handelt sich also um Kollektivstrafe, was allerdings gegen internationales Menschenrecht verstösst. Für die Betroffenen kommt es einem Alptraum gleich.
Die türkischen Kampfjets hätten das Flüchtlingslager Mahmur 00.10 Uhr erreicht, erklärte dessen Bürgermeister Bedran Pirani der kurdischen Nachrichtenagentur Rudaw. Eine volle Stunde lang donnerten sie so niedrig über das Lager, dass Fensterscheiben zerbarsten und «Kinder aus reiner Panik in Ohnmacht fielen». Der materielle Schaden in der Umgebung des Lagers sei enorm.
Das Flüchtlingslager Mahmur wurde 1998 gegründet und zählt rund 12.000 Einwohner. Die Mehrheit von ihnen stammt aus dem Gebiet Cizre im Südosten der Türkei, aus dem sie 1991 von der türkischen Armee als vermeintliche PKK-Anhänger vertrieben worden waren. Sie flohen damals in den Nordirak. Ankara wirft Mahmur vor, als Reservoir für künftige PKK-Rebellen zu dienen. Mahmur steht offiziell unter dem Schutz der UNHCR. Dennoch gab es nicht mal einen formellen Protest seitens der UNO. «Wie ist es möglich», fragte sich Bürgermeister Bedran Pirani.
Christen und Jesiden
Von einer «unerträglich lähmenden Angst» sprach auch die Lehrerin Faiza Rahim aus Bersife, wo rund 300 christliche Familien leben. Die türkische Luftwaffe bombardierte Bersife laut Faiza Rahim am 20. Juni kurz vor Mitternacht. «Dann hörten wir einen ungeheuerlich lauten Knall. Als ich nach draussen kam, sah ich hohe Flammen keine zwei Kilometer von unserem Haus entfernt», erzählte sie der Agentur Rudaw. «Kinder, Frauen, Männer und alte Menschen waren in Panik geraten. Niemand traute sich mehr aus dem Haus». Sollten die Angaben der kurdischen Agentur Rudaw stimmen, haben die Bewohner von mindestens acht christlichen Dörfern ab Mitte Juni das Gebiet Kani Masi direkt am Grenzgebiet zur Türkei aus purer Angst verlassen. Ankara beschuldigt die Christen freilich nicht der Nähe zur PKK. Dass dieses Gebiet der PKK-Guerilla als Transitroute dient, ist der heutigen türkischen Führung Grund genug für seine anhaltenden Bombardements. Entlang dieses Gebiets wird seit Jahren die berüchtigte «türkische Wunderwaffe», die unbemannte Killerdrohne Bayraktar TB2, massiv und manchmal zu Übungszwecken wahllos eingesetzt.
Auch weit entfernt vom umkämpften türkisch-irakischen Grenzgebiet, in Schindschar direkt an der Grenze zu Syrien, flog die türkische Luftwaffe in der Nacht auf dem 16. Juni gegen angebliche «PKK-Terroristen». Sie würden Schindschar als Korridor für ihre Bewegungen zwischen dem Nordirak und Syrien benützen, führte die regierungstreue türkische Presse aus. In ihrer Berichterstattung ist seit dem ersten Einmarsch der türkischen Armee in Nordsyrien 2018 viel von detaillierten strategischen Plänen, von Militärkorridoren und dem Erdboden gleichgemachten, zerstörten Terrorhöhlen die Rede. Nur Menschen kommen darin nicht vor. Die Bombardements hätten «vor allem unter den 7000 Bewohnern des Flüchtlingslagers Sardashte ungeheuerliche Angstzustände ausgelöst», gab der Direktor der weltweiten Jesideni-Organisation Yazda dem Internetportal Al-Monitor an. Dabei würden «die meisten von ihnen ohnehin am Posttrauma des Genozids leiden».
Die Jesiden machten erstmals im August 2014 weltweit Schlagzeilen, als der Islamische Staat (IS) in Schidschar einfiel. Dass die Dschihadisten gleich Hunderte von Männern ermordeten und Tausende von jesidischen Frauen zu Sexsklavinnen machten, erschütterte damals die Weltöffentlichkeit. Jesiden sind Anhänger einer alten dualistischen Religion der iranischen Hochebene, die den Kampf zwischen Gut und Böse, zwischen dem Gottesengel und dem Satan, als noch unentschieden betrachten und sich deshalb weigern, das Wort «Satan» in den Mund zu nehmen. Von orthodoxen Islamisten werden sie als Teufelsanbeter verunglimpft und als Ungläubige brutal verfolgt. Wer im August 2014 fliehen konnte, suchte den Weg ins Gebirge. «Dort schützten zunächst zwölf Kämpfer der PKK-Guerilla den Eingang zum Gebirge Schindschar und verhinderten das Eindringen der Dschihadisten», schrieb in einem offenen Brief der PKK-Kommandant Murat Karayilan nach den letzten türkischen Bombardements auf Schidschar. Aus den Bergen an der türkisch-irakischen Grenze in Nordkurdistan (dem kurdischen Siedlungsgebiet der Türkei) und aus Rojava (Nordostsyrien) eilten drei Tage später weitere Guerillakämpfer und Kämpferinnen mit schweren Waffen herbei. «Wir haben 150.000 Menschen über einen freigekämpften Korridor nach Rojava geführt». Die Jesiden selber nennen die Ereignisse vom August 2014 einen Genozid. Denn sie haben ihre Gesellschaft so nachhaltig wie ein Genozid gezeichnet.
«Meine Heimat ist wieder zu einer Kriegszone verwandelt», empörte sich Nadja Murad einen Tag nach Beginn der Operation «Adlerkralle». Ihren Angaben zufolge waren gerade 150 jesidische Familien dabei, in ihre Häuser in Schidschar zurückzukehren. Nur wenige trauten sich nach August 2014 zurückzukehren. Die türkischen Bombardements hätten den Jesiden klar vor Augen geführt, dass Frieden für sie ein fernes Ziel sei, meinte Pari Ibrahim, Gründerin der «Free Yezidi Foundation», gegenüber der Agentur Kurdistan 24 desillusioniert. Die Bombardements seien eine grobe Verletzung des internationalen Rechts und ein destabilisierender Akt mit ungeahnten Folgen für die Kultur der Jesiden: «Es gibt keine Rechtfertigung für diese ungeheuerliche Tat».
Pari Ibrahim und Nadja Murad, die 2014 als 16-Jährige in den Sexbazaren der Dschihadisten herumgereicht und nach ihrer Befreiung zu einer Aktivistin ihres Volkes wurde, wissen allzu gut, dass es diesmal um die Frage geht, ob die einzigartige Kultur der Jesiden in deren Urheimat auf Schidschar überhaupt überleben kann. Bis zu 300.000 Mitgliedern zählte die jesidische Minderheit des Iraks bis Mitte der 1990er Jahren. Mittlerweile ist die überwiegende Mehrheit von ihnen entweder auf der Flucht oder lebt im Exil in Westeuropa. Nun hindern die Bombardements der türkischen Luftwaffe die wenigen, die in der Region blieben, an eine Rückkehr. Wann werde die irakische Regierung oder die internationale Gemeinschaft endlich «ein wenig Mut fassen und den politischen Willen aufbringen, um die Sicherheitsfragen in Schidschar zu lösen», twitterte sie, verzweifelt.
Ungelöste Kurdenfrage der Türkei
Das Vorgehen der heutigen Türkei in ihrer unmittelbaren Umgebung und im östlichen Mittelmeer bezeichnet der Politologe Henri J. Barkey als «schamlos aggressiv». Die türkische Führung fühle sich frei so zu handeln, weil «in unseren Zeiten die internationale Gemeinschaft einfach abwesend sei», sagte er dem türkischen Internet-Portal «Ahval». Seitdem Trump die US-Truppen aus Syrien abgezogen habe, hätten die USA jede Macht, auf den Nahen Osten Einfluss zu nehmen, verloren. Keiner der regionalen Akteure kümmere sich wirklich darum, was Washington zu ihrem Handeln meine. Dank der ungewöhnlichen Beziehung zwischen Trump und Erdogan übersetze Ankara alles, was «Trump sagt als grünes Licht für das Vorgehen Erdogans», so der Professor an der LeHigh University. Auch Europa sei als Akteur faktisch abwesend. Deutschland, Frankreich und Italien hätten die Konfliktparteien in Libyen zwar zu einer politischen Lösung aufgerufen, wären aber für kraftvollere Aktionen nicht bereit. So präsentiere Erdogan die Türkei als die einzige Militärmacht, die fähig ist, ihre unmittelbare Umgebung, die (griechische) Ägäis und den Grossteil des Mittelmeers sowie des Schwarzen Meers zu dominieren. Der Unwille Washingtons und Europas, Erdogans Plänen entgegenzutreten, «nährt nur sein Gefühl, unschlagbar zu sein».
Spätestens seit Beginn der 1990er Jahre führt die Türkei Militäroffensiven gegen die «Terroristen» der PKK im Nordirak und in Syrien, verletzt dabei die Souveränitätsrechte ihrer Nachbarländer und zerstört die Lebensgrundlage von Abertausenden Zivilisten – bislang allerdings ohne Erfolg. Das Problem der Türkei ist nämlich nicht die «Terrorgruppe der PKK», sondern in erster Linie ihre ungelöste Kurdenfrage. Die Tatsache also, dass über 15 Millionen Kurden auch im 21. Jahrhundert in den Schulen ihrer Heimat ihre Muttersprache nicht lernen dürfen, dass ihre Führung willkürlich hinter Gitter gerät und ihre politische Bewegung von Ankara kriminalisiert wird.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
Es ist eine Schande, dass die europäischen Staaten, allen voran die deutsche Regierung, diese unsäglichen Verletzungen der Menschenrechte mehr oder weniger hinnimmt und im ÖR Fernsehen einfach verschweigt. Gerade in einem Land, in dem Millionen türkische Staatsangehörige, bzw. mit türkischen Migrationshintergrund mit mittlerweile deutschem Pass leben. Wo bleibt der Aufschrei in Westeuropa angesichts diesen Aggressionen von Seiten der türkischen Staatsmacht?