Bolivien: Warum Lateinamerikas Linke immer wieder scheitert
Im vergangenen Oktober platzte die Illusion von einer beispielhaften Herrschaft des Aymara-Indigenen Evo Morales in Bolivien. Nach wochenlangen Protesten gegen ihn trat Morales am 10. November 2019 als Präsident zurück und ging ins Exil nach Mexiko und etwas später nach Argentinien.
Dank der Hilfe gemässigter Politiker, der Kirche und von Delegationen aus verschiedenen Ländern der Alten Welt sowie der Vereinten Nationen gelang es, den Übergang zu Neuwahlen einigermassen geordnet auf den Weg zu bringen. Bolivien, das lange Zeit als «Land der 180 Revolutionen» – und somit notorischer Instabilität – gegolten hat, scheint die Gefahren einer sich selbst verlängernden Herrschaft erkannt und aus den Erfahrungen der letzten Jahrzehnte demokratischer Praxis gelernt zu haben.
So viel Einsicht kann man den bedingungslosen Anhängern der Linksregierung Morales und ihrer Diaspora in nördlichen Ländern nicht attestieren. Wie in Venezuela, wo die ideologisch verwandte Maduro-Regierung um jeden Preis als «sozialistische Revolution des 21. Jahrhunderts» in die Geschichte eingehen will, sieht man im Lager der bedingungslosen Morales-Anhänger nur die positiven Ergebnisse seiner Ära, doch vor den Fehlleistungen und Misserfolgen der sozialistischen Regierung verschliesst man Augen und Hirn.
Erzwungener Rücktritt war teilweise selbstverschuldet
Dieser Sektor der Linken ist überzeugt, die Regierung der sozialistischen bolivianischen Partei Movimiento al Socialismo (MAS) sei einem Staatsstreich zum Opfer gefallen, bei dem die USA massiv mitgeholfen hätten. Ob es tatsächlich ein Putsch nach klassischem Muster war, darüber kann man diskutieren. Mehr Indizien und Argumente sprechen dafür, dass der Umsturz in Bolivien nicht nur fremd-, sondern zumindest teilweise auch selbstverschuldet war.
Wer den erzwungenen Rücktritt von Evo Morales als Militärputsch bezeichnet, hat wohl vergessen, wie in früheren Jahren die Generäle Hugo Banzer, García Meza oder Natusch Busch (um nur die übelsten Fälle in den 1970er und 80er Jahren zu nennen) mit diktatorischer Gewalt die Macht in Bolivien an sich rissen. Doch im Oktober 2019 agierte das Oberkommando der Streitkräfte zurückhaltend, ja schon fast widerwillig. Hinzu kommt: Nicht nur der Chef des Generalstabs als ranghöchster Militär, sondern auch der Gewerkschaftsdachverband COB legten Präsident Morales den Rücktritt nahe, angesichts der explosiven innenpolitischen Lage.
Entscheidender hat zum Umsturz beigetragen, dass grössere Polizeiverbände in der Kaserne blieben. Sie weigerten sich, weiterhin für Ruhe und Ordnung in einem Land zu sorgen, dessen Regime in den Augen vieler Bürgerinnen und Bürger nach 14 Jahren ein grosses Stück an Legitimität eingebüsst hatte. Wären die Uniformierten mit harter Gewalt gegen die aufgebrachte Bevölkerung vorgegangen, hätten sie ohne Zweifel riskiert, dass die Unruhen in einem Blutbad endeten.
Doch welche Rolle spielte die Hegemonialmacht USA beim Sturz des indigenen Präsidenten? Mit Blick auf die Geschichte Lateinamerikas dürfte seit dem 19. Jahrhundert klar sein: Washington ist in seinem «Hinterhof» immer besonders präsent, sobald dort eine linksgerichtete politische Kraft ans Ruder kommt. Die Bedrohung von aussen kann aber in Schach gehalten werden – wie gerade das Beispiel Bolivien zeigt –, sofern die betreffende Regierung sich hütet, dem «Weltpolizisten» USA eine oder gar mehrere offene Flanken zu bieten. Zum Leidwesen aller Linken hüben und drüben hat Evo Morales dieses Kunststück nur bis Anfang 2016 fertiggebracht – immerhin gut zehn Jahre lang.
Der konservativen, teils rassistisch gesinnten Gegnerschaft hatte der Unterbruch bei der Stimmenzählung im Oktober 2019 als Argument gedient, um einen angeblich massiven Wahlbetrug herbeizureden. Dass man in Bolivien angesichts seiner langen diktatorischen Vergangenheit auch heute noch nicht perfekt ablaufende Urnengänge erwarten kann, dürfte einleuchten. Dass gewisse Mängel und Unregelmässigkeiten vorkommen können, muss man verstehen – erst recht, wenn auch in der vermeintlichen Modelldemokratie USA bei den Vorwahlen und sogar Präsidentenwahlen (zum Beispiel in Florida) solche Unfälle passieren.
Die wichtigsten Errungenschaften der Morales-Regierung
Wer sich um Objektivität in der Beurteilung der sozialistischen MAS-Regierung bemüht, wird ihre wichtigsten Errungenschaften nicht ignorieren:
- Die Ausarbeitung einer neuen Staatsverfassung, die in einem Land, wo sich gut zwei Drittel als Angehörige der Urbevölkerung betrachten, endlich die Anerkennung und Gleichberechtigung von über 30 indigenen Völkern besiegelt.
- Die Umorientierung der lokalen Steuerpolitik zulasten der transnationalen Firmen, die den gewaltigen Mineralreichtum dieses Landes ausbeuten.
- Von 2006 bis 2016 konnte Bolivien seine Devisenreserven bis auf 15 Milliarden Dollar aufstocken und zahllose Infrastrukturprojekte realisieren, praktisch ohne sich dabei verschulden zu müssen. Allerdings konnte der Indio-Präsident in diesen fetten Jahren von einer weltweiten Konjunktur profitieren, welche die Rohstoffpreise stark in die Höhe trieb.
- Auch in sozialpolitischer Hinsicht hat Morales wichtige neue Akzente gesetzt. Unter dem Einfluss der MAS-Regierung verstärkte sich die Präsenz der Frauen im Kongress, in vielen Berufen und im öffentlichen Leben allgemein. Damit knüpft Bolivien bei allem Machismo, der nach aussen hin immer noch das Leben prägt, an eine Tradition kämpferischer Frauen an, die schon im 19. Jahrhundert den spanischen Kolonialherren schwer zu schaffen machte. Davon zeugt neben der nationalen Geschichtsschreibung auch das Denkmal für die Heldinnen im Kampf um die Unabhängigkeit Boliviens in der Stadt Cochabamba.
Der kapitale Fehler: Machterhalt um jeden Preis
Dieser Aufzählung würden die Anhänger von Evo Morales gewiss zustimmen. Doch was das Bild seiner Regierungszeit trübt, verschweigen sie lieber.
Der kapitalste Fehler, aber nicht der erste, war im Jahr 2016 die Aberkennung des Ergebnisses der von Morales selbst einberufenen Abstimmung über ein weiteres, von der Verfassung nicht vorgesehenes Mandat ab 2020. Wer sich so bedenkenlos und plump über einen wichtigen Volksentscheid hinwegsetzt, darf sich nicht wundern, wenn allmählich Unruhe um sich greift.
Anfänglich mochten noch manche darüber hinwegsehen, aus der Überlegung heraus, dass die MAS ja wirtschaftlich bis dahin überwiegend gute Arbeit geleistet hatte. Gerade das sollte sich in der Folge aber als Fehleinschätzung erweisen.
Denn seit jener Volksabstimmung schienen viele politische Entscheidungen nur noch darauf hinauszulaufen, das dritte Mandat von Morales (2015-2020) um jeden Preis «erfolgreich» zu Ende zu bringen und damit auch die verfassungswidrige Verlängerung seiner Regierungszeit mit dem Argument des anhaltenden wirtschaftlichen Wachstums durchzusetzen.
Anders als in den Jahren zuvor liess Wirtschaftsminister Luis Arce ab 2017 das Defizit im staatlichen Haushalt anwachsen, bis es im vergangenen Jahr über 8 Prozent erreichte. Im gleichen Zug liess man zu, dass wegen der weltweit sinkenden Rohstoffpreise und des daraus resultierenden Fehlbetrags in der Handelsbilanz gut die Hälfte der Devisen-Reserven verzehrt wurde.
Aus Fehlern und Misserfolgen nichts gelernt
Solche Entwicklungen (und Fehlentwicklungen) lassen erkennen, dass die MAS und ihre Unterstützer im Ausland die Lektionen früherer Linksregierungen in Lateinamerika nicht begriffen haben.
Im Chile der Unidad Popular unter Salvador Allende, im Nicaragua der Sandinisten (die unter schwerem Beschuss der US-finanzierten Contras standen), unter dem völlig überforderten Hernán Siles in Bolivien, bei den Reformversuchen von Alan García in Peru und des Kirchner-Ehepaars in Argentinien, in der hoffnungslos verfahrenen Herrschaft von Hugo Chávez und Nachfolger Nicolás Maduro: Immer wurden mit unvorsichtiger Lohnpolitik, überstürzten Sozialwerken, chaotischer Wechselkurspolitik und mit Subventionen, die sich auf Dauer als viel zu kostspielig erwiesen, die Schleusen für eine früher oder später unkontrollierbare Inflation geöffnet – und damit den Umtrieben interner und externer subversiver Kräfte Tür und Tor geöffnet.
Zusätzlich befördert wurde die Destabilisierung in diesen Ländern durch das Fehlen einer klaren Gewaltentrennung und effizienter Kontrollmechanismen wie auch durch das Kernübel der Straflosigkeit fehlbarer Machtträger. So war es immer schon zu spät, um Korrekturen anzubringen, wenn die Milch überkochte. Auch für Evo Morales: Erst nach seinem Sturz konnte er sich zur resignierenden Bemerkung durchringen, dass es ein Fehler war, um jeden Preis ein weiteres Mandat erzwingen zu wollen.
Evo Morales hatte stets als cleverer Politiker gegolten. Mehrmals hatte er in den ersten Jahren mit gutem Gespür erkannt, wenn er einmal daneben gegriffen hatte (zum Beispiel beim sogenannten Gasolinazo-Erlass, als die Benzin- und Dieselpreise auf einen Schlag massiv erhöht wurden). Solche Fehler konnte er damals auch rechtzeitig ausbügeln.
Dass sich Morales im Laufe seiner Regierungszeit zu gewissen autoritären Haltungen verleiten liess, mochte manchen Beobachtern lange entgehen. Mit dem Kapitalfehler im Februar 2016, dem aberkannten Plebiszit, liess er allerdings durchblicken, dass es ihm an staatsmännischem Format fehlte. Mit einem Verzicht in jenem kritischen Moment hätte er vermutlich sein vorderhand letztes Mandat in Würde und mit dem nötigen Realismus beenden und als erfolgreicher Politiker abtreten können.
Diesseits und jenseits des Atlantiks reibt man sich im Lager der Konservativen und Neoliberalen die Hände, wenn Lateinamerikas Linke immer wieder scheitert. Könnte sich diese dazu aufraffen, die schmerzlichen Erfahrungen aufzuarbeiten und daraus zu lernen, liesse sich solchen Misserfolgen sogar Positives abgewinnen.
Ein Trost bleibt immerhin: Auch konservative Kräfte sind in Sachen Selbstkritik nicht besser. Mauricio Macri in Argentinien, Sebastián Piñera in Chile, Gonzalo Sánchez de Lozada in Bolivien – sie alle Grossunternehmer, Milliardäre und kläglich gescheiterte Staatspräsidenten, haben nicht weniger Unheil angerichtet als die Linke in ihren Ländern.
Neuwahlen im Mai
Boliviens Bürgerinnen und Bürger bereiten sich auf Neuwahlen vor, die am 3. Mai 2020 stattfinden sollen. Aller Wahrscheinlichkeit nach wird sich die MAS von der gegenwärtigen Zweidrittelmehrheit in beiden Kammern des Parlaments verabschieden müssen. Als ihr Kandidat auf die Präsidentschaft der Republik wird der langjährige Wirtschaftsminister Luis Arce in den Ring steigen. Morales selber will sich in den Senat wählen lassen.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine. Der Autor war 33 Jahre lang Korrespondent in Südamerika, unter anderem für den «Tages-Anzeiger».
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine. Der Autor war von 1969 bis 2002 Lateinamerika-Korrespondent verschiedener deutschsprachiger Medien, vor allem für den «Tages-Anzeiger» und die «Frankfurter Rundschau».
Traurig, aber leider wahr. Danke für die sehr gute Analyse.
Sehen wir nicht die gleichen Fehler auch bei den europäischen Sozialdemokraten? Wo sind sie geblieben in Grossbritannien, Deutschland, Frankreich und Italien? Mit Macht zum Wohle des Volkes können sie nicht umgehen; aus Prinzip sind sie gegen Geld, verstehen damit aber auch nicht dessen Prinzip und daher auch nicht die Gründe für seine Perversion. Und wer nicht die Basis der Volkswirtschaft versteht, kann auch nichts ändern und scheitert beim Regieren. Die Antwort kann nur bei den Wählern und Wählerinnen liegen, wenn sie endlich einsehen, dass das Links/Rechts-Schema in Zeiten globaler Probleme ausgedient hat. Wir können sie nur gemeinsam lösen.
Ein hervorragender Artikel. Als Bolivianer musste ich in letzter Zeit viele einseitige Artikel lesen – einseitig auf die eine oder andere Seite. Einen Kommentar möchte ich allerdings anfügen:
Bezüglich: ‹Angeblich massiven Wahlbetrug›. Für mich war es ein massiver Wahlbetrug aus folgenden Gründen. Nach 85% der ausgezählten Stimmen betrug der Unterschied zu Carlos Mesa etwa 7,5%. Nach 95% der ausgezählten Stimmen waren es plötzlich mehr als 10% (die nötig waren, um die Wahl im ersten Wahlgang zu gewinnen). Das wurde begründet, dass die ländlichen Wahlbezirke eben als letzte ausgezählt worden seien. Was aber nicht erklärbar ist ist folgendes: Evo hat seinen Prozentsatz deutlich erhöht, Carlos Mesa hat deutlich verloren, aber der anderen rechten Kandidaten Ortiz und Chi haben ihren Anteil genau behalten. Wie soll es möglich sein, dass die beiden andern Kandidaten, die rechts con Carlos Mesa standen, auf dem Land keine Stimmen eingebüsst haben sollten? Das ist nicht glaubhaft. Und das zweite Argument für den Wahlbetrug: Beim Referendum 2016 wurde auch gemeint, dass die ländliche Wahlbezirke, die am Schluss ausgezählt wurden, eher für ‹ja› stimmen würden, aber es auch damals nicht so.
Pedro Brunhart La Paz, Bolivia