KESB-Story im Tagi erinnert an Tom Kummer und Claas Relotius
Die vom Tages-Anzeiger und weiteren Zeitungen des Tamedia-Konzerns heftig kritisierte Mutter, welche die Kinder derart manipuliert haben soll, dass sie ihren eigenen Vater nicht mehr sehen wollten, meldete sich dann doch noch zu Wort: In der Schaffhauser AZ warf sie den Tamedia-Zeitungen vor, etliche Tatsachen ziemlich verdreht und Wesentliches einfach weggelassen zu haben. Autorin Claudia Blumer, immerhin stellvertretende Inland-Chefin des Tages-Anzeigers, verteidigte sich in der Schaffhauser AZ mit der entlarvenden Aussage:
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«Die Geschichte ist sinngemäss möglichst nahe an der Wirklichkeit erzählt, aber ohne Anspruch auf Detailtreue oder gar Richtigkeit der Angaben.»
Blumer anonymisierte die Namen, so dass die Leser nicht erkennen konnten, wo sich der beschriebene Fall abgespielt hatte und welcher KESB-Behörde der Vater Amtsmissbrauch vorwirft. Die Anonymisierung kann die Autorin dazu verleitet haben, die Tatsachen so zurechtzubiegen, damit eine süffige Story entsteht.
Und das in den Tamedia-Zeitungen? Gut, auch Tom Kummer war regelmässiger Magazin-Autor. Es gibt also an der Werdstrasse durchaus eine Geschichten-Tradition. Storys, das sind Texte, die nach den Prinzipien der Narration funktionieren: Es braucht eine Grenzüberschreitung, etwas Unvorhergesehenes. Sonst ist ein Text vieles, aber eben keine Geschichte.
War aber eben schon eine coole Sau, dieser Tom Kummer. Hatte Storys, die sonst keiner hatte. Sprach mit Leuten, die sonst wortkarg und übervorsichtig waren. Bei ihm trugen sie das Herz auf der Zunge, Sharon Stone, Kim Basinger, Brad Pitt.
Und ja, auch der Claas Relotius ist ein cooler Typ. Diese Geschichten, die man vor dem geistigen Auge schon als Hollywood-Verfilmung ablaufen sieht. Wen Relotius’ Texte nicht berühren, der hat kein Herz.
Welche Haltung hat ein Claas Relotius, welche ein Tom Kummer, wenn sie Texte für Zeitungen und Magazine teils ganz, teils passagenweise frei erfinden? Das geht gar nicht, darüber ist man sich eigentlich einig. Doch wie immer ist nichts schwarz-weiss, sondern langweilig vieles grau. Im Journalismus sowieso.
Blumers KESB-Geschichte schlug Wellen. Wohl deshalb, weil wir alle solche Storys kennen: hässliche Scheidung, der Vater darf die Kinder nicht mehr sehen, aber zahlen und die Kinder beschenken darf er. Die Mutter manipuliert nach Herzenslust.
Blumer verzichtete in ihrer Story darauf, die andere Seite, in diesem Fall die Mutter, zu Wort kommen zu lassen. Die Mutter habe auf eine E-Mail-Anfrage der Journalistin nicht reagiert. Nicht gut. Ist uns allen schon passiert. Eigentlich wissen wir, dass wir beide Seiten zu Wort kommen lassen sollten. Stephen Sackur, Host von BBCs Interview-Format “Hard Talk” und seit gut 30 Jahren im Business, brachte es im Rahmen einer Gesprächsrunde auf den Punkt: «Journalisten sollten objektive, unparteiische Vermittler von Fakten sein. Sie dürfen nicht Partei ergreifen, denn sie sind in einer Position, in der sie die Fakten so zurechtbiegen können, dass sie sich ihrer Seite anpassen.»
Doch was, wenn man nur die Stimme einer Seite gehört hat und die plausibel klingt? Der Platz ist eingeplant, die Story angeteasert. Manchmal, seien wir ehrlich, sind wir doch ganz froh, wenn keine Gegenstimme laut wird. Denn allzu oft ist sie relativierend, abschwächend. Sie macht uns die ganze Story kaputt. Die Story, die so viel cooler wäre, wenn sie dem klassischen David-gegen-Goliath-Muster folgen würde, wenn sie schwarz-weiss wäre statt grau. Der arme Einzelne, vom bösen System kaputtgemacht, chancenlos. Wer identifiziert schon nicht gerne mit so etwas?
Das Problem dabei ist bloss: Das David-gegen-Goliath-Muster, neudeutsch ein Frame, ein moralischer Rahmen, ist ein klassisches Element des Erzählens. Und nicht des Berichtens.
Dass zwei sich streiten und die Kinder darunter leiden, ist zwar gruseliger Alltag, aber beim besten Willen keine Story. Und dass es zum Streiten zwei braucht, ist eine Binsenwahrheit. Dass Journalismus – ich höre gerade den dicken Blonden rufen: fake news! fake news! – an seiner eigenen Glaubwürdigkeit sägt, dem letzten fetten Ast, auf dem er noch knapp sitzen kann, ist fahrlässig.
Auflagen, Werbung und Ehre sind schon lange weggebrochen. Das einzige Kapital einer Journalistin ist ihr Name. Tom Kummer hat seinen mit weiteren Fake Stories im Magazin «Reportagen» hoffentlich endgültig verspielt, auch wenn ihn Berufskollege Miklòs Gimes im Film «Bad Boy Kummer» zu einer Art tragischem Helden hochstilisiert hat, der seiner eigenen Arbeit cool einen neuen Namen gibt: Borderline-Journalismus. Faction, das Kind von Facts und Fiction.
Claas Relotius hat sich als «Spiegel»-Reporter kurzzeitig einen Namen gemacht. Nun ist er samt seinen Journalistenpreisen von der Bildfläche verschwunden. Aber es werden neue kommen, so wie es vor Kummer und Relotius schon Geschichtenerzähler unter dem Deckmantel von Faktenvermittlern gab.
Der Grat ist schmal. Erfinden ist ganz klar Fake – es sei denn, man schreibe einen Roman. Nicht alles erzählen, was man weiss? Nicht alle Beteiligten fragen? Das sind die manipulativen Mittel der Presse. Und wenn sie nicht verboten sind, so sind sie deswegen noch lange nicht anständig.
Auch dann nicht, wenn man auf der vermeintlich richtigen Seite steht. In der Causa Blumer hat sich nämlich inzwischen TA-Chefredaktor Arthur Rutishauser zu Wort gemeldet. Auf «persoenlich.com» nimmt er die Berichterstattung in Schutz und sagt, die Schaffhauer AZ habe sich auch nicht an die Regeln gehalten, die sie selber postulierte: In der Stellungnahme von Claudia Blumer sei nämlich ein Nebensatz gestanden, der im Schaffhauser Blatt dann nicht abgedruckt wurde: «aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes». Wieder so eine Relativierung, so ein Grauton, den kein Journalist in seiner Story möchte.
Allerdings beschwerte sich die Mutter beim Tamedia-Ombudsmann, Claudia Blumer habe insgesamt 14 tatsachenwidrige Behauptungen verbreitet. Alle «aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes»? Der Ombudsmann wird dazu Stellung nehmen.
Wie wir aus diesem Schlamassel herauskommen? Gar nicht. Oder etwa so wahrscheinlich, wie es bald einmal eine Tour de France ohne Doping geben wird. Weil es einfach langweilig ist, den gleichen bunten Männlein zuzusehen, wie sie herumfahren, nur einfach langsamer als vorher. Und weil es immer weniger Journalisten gibt, die Lust darauf und Zeit dafür haben, eine angefangene Geschichte fallen zu lassen, weil ihr die Fakten in die Quere kommen.
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Siehe dazu auch:
Rudolf Walther: Ein Erzähler muss gehen, die Storyteller bleiben. Wie der «Spiegel» den Fall Relotius aufarbeitet, ohne daraus Lehren zu ziehen.
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Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
Hat wohl vor allem damit zu tun, dass auch Print-Medien ‹News› verkaufen und nicht mehr informieren. Um den Fremdkapitalbesitzer zu befriedigen, muss was rausschauen, da kann man nicht mehr so genau hinschauen, weil man sonst nicht mehr so viel verdient. Also müssen es Sensationen wein, damit der potentielle Käufer (wieder) hinschaut.
Diese – vermutlich aufgebauschte, vielleicht auch größtenteils erfundene «alltägliche Geschichte» über zwischenmenschliche Probleme aus dem Privat-Leben Einzelner wiederholt sich inzwischen tausendfach bei der Berichterstattung über politische Ereignisse. Dafür existiert inzwischen die zum festen Begriff gewordene Bezeichnung «Fake News» oder auf Deutsch «Lügenpresse"!
Nachdem sich auch einstmals der «objektiven Wahrheit» verpflichtete und entsprechend berichtende und kommentierende Journalisten, den Politikern nach-eifernd, vielfach auch den Wünschen ihrer Arbeitgeber/Herausgeber fügen müssen, um ihren Job zu behalten, sind dem Willen Anderer angepasste Berichte und Meldungen für allzu viele journalistisch Tätige zur wirtschaftlichen Überlebensstrategie entartet. Dass inzwischen auch mit gesetzlichen Mitteln hoch subventionierte öffentlich-rechtliche Rundfunk- und Fernsehanstalten zu den Fake News Produzenten zählen, setzt dem Skandal sozusagen «die Krone auf"! Frau Blumer und Claas Relotius sind dagegen höchstens «lässliche Sünder"!
Dieser Text hinterlässt bei mir einen schalen Nachgeschmack.
Titel und Lead im Newsletter machten mich neugierig; ich erwartete eine klare und nachvollziebare Darlegung der Fehlbarkeiten im erwähnten TA-Bericht (den ich nicht gelesen habe) und war etwas irritiert und gespannt über die Verbindung zu den beiden genannten grossen «Fällen» (bereits im Titel!).
Dann wurde ich enttäuscht. Der Text wirkt auf mich wie ein Flickwerk, mit Kummer und Relotius und etwas salopper Sprache wird irgendwie Pepp reinzubringen versucht, persönlich gefärbte Äusserungen sind mit Fakten vermischt – eigentlich etwa die Machart, die ich im Text selbst auch (zu Recht!) kritisiert sehe …
Das Grundthema des journalistischen Dilemmas ist durchaus sehr spannend und immer wieder zu diskutieren: Arbeit abzuliefern, die tatsächlich rezipiert wird und also verkauft werden kann vs. die so weit wie möglich gehende Objektivität und Ausgewogenheit beim Erstellen der Beiträge.
Aber die Form hier finde ich verunglückt.