Kommentar

kontertext: Ein Erzähler muss gehen, die Storyteller bleiben

Rudolf Walther © zvg

Rudolf Walther /  Wie der «Spiegel» den Fall Relotius aufarbeitet, ohne daraus Lehren zu ziehen.

Mit einem Paukenschlag machte der «Spiegel» am 19.12.2018 publik, dass der seit 2017 festangestellte Starreporter Claas Relotius in seine rund 60 Texte eine damals noch nicht genau bestimmbare Zahl von Fälschungen, Erfindungen und Dramatisierungen eingeflochten hatte. Es war absehbar, dass sich für den «Spiegel», der sich auf die Devise, «sagen, was ist», verpflichtet fühlt, ein immenser Imageschaden einstellen musste. Und für die Jurys, die Relotius rund 40 mal auszeichneten, wird der Skandal zur untilgbaren Blamage.
Die Hamburger handelten schnell: Ein Dokumentar, der Chefredakteur und ein Ressortleiter mussten den Hut nehmen. Darüber hinaus setzte man eine dreiköpfige Aufklärungskommission ein, die Zugang zu allen Akten, Mails und Personen hatte. Der Kommission gehörten Brigitte Fehrle, ehemalige Chefredakteurin der «Berliner Zeitung», Clemens Höges und Stefan Weigel an – kommissarischer Blattmacher und Nachrichtenchef beim «Spiegel». Ende Mai veröffentlichte die Kommission ihren Bericht im Netz und im «Spiegel» – auf vollen 16 Seiten, ohne Fotos. Diese vorzügliche und umfassende Aufarbeitung des «Falles Relotius» ist beispielhaft und widerlegt den Verdacht, man wolle aus dem «Fall» herauskommen wie aus einem Bagatellunfall mit Karosserieschaden.
Die strikte Konzentration der Kommission auf die Aufklärung des «Falles», vergleichbar dem Vorgehen von Kriminalisten bei der Aufklärung von Straftaten, erweist sich jedoch bei der Lektüre des Berichts schnell als Achillesferse. So kommt die sonst verdienstvolle Aufklärungskommission zu dem vollkommen realitätsfernen Schluss: «Claas Relotius war ein Einzeltäter». Das mag im engen juristisch-kriminalistischen Sinne halbwegs zutreffen, was die Textmanipulation und die geschickt kalkulierende Vorgehensweise des Autors angeht. Aber tatsächlich war Relotius natürlich kein Einzeltäter, sondern Mitglied in einer grossen und einflussreichen journalistischen Sekte, die Lehrlinge, Lehrende und Absolventen von Journalistenschulen ebenso umfasst wie Redakteure, Ressortchefs und Chefredakteure von Zeitungen und Magazinen sowie die Journalistenpreise verleihenden Jurys landauf und landab.

Das Dogma des Storytelling

Die Chiffre «Relotius» im Singular steht für ein grosses Kollektiv, das insgesamt den «Storytelling-Journalismus» repräsentiert und fördert, wie er seit geraumer Zeit an Journalistenschulen gelehrt, in Zeitungen und Magazinen praktiziert und in Redaktionen geschätzt wird. Der Kern dieser Art von Journalismus stand in der Aufklärungskommission nicht zur Debatte, wurde allenfalls gestreift, aber nicht seriös untersucht und mitangeklagt. Wenn man den Vergleich mit einem kriminalistischen Ermittlungsverfahren wagen will, so hat die Kommission die Taten des Täters offengelegt, aber die Mitverantwortung seiner Gehilfen, Förderer und Lehrer – von drei Bauernopfern abgesehen – im Dunkeln gelassen.
«Storytelling» betrügt, lügt und erfindet nicht im landläufigen Sinne, sondern verpasst journalistischen Reportagen durch den Einbau sprachlich dramatisierender Momente und Szenen eine Form à la mode. So werden aus Reportagen süffige Texte – «Storys» eben –, wie man sie nicht nur beim «Spiegel» schätzt und mit denen man Journalistenpreise gewinnt (nicht zuletzt deshalb, weil Journalistenpreisjurys von den tonangebenden Lehren des Storytellings überzeugt sind).
Reporter, Ressortleiter und ganze Redaktionen sind befangen in den problematischen Praktiken und Standards des «Storytellings». Der für Relotius zuständige Ressortchef Dirk Kurbjuweit brachte das Problem in dieser Hinsicht auf den Punkt: «Da war ich enttäuscht» – über einen Text von Relotius –, «weil das Storyhafte fehlte, kein echter Relotius.» Der verstand das wahrscheinlich genau so, wie es gemeint war – als Aufforderung zum dekorativen Aufhübschen und Nachfrisieren des Textes. Der Autor Relotius selbst gierte nach solchen Aufforderungen. Bei der Ablieferung eines unfertigen Textes an den Redakteur bemerkte er: «Die Nacherzählung ist im Grund komplett kalt geschrieben. Vielleicht müssen noch mehr Gedanken rein?» Mit «Gedanken» sind die Ingredienzien des Storytelling-Journalismus gemeint: der scharfe metaphorische Pfeffer, die adjektivische Pomade, der kernig-würzige Vergleich, die gefühlig-dramatisierende Unmittelbarkeit des Präsens, grelle Tönung und Farbigkeit des Stils. Relotius beherrschte in seiner Text-Küche den Umgang mit diesen Zutaten virtuos, vor allem aber wusste er genau Bescheid über die Erwartungen in der Redaktion: «Ich weiss gar nicht, wann mich ein Text zuletzt so mitgenommen hat. Unerträglich starker Text», schrieb ein Redakteur an seinen Kollegen nach der Lektüre einer Reportage.
Der «Storytelling-Journalismus» entsteht nicht im Kopf einzelner Reporter, sondern wird kollektiv geplant von Chefredakteuren, Ressortleitern und Redakteuren in Kooperation mit Reportern, Fotografen und Informanten vor Ort. Im Mail-Verkehr der Story-Planer hört sich die Vor- und Aufbereitung einer Flüchtlings-Story so an: «Wir suchen nach einer Frau mit Kind. Sie kommt idealerweise aus einem absolut verschissenen Land. (…) Sie setzt ihre Hoffnung auf ein neues, freies gutes Leben in USA. (…) Es muss eine sein, die mithilfe eines Kojoten (Fluchthelfers RW) über die Grenze will. (…) Die Figur für den zweiten Konflikt beschreibt Claas (Relotius RW). (…) Dieser Typ wird selbstverständlich Trump gewählt haben, ist schon heiss gelaufen, als Trump den Mauerbau an der Grenze angekündigt hat, und freut sich jetzt auf die Leute dieses Trecks wie Obelix sich auf die Ankunft einer neuen Legion von Römern freut. (…) Wenn ihr die richtigen Leute findet, wird das die Geschichte des Jahres.» Und wenn man nicht ganz die «richtigen» Leute findet, muss man sie halt erfinden, um daraus «die Geschichte des Jahres» zu basteln. Die Aufklärungskommission zitiert diese Passage, zieht aber daraus wie aus vielen anderen Indizien keine adäquaten Folgerungen.
Gedeckt sind «Storytelling»-Praktiken durch das Urteil des umtriebigen Journalistikprofessors Michael Haller über die «Montagetechnik», bei der der Reporter «mehrere Gesprächspartner zu einer Person zusammenführen darf». Zwischen «alternativen Fakten», gemeinen «Lügen» und Hallers Gerede vom «Zusammenführen von Fakten» zu einem «etwas anderen Realitätsverständnis» bestehen bestenfalls noch kleine graduelle Unterschiede, aber keine substantielle Differenz . Das gilt auch für das Dogma der Anfänge von Storys, wonach der Leser oder die Leserin mit dem ersten Satz einer Reportage in die Geschichte «hineingenommen und -gezogen» werden soll. Mit diesen Phrasen wird oft nur kaschiert, dass die Anfänge auf der Fiktion beruhen, der Reporter habe sich nicht nur in die Protagonisten der Geschichte «hineinversetzt und -gefühlt», sondern diesen buchstäblich unter die Hirnhaut geschaut.

Starkult im Journalismus

Der «Fall Relotius» hat noch etwas aufgedeckt – das Gefälle zwischen festangestellten Reporterstars und sogenannten freien Mitarbeitern. Die Stars geniessen in den Redaktionen nicht nur allerlei Vorteile, sondern auch mehr Vertrauen und Beinfreiheit. Ohne den Verdacht des freien Mitarbeiters Juan Moreno, der den Fälschungen von Relotius mit eigenen Recherchen und auf eigene Kosten auf die Schliche kam, wäre der Skandal sicher nicht aufgedeckt worden. Als Moreno seine Bedenken gegen die Reportagen in der Redaktion vortrug, wurde er jedoch wie ein Denunziant, Verräter, eifersüchtiger Konkurrent des Stars behandelt. Nur mit Hartnäckigkeit konnte Moreno seinen jederzeit fristlos kündbaren Job retten und seine Reputation als faktentreuer Reporter gegen Widerstände aus der Redaktion («Ich habe erst mal keinen Grund, an der Integrität von Claas zu zweifeln») wiederherzustellen. Solche Zustände haben mit dem Genre des «Storytelling-Journalismus» zwar zunächst nichts zu tun, gehören aber zu den materiellen und finanziellen Bedingungen, unter denen diese Art Journalismus gedeiht und weniger begünstigte «Freie» kleinhält mit der existenzbedrohenden Drohung, «Maul halten oder gehen.»
Die Aufklärungskommission des «Spiegel» macht sehr kluge und umfangreiche Vorschläge zur «Verbesserung der Fehlerkultur», zur Kontrolle der Texte und zum Umgang der Redaktion mit Leserbriefen. Kein einziger der Vorschläge tangiert allerdings die Achillesferse des Blattes direkt – den «Storytelling-Journalismus». Aber mit Pflästerchen aus der Hausapotheke ist die blutende Wunde «Storytelling» nicht zu stillen. Das Skalpell und die Nähtechnik eines guten Chirurgen sind gefragt und dann eine sachkundige Rehabilitationsklinik – medizinisch gesprochen.
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Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Rudolf Walther: Historiker, freier Journalist für deutsche und Schweizer Zeitungen und Zeitschriften, wohnhaft in Bad Soden a.T. in der Nähe von Frankfurt.

    Unter «kontertext» schreibt eine externe Gruppe Autorinnen und Autoren über Medien und Politik. Sie greift Beiträge aus Medien auf und widerspricht aus politischen, journalistischen, inhaltlichen oder sprachlichen Gründen. Zur Gruppe gehören u.a. Bernhard Bonjour, Rudolf Bussmann (Redaktion, Koordination), Silvia Henke, Mathias Knauer, Guy Krneta, Alfred Schlienger, Felix Schneider, Linda Stibler, Ariane Tanner, Rudolf Walther, Matthias Zehnder.

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Eine Meinung zu

  • am 2.07.2019 um 16:45 Uhr
    Permalink

    Beim sogenannten «Story-Telling» ist der Spiegel aber kein Einzelfall in den kapitalistischen Gesellschaften, auch wenn die noch viel übleren «Story-Teller» das so erzählen wollen.
    Ob es ohne das Medien-Imperium von Rupert Murdoch bei Massen-Zeitungen u. privatem TV zum Brexit u. Trump zum Präsidenten gekommen wäre, ist bei den knappen Ergebnissen fraglich. Das ganze Murdoch-Imperium erzählt das Märchen von den allguten fossilen Energien und den bösen links/grünen Feinden.

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