Kommentar
Von der Pest zum Coronavirus
Red. Marc Chesney ist Professor der Finanzwissenschaften an der Universität Zürich. Er ist Autor des Buches «Die permanente Krise – Der Aufstieg der Finanzoligarchie und das Versagen der Demokratie».
Der Roman von Albert Camus «Die Pest» wird oft als Metapher für die Braune Pest der Nazis interpretiert, deren Ausbreitung Tod und Unglück hinterliess. Das Buch ist auch insofern prophetisch, als es das Auftreten und die Ausbreitung einer Epidemie vorwegnimmt und beschreibt.
Im Roman wurde die Stadt Oran vom Rest der Welt abgeschnitten, um die Ausbreitung der Pest einzudämmen. Heute, im Zeitalter der Globalisierung, sind es Einzelpersonen, die isoliert waren, und Länder, die ihre Grenzen schlossen. Was bis vor kurzem noch unvorstellbar war, ist Wirklichkeit geworden. Die Wirtschaft ist fast zum Stillstand gekommen. Unser Lebensraum ist erheblich geschrumpft. Wir wurden dazu gebracht, die Toten zu zählen, in einer makabren täglichen Abrechnung.
Hauptrollen damals und heute
Die Schlüsselfiguren mit ihren Rollen, die sie im Roman spielen, tauchen heute wieder auf. Nach Jahrzehnten des Vergessens sind sie wieder hier, alle auf ihre Weise. Zuallererst die Hauptfigur Dr. Bernard Rieux als engagierter und mutiger medizinischer Mitarbeiter, an der Frontlinie des ständigen Kampfes.
Heute sind es ebenfalls Vertreter der Verwaltung, in diesem Fall der französischen, die nach Sicht navigieren und das Pflegepersonal an die Front schicken, ohne es, insbesondere in Bezug auf Masken und Beatmungsgeräte, entsprechend auszurüsten. Auch die Profiteure, diejenigen, die in «Die Pest» dank des Schwarzmarktes reich wurden, existieren heute, jedoch in anderen Formen. Neben Gaunern, welche Masken zu exorbitanten Preisen verkaufen, wetten Hedgefonds vollkommen legal auf die Insolvenz von Unternehmen oder gar von Ländern und erwirtschaften so hohe Gewinne.
Die Gesundheit ist ein öffentliches Gut
Ein Protagonist sagt im Roman: «Wenn die Pest euch beobachtet, ist es Zeit zum Nachdenken.» Im Folgenden einige der Lehren, die aus der Covid-19-Pandemie zu ziehen sind.
Erstens geht die beschleunigte Ausbreitung von Pandemien Hand in Hand mit der Globalisierung der Wirtschaft und mit Freihandelsabkommen. Wir müssen dieses Wirtschaftsmodell, das als selbstverständlich dargestellt, jedoch in Wirklichkeit uns aufgezwungen wird, kritisch analysieren. Die «glückliche» Globalisierung, die in den 1990er Jahren durchgesetzt wurde, sollte der grösstmöglichen Zahl von Menschen Stabilität und Wohlstand bringen. Doch die gegenwärtige Krise verdeutlicht, wie zerbrechlich die Globalisierung ist und wie hohl ihre Versprechen sind.
Zweitens: Gesundheit ist ein öffentliches Gut. Ein Krankenhaus ist kein Profitcenter. Es handelt sich weder um ein Hotel noch um einen Betrieb, der auf einer Just-in-Time-Basis betrieben werden sollte. Globalbudgets setzen einen finanziellen Rahmen, innerhalb dem das Ziel nicht sein darf, maximale Gewinne zu erwirtschaften.
Die Finanzlogik untergräbt die Demokratie
Drittens: Die vorherrschende Finanzlogik schadet der Wirtschaft und untergräbt die Demokratie. Was die Wirtschaft braucht, sind nicht Schulden, Glücksspiele und Zynismus, sondern Ersparnisse, Investitionen und Vertrauen. Wie können wir in einer Zeit, in der die Ärzteschaft und das Pflegepersonal sich der Herausforderung mit beispielhaftem Mut stellt, tolerieren, dass Hedgefonds die gegenwärtige Notlage nutzen, um unanständige Gewinne zu erzielen und die Krise zu verschärfen? Neben einem Verbot solcher Wetten würde die Einführung einer Mikrosteuer auf allen elektronischen Transaktionen es ermöglichen, alle finanziell wegen Corona Geschädigten zu finanzieren, insbesondere auch die Selbständigen und KMUs, ohne zusätzliche öffentliche Schulden aufzutürmen.
Pandemie und Verluste der biologischen Vielfalt hängen zusammen
Viertens: Wenn die Natur nicht respektiert wird, sendet sie Signale aus, die gelesen und interpretiert werden müssen. Die globale Erwärmung ist eine davon. Sie steht im Zusammenhang mit den CO2-Emissionen einer dysfunktionalen Wirtschaft. Häufiger auftretende Pandemien warnen davor, wie gefährlich der Verlust der biologischen Vielfalt und das Abholzen der Urwälder sein können. Es wäre vernünftig, diese Frage ernst zu nehmen, indem man mit den Wissenschaftlern, die darüber nachdenken und forschen, zusammenarbeitet.
Und schliesslich basiert die Lösung dieser Krise nicht auf einem verschärften Wettbewerb zwischen einzelnen Personen in einem Krieg alle gegen alle, wie es in der Ökonomie oft hervorgehoben wird. Nein, gefragt sind Empathie und Solidarität in der Familie und der Nachbarschaft, Solidarität mit den Schwächsten sowie mit dem medizinischen Personal, das sich aufopfert.
Fazit: Das Ende der Pandemie kann entweder zu Fortschritten oder zu Rückschritten führen. Grossbanken verschaffen sich Gehör, damit die bescheidenen Regulierungen, die nach der Krise von 2008 mühsam eingeführt wurden, wieder rückgängig gemacht werden. Besonders umweltbelastende Unternehmen lobbyieren ihrerseits, damit die im Laufe der Jahre eingeführten Standards geschwächt werden. In beiden Fällen dient ihnen als Vorwand, dass sich die Wirtschaft durch die Beseitigung von Regulierungen schneller erholen würde. Es liegt an den Bürgerinnen und Bürgern, aktiv und wachsam zu sein, um einen solchen «Krisenausgang» zu vermeiden. Er würde unweigerlich zu weiteren Katastrophen führen. Um noch einmal Albert Camus zu zitieren: «Der Pestbazillus stirbt oder verschwindet nie».
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Dieser Beitrag erschien zuerst auf französisch in «Le Temps» vom 20. April 2020.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
Es ist immer wieder erstaunlich, wie die Weltentwicklung von Erkenntnissen aus der Froschperspektive (Betriebs- Finanzwirtschaft) getrieben wird und die globalen Zusammenhänge im Markt ignoriert werden.
In den 70er Jahren erlebte ich den Kontrast zw. einer stinkenden Fabrik und dem WHO-Headquarter in Delhi über der Strasse als Indikator einer fehlgeleiteten Entwicklungspoitik. «Where it stinks, there is progress» schin das damalige Leitmotiv, nicht zuletzt der grossen internationalen «Entwicklungsagenturen». Der Währungsfond und die Weltbank haben ihre optik nur unwesentlich verändert. Die unter Clinten eingeleitete Finanzliberalisierung in den USA und die darauf folgende Internationalisierung der «Finanzpest» haben mit einer exzessiven Globbalisierung und einer von Betriebswirtschaftern forcierten «Just in time» Politik, dazu beigetragen, die labile Wirtschaftsstruktur zu schaffen.
Herr Chesney hat das Verdienst solche Exzesse aufzuzeigen, aber auch mögliche Lösungsansätze zu skizzieren.
Der Markt könnte – gemäss Theorie – zwar diese erlebten Fehlentwicklungen auch korrigieren. Aber in welchem Zeithorizont und zu welchen Kosten ? Es wäre an der Zeit sich in unseren Universitäten wieder auf Grundwerte zu konzentrieren und die ephemären «Greed und Grab» Vorgaben der letzten Jahrzente zu relativieren.
Milton Friedmann hatte kaum je Recht, warum sollte man seine Vorgaben befolgen. Ich bevorzuge Maurice Allais. Dank auch an Herrn Chesney und Infosperber.
Sagt der Finanzwissenschaftler Marc Chesney von der UNI Zürich. Alles logisch und doch selbstverständlich. Aber im gleichen Infosperber hofft Daniel Ellsberg, dass der Wahnsinn der atomaren Rüstung gestoppt werden kann, bevor es kracht. Beide Risiken, Atomrüstung und das Virus müssen von der gleichen Menschheit unter Kontrolle gebracht werden.
Das Virus hat einen kleinen Vorsprung von 150 Millionen Jahren vor der Menschheit. Bleibt der Mensch arrogant und dumm genug, dann löst das Virus das Problem einfacher und günstiger als der Mensch mit dem Atomkrieg. Vernünftige Menschen, erhebt euch, ihr seid die Mehrheit!